26. April 2023

Pressegrafik




L.L. Roush, Einige von denen, die auf dem Meer in Schiffen einfahren, 1897, From: Leslie’s Weekly, New York, 19 August 1897
Gustave-Henri Jossot, Die Ordnungshüter, 1904, From: L’Assiette au Beurre, Paris, 13 February 1904

 

Christoph Bannat im Gespräch mit Alexander Roob

 

Die Epoche der Pressegrafik dauerte knapp 100 Jahre, von Anfang des 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Dann begannen fototechnische Druckbilder die mediale Öffentlichkeit zu beherrschen. Alexander Roob, selbst Künstler, sammelt leidenschaftlich dokumentarische Grafiken. Mit seiner Sammlung deckt er Querverbindungen zu bildenden Künstlern, Politik und Zeitgeschehen auf. Er veröffentlicht seine Findungen und Erkenntnisse auf der Melton-Prior-Institut-Website, in Ausstellungen und Katalogen. Er ist heute DER Entdecker, Forscher und fröhlich assoziierende Wissenschaftler auf diesem Feld.

Jetzt erscheint ein 600 Seiten starkes Kompendium in Druckform im Taschen-Verlag, dreisprachig. Es dürfte bereits jetzt ein Klassiker und eine unerschöpfliche Fundgrube für weitere Forschungen sein.

Und damit steht er in der Tradition Van Goghs, ja – dem Maler! Der war ein engagierter Sammler von Presseillustrationen seiner Zeit. Er besaß eine 18-bändige Kollektion, die er anderen Künstler als Leitfaden weiterempfahl (Alexander Roob widmet dieser ein eigenes Kapitel im Buch).

Wie aber entstand die Idee zu Alexander Roobs einzigartige Sammlung?


CB: Du bist ja selbst Zeichner. „Richter zeichnen“ hieß dein wohl bekanntestes Projekt. Das bewegte sich zwischen dokumentarischen Zeichnungen und filmischen Momenten. Das daraus entstandene Buch, in Reihe gebrachte Bilderfolgen des Aufbaus einer Gerhard-Richter-Ausstellung, ist eine Art Making-of oder zeitlich verkehrtes Storyboard. Wie bist du von der Bewegung zu den Standbildern der Sammlung gekommen?


AR: Die erste Bildersammlung, die ich vor vielen Jahren herausgebrachte, „Das Hermetische Museum“, hat jemand in einer Besprechung mal eine Bildermaschine genannt, ganz treffend, wie ich finde, denn da steckt ein gehöriges Moment von Dynamik drin, eine Denke in Abfolgen. Als Sammler reiht man Einzelbilder fast automatisch in fließende Zusammenhänge ein. Die Idee des Bildromans, mit der ich zeichnerisch lang gearbeitet habe, hat diese kinetische Art der Zusammenstellung sicherlich forciert. Sequenzialität ist allerdings kein durchgängiges Merkmal meiner Zeichenprojekte. Die ersten Abschnitte diese Bildromans waren eher emblematischer, zeichenhafter Art und hatten immer ein Zentrum im Sucher.


CB: Wie lebst du mit deiner Sammlung?


AR: Erst mal ist sie ein Reservoir, mit dem ich arbeite, in Texten, in Ausstellungen etc. Eigentlich ist es Material wie Zeichenstift, Farbe, Knete. Aber ich schau auch zu, dass ich sie mir genügend vom Leib halte, dass sie also oft auch in den Hintergrund rückt, damit ich nicht darin versinke.


CB: Du sammelst ja nicht nur, sondern recherchierst auch. Wie sieht das konkret aus?


AR: Recherchieren und Sammeln ist die gleiche Bewegung. Das eine ergibt sich aus dem anderen. Es ist wie Tunnel graben, die sich allmählich zu Tunnelsystemen verdichten, bis langsam die Gänge einstürzen. Dann verlässt man das Feld und gräbt woanders weiter. Dahinter steckt die verrückte Vorstellung von Transparenz, die Idee einer holografischen, multiperspektivischen Sicht. Mich interessiert Bildung als Utopie und Selbstzweck. Dass dabei Gänge einstürzen, gehört dazu.


CB: Was würdest du als deine Schwerpunkte beschreiben?


AR: Aufklärung und Gegenaufklärung, esoterisches Museum, exoterisches Museum. Offenbar treiben mich Opposites an. Die allererste, selbst verlegte Publikation hieß „Gold und Scheiße“.


CB: Versuchst du mit der Sammlung auch deiner Biografie gerecht zu werden? Als Künstler, Wissenschaftler und Lehrer/Kurator?


AR: Jede Wendung meiner Interessen ändert die Richtung der Sammlung. Insofern schon.


CB: Das Feld des Bildjournalismus scheint mir, als Wissenschaft, erst von dir eröffnet worden zu sein. Die Grenzen zwischen dokumentarischer Illustration, Karikatur und Comic-Reportage scheinen mir fließend. Wie ziehst du Grenzen?


AR: So weit würde ich nicht gehen. Zur Forschung über bildjournalistische Genres gibt es einen umfangreichen bibliografischen Anhang. Wer sich früh um eine Zusammenschau bemüht hat, war der englische Zeichner Paul Hogarth, der weitläufig mit dem gleichnamigen Satiriker und großen Paten der grafischen Reportage verwandt war.

