6. März 2004

Kritiker bellen, der Kapitalismus zieht weiter

 

Wo steckt er eigentlich, der Geist des Kapitalismus? Am ehesten wohl im Management, glauben der Soziologe Luc Boltanski und die Wirtschaftswissenschaftlerin Éve Chiapello. Für ihre groß angelegte Studie "Der neue Geist des Kapitalismus" haben sie 50 französische Management-Ratgeber aus den 60er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mithilfe eines Textanalyseprogramms miteinander verglichen.

 

Das ist, was die reinen Ergebnisse angeht, verblüffend erhellend. Nur allzu sehr nachdenken über diese Ergebnisse sollte man nicht. Denn im Grund hebt sich die Studie selbst auf. Denn eigentlich, das wird früh klar, ist für die beiden Forscher der Kapitalismus der Feind. Dennoch nimmt dieser Feind die Kritik in sich auf - sodass man gar nicht gegen ihn sein kann. Schlimmer noch: Eigentlich gibt es ihn auch gar nicht, zumindest nie als reine Wirtschaftsform. So bleibt den Kritikern nur, zu kritisieren, dass die bisherige Kritik noch nicht vollständig umgesetzt ist oder verschiedene Kritiken sich gegenseitig lähmen.

 

Boltanski und Chiapello orientieren sich an Max Webers Erkenntnis, dass die vorherrschende Wirtschaftsform einer spezifischen religiös-kulturellen Geisteshaltung entsprungen ist. Also bedarf der Kapitalismus auch heute einer bestimmten Ideologie. Er ist auf seine Kritiker angewiesen, die ihn im Hinblick auf Gerechtigkeitsprinzipien und persönliche Entfaltung korrigieren und rechtfertigen.

 

Die Emanzipation beginnt

 

Folgerichtig geht es in den Texten aus den 60er Jahren vor allem um das Aufbrechen der Willkürherrschaft in Familienbetrieben. Als Lösung wird die Emanzipation der Führungskräfte beschworen. Durch zielgesteuerte Unternehmensführung und objektive Leistungsbewertung sowie durch eine Verschlankung der Bürokratie soll das Personal mobilisiert und motiviert werden.

 

Zwei Empörungsquellen arbeiten Boltanski und Chiapello heraus. Zum einen die Kritik an entfremdeter Arbeit (Künstlerkritik), zum anderen an Verarmung (Sozialkritik). Ein Wirtschaftssystem, das auf Dauer bestehen will, muss beide Erwartungen (Autonomie und Sicherheit) erfüllen.

 

Nach Ansicht der Autoren wurde der Begriff des Rationalen in den 90er Jahren durch die Metaphern Emotion und Kreativität abgelöst. Das New Management reagiert allein auf die Bedürfnisse nach Authentizität und Freiheit und vernachlässigt die Sozialkritik und damit Fragen nach Sicherheit und Ungleichheit.

 

Willkommen in der Autonomie

 

Dies liegt vor allem an dem unbestreitbaren Erfolg, den die Kritik der 60er Jahre verzeichnen kann. Der post-tayloristische Netzwerkkapitalismus hat die Trennung von Privatem und Politischem nahezu aufgehoben und damit die Forderungen der 68er-Avantgarde nach Autonomie am Arbeitsplatz fast vollständig umgesetzt. "Da die Notwendigkeit einer Gerechtigkeitsform, die dieser neuartigen Logik angemessen wäre, nicht hinreichend erkannt worden ist, hat sich die Kritik in eine überkommene und sterile Debatte zwischen Liberalismus und Etatismus (,dann willst du also die Sowjetunion?’) verrannt."

 

Vor allem der Sozialkritik versuchen die Autoren in ihrem Mammutwerk neue Kraft zu verleihen. Die Analyse vom neuen Geist des Kapitalismus, wie sie von Boltanski und Chiapello vorgenommen wird, zeigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung keineswegs allein von Globalisierungs- oder ökonomischen Sachzwängen bestimmt wird. Nur wenn die Kapitalismuskritik sich nicht an vergangenen Idealen und überholten Gesellschaftsstrukturen orientiert, sondern sich auf den neuen Geist besinnt, kann sie dem Autorenduo zufolge erfolgreich sein. Nach 735 Seiten Lektüre bleibt einem nichts anderes, als daran zu glauben.

 

Gustav Mechlenburg

 

Der neue Geist des Kapitalismus, Luc Boltanski, Éve Chiapello UVK 2003, 735 S., 49 Euro, ISBN 3896699911.

 

 

© 2004 Financial Times Deutschland 2.3.2004