Entwicklungsländerkunde Germanistik und eine Hannoversche Schule in Westafrika
(Kapstädter Impulse)
Die Interkulturelle Germanistik kommt aufgeklärt und mit gutem, gutes Deutsch vermittelndem Programm daher für alle, die es erwerben möchten. Aufgeklärt über sich selbst im Sinn von reflektiert, nachgedacht-habend und durch diesen Prozess gereinigt von den vorgängergenerationalen Deutschunterrichtenden, die ab 1884 afrikanisches Denken kolonisiert und afrikanisches Sprechen degradiert hatten, und vor allem denen, die nach 1933 schon wieder nicht genug bekamen vom rassistischen Herrenmenschen- und -sprachentum. Die Lektion in kritischem Theoretisieren ihrer selbst war schön und gut, trotzdem blieben Fragen. Ein gutes, gutes Deutsch vermittelndes Programm kam nach 1945 woher genau, woher sonst und wie genau sah das aus außer ‚geläutert‘?
Fragen wie diese stellten westafrikanische Germanisten (leider keine Germanistinnen), die in den 1980er Jahren antraten, mehr und anderes zu sein als akademische language brokers, selbstgewählte Re-Importeure einer ehemaligen Kolonialsprache oder gar Entwicklungshilfskräfte für eine wirtschaftswundersam wiedererstarkte Bundesrepublik. Etwas unglücklich nannten sie sich École d’Hanovre, weil sich westafrikanische Länder und Landsleute immer noch so französischsprachig definierten und namentlich deutschen Universitätsstädten huldigten, wie es Ngugi wa Thiong’o just in dem Moment feststellte, als der erste von ihnen, Alioune Sow, seine Promotion veröffentlichte.
Diese École d’Hanovre jedenfalls – die auch so hieß, weil mit Leo Kreutzer ein kritischer Kopf seinen germanistischen Lehrstuhl in Hannover hatte – knöpfte sich aus afrikanischer Perspektive und wie wa Thiong’o mit Marxismus-terminologisch versehenem Deutsch die Interkulturelle Germanistik der Zeit vor. Aus ihrer Nachfolgegeneration – es sind nach wie vor nur Männer – waren Paul N’guessan Béchié aus Côte d’Ivoire und Akila Ahouli von der Université de Lomé in Togo in Kapstadt mit dabei, dazu mit Andrea Bedi immerhin eine promovierende Enkelin.
Sowohl den Interkulturalitätsgermanisten als auch dem westafrikanischen Geschlecht der Hannoveraner geht es um die ‚Zielsprache Deutsch‘ als das zu Bewerbende und das, worum man sich aus Afrika als akademisches Studienfach damals bewarb. Die einen kannten sich von Geburt an aus mit Deutsch als ihrer eigenen Erst- und damit Quellsprache, die sich unter den Bedingungen der neuen Zeit nach den auf die eigene nationale Rechnung gehenden Zivilisationsbrüchen Herero-Genozid und Nationalsozialismus in Afrika unter dort Interessierten verbreiten sollte. Die anderen waren ungleichzeitig-gleichzeitig ebenso an ihre Zeit gebunden als frisch entkolonialisierte akademische Deutsch(land)interessierte. Auch ihnen waren die neuen Bedingungen nicht entgangen.
Zu bekritteln hatten die Westafrikaner, dass die Interkulturelle Germanistik einen alten deutschen und überlegenheitsanmutenden Wein in neuen, halbwegs kritisch-theoretisch durchgespülten Schläuchen propagierte. Alioune Sow sah darin wie wa Thiong’o im Jahr 1986, und damit vor der Wiedervereinigung Deutschlands, eine Form von Neokolonialismus. Im „Modell Bundesrepublik“, das der Interkulturalitätsgermanist Alois Wierlacher ins Feld geführt hatte, entdeckte er „ein universal gültiges Muster“, dem „es um eine Emission oder Transmission von Denkmodellen und Steuerung des gesellschaftlichen Wandels in der Dritten Welt“ gehe. Entsprechend viele „Lippenbekenntnisse“ gebe es und Sow spießt auf, was sich drinnen, hinter den äußeren Sprechwerkzeugen tut. Nämlich die von der einen Seite gewollte Fortsetzung einer ökonomischen (oikos) Ungleichheit, für die Sprachfertigkeiten – und solche des fremden Deutschen im Besonderen – nützlich sind.
Ein Label und Schlagwort (oder Stigmawort?) hat das Ganze auch, es geht um Entwicklung, die nun anzusteigen und damit ebenfalls, wie die Ökonomie, Wachstum aufzuweisen hat. Oder andersherum, es geht gegen die bedauerliche Unterentwicklung Afrikas. Sow ist dabei bissig und zeigt klare Kante, „Unterentwicklung ist […] ein Resultat von Abhängigkeit, die sich weiterhin aufgrund der Entfaltung des kapitalistisch dominierten Weltwirtschaftssystems verfestigt“.
Entwicklung also. Sow macht daraus eine Wissenschaft, die er als kritische ansieht und nicht grundlos mit einem Fragezeichen versieht: Germanistik als Entwicklungs-Wissenschaft? lautet der Titel seiner Dissertation. Entwicklung bleibt danach kleben als Terminus mit Anklang in den Arbeiten weiterer Absolventen der École d’Hanovre. 1993 erscheint Norbert Ndongs zwei Jahre zuvor – und damit nach der deutschlandentwicklungswichtigen Wiedervereinigung zu einem sozial-marktwirtschaftlichen und letztlich kapitalismuszugewandten Staat – verteidigte Habilitationsschrift Entwicklung, Interkulturalität und Literatur. Überlegungen zu einer afrikanistischen Germanistik als interkultureller Literaturwissenschaft.
Norbert Ndong steckt in gleich mehreren Klemmen, und dafür schlägt er sich tapfer. Klemme Nummer eins ist eine zeit(en)geschichtliche: Er veröffentlicht seine Thesis nach dem Ende der zwei Deutschlands, als sich abzeichnete, wer von den beiden die Oberhand behält und wer mit Abzügen in der ideologischen Relevanznote belegt würde, jedenfalls vereinigungsbundesdiskursweit, nämlich alles Neomarxistische (das Sow noch mit ordentlich Brust raus angeführt hatte). Entwicklung referiert Ndong als einen unhinterfragt zwangsläufigen Prozess, in dem sich etwa im „Entwicklungswissen der Literatur“ und der sich von ihr aus gegründeten Wissenschaft irgendwas bis heute sediert habe und fortwirke.
Klemme Nummer zwei ist die des akademischen Zweitgeborenseins. Den Stand der Dinge kann Ndong nicht referieren und ihm gerecht werden, ohne Sow zu berücksichtigen, und das möglichst mit einer etwas anderen Ansicht davon, was Entwicklung ist: als Begriff oder gar, wie Sow es will, als ganze Wissenschaft. Ndong etabliert sich als einer, der alles an kritischem Denken aufgesogen und zum Komplex ‚Auslandsdeutsch in Westafrika‘ gelesen und reflektiert hat und der mit diesem Vorsprung zurückblickt auf das, was da schon steht. Irgendwie satt, aus dem akademischen Nachfolgersein im Thema besserwisserisch und in der Sache kreiselnd wirkt, wie er dabei vorgeht. Oder andersrum formuliert, auch Nachgeborensein im Germanistisch-Universitären ist epigonal; es war weitestgehend (und genialischer, weil nicht nach-gedacht) schon da. Weil es um Germanistik geht – siehe Adalbert Stifter, Thomas Bernhard und deren brillanter Nachsommerling im Akademischen, Marcus Hahn –, darf man das heute noch so behaupten.
Die dritte Klemme, in der Norbert Ndong steckt, ist nach dem zeitgeschichtlichen Nachgeborensein zur Existenz zweier deutscher Staaten und dem Untergang des einen, nicht-kapitalistischen nach 1989, und dem Nachgeborensein seiner akademischen Qualifikationsarbeit zu der von Alioune Sow die notwendigerweise an diese beide Vorgaben angepasste Suche nach einer eigenen Position.
Aus dieser Klemme kommt er nicht einfach heraus, und es ist ihm nicht wirklich anzukreiden. Norbert Ndong entwickelt das fachliche postkoloniale Entwickeln zwar weiter, doch nimmt er nur sporadisch das auseinander, was ihm und seiner westafrikanischen Warte offenbar als ‚interkulturelle Germanistik‘ zugeflüstert wurde.
Das liest sich dann so: „Entwicklung ist ein normativer Begriff […]. Er hängt mit Wertvorstellungen, Fachrichtungen und politischen Optionen zusammen. […]. Das Korrelat zur Entwicklung ist die Unterentwicklung, die als eine im Vergleich zu Industrienationen komparatistisch gewonnene Kategorie betrachtet werden kann.“
Mit dieser eurozentrischen Definition macht sich Ndong für alles, was folgt, ziemlich angreifbar. Unterentwicklung, gewonnen aus einem Vergleich mit einem Standard Europa? Und sonst, nichts? Keine Wertung? Bei Sow klang das noch anders: Dort war sie das Ergebnis technologischer und ökonomischer Abhängigkeit, die mit einer westafrikanischen Germanistik als Entwicklungs-Wissenschaft gerade hinterfragt werden sollte in einem Bildungssystem, das seine Abhängigkeit von europäischen Masterstrukturen – seinen Status „als bloßer Dienstleistungsbetrieb“ – außerdem noch loszuwerden hatte.
Ndong leistet an anderen Stellen Wesentliches, etwa mit der Zurichtung von Literatur als Träger von Entwicklungswissen zu den Bedingungen des Fiktionalen als dem Anderen der durchökonomisierten Lebenswelt. Mit seinen Reflexionen auf das Wesen oder die nicht unproblematische, weil europasprachliche Herkunft des Konzepts und Begriffs (Unter-