Was die Grenzen zwischen Karikatur, Dokumentarismus etc. betrifft, die wollten der Übersicht halber für die Kapiteleinteilungen des Buchs gezogen werden, aber ich hoffe doch, dass aus den Kommentaren und Künstlerbiografien hinreichend hervorgeht, dass es diese Grenzen von Anfang an nicht gab. Also ich bin da ganz deiner Meinung. Die besten Pressegrafiker haben meist mehrere Facetten abgedeckt, beispielsweise Arthur Boyd Houghton mit seiner investigativ-grotesken Amerika-Reportage.


CB: Martin Warnke beschreibt in „Politische Landschaft“, wie Kriegsmaler Landschaften schön malen/zeichnen, als Quasireklame für Ost-Siedlungspolitik der Nazis. Gibt es Bildfälle, die du nicht anfasst?


AR: Die Problematik des ideologisch gelenkten Blicks betrifft wohl alle Bildmedien. Und Kontextualisieren ist sicher in den allermeisten Fällen besser als Zurückschrecken.

In einer Ausstellung des Melton Prior Instituts im Heidelberger Kunstverein haben wir beispielsweise in einer Sektion zu Frontzeichnungen des Ersten Weltkriegs auch eine Mappe mit Hitler-Aquarellen aus Flandern gezeigt, um dessen Faible für pittoreske Ruinenmotive aufzuzeigen. In der Gründungsausstellung des Instituts „Tauchfahrten. Zeichnung als Reportage“ haben wir uns allerdings entschieden, keine KZ-Zeichnungen zu zeigen, aber nicht, um dem Thema aus dem Weg zu gehen. Ein solches Sujet des ultimativen Schreckens hätte einfach den Ausstellungsrahmen gesprengt. Stattdessen haben wir Lagerzeichnungen in einem eigenen Katalogbeitrag behandelt.


CB: Man kann die Schwerpunkte: soziale Konflikte und Arbeitskämpfe, Technik und deren Folgen sowie Kolonialismus und Krieg feststellen. Wo siehst du in diesem Kontext die Vorteile der Zeichnung?


AR: Wenn wir vom langen 19. Jahrhundert und seinen Konflikten sprechen, von dem das Buch vor allem handelt, dann war die Zeichnung noch bis zum Ersten Weltkrieg konkurrenzlos das einzige Bildmedium, mit dem sich Aktion in der Presse dokumentieren ließ. Und Zeichnung konnte, wie das Beispiel von Thomas Nasts Kampagnen gegen die Auswüchse der amerikanischen Plutokratie zeigt, ein unglaublich mächtiges aufklärerischen Instrument sein. Das gilt noch mehr für die Kampagnen der frühen Illustrierten gegen die pauperistische Nachtseite der industriellen Revolution. Auf der anderen Seite steht die Pressegrafik aber auch für Prägungen durch rassistische Stereotypen und Klischees – alles Begriffe aus der Drucktechnik.


CB: Du beschreibst, und auch das sehe ich, ist einzigartig, wie unterschiedliche Drucktechniken Teil der zeichnerischen Inszenierung sind.


AR: Die Einsichten über die Auswirkungen neuer Drucktechniken verdankt sich vor allem William Ivins’ „Prints and Visual Communication“ und natürlich auch McLuhan, der von Ivins herkommt. Was ich in dem Buch als eine Art roter Faden verfolge, ist der untergründige Einfluss von William Blakes expressiver Hochätztechnik auf künstlerische Haltungen in der Pressegrafik bis hin zum malerischen Xylografismus von Van Gogh.


CB: Wo siehst du heute den Vorteil der Zeichnung?


AR: Ich kann heute keine generellen Vorteile mehr ausmachen. Die digitalen Möglichkeiten haben die medialen Unterschiede völlig eingeebnet.

Zeichnung kann sicherlich nach wie vor oder vielleicht mehr denn je als Schule der Wahrnehmung fungieren, auch im Sinn einer Selbstvergewisserung. Die Zeichnung, die mich interessiert, ist allerdings eher musikalisch als deskriptiv, ist Rhythmus, melodische Führung. Um diese Linien zu ziehen, braucht es noch nicht mal einen Stift oder Bluetooth.


CB: Kann man sich heute noch ein handwerkliches Bild der Welt (und nicht nur der Innenwelt) machen? Ist die Darstellbarkeit von Welt, jenseits von Fotografie und Bewegtbild, noch relevant? Läuft deine Wissenschaft vielleicht Gefahr, eine nostalgische zu sein?


AR: Gegenfrage: Sind Fotografie und Bewegtbild noch relevant? In der Arbeit am Vorstellungsbild sehe ich heut die eigentliche Relevanz. Imagination genügt. Aber starke Vorstellungsbilder wollen erst mal entwickelt werden. Darvon handelt auch das jüngste Projekt „The Ancient Britons“. Die Formung eines kollektiven Vorstellungsbilds, unter anderem mithilfe von Hypnose.


CB: Vielen Dank.

 

 

 

 

 

TASCHEN

History of Press Graphics. 1819–1921

Alexander Roob

Hardcover, 24,6 x 37,2 cm, 4,89 kg, 604 Seiten

Euro 60

taschen.com

 

 

http://meltonpriorinstitut.org/

 

https://textem-verlag.de/textem/theorie/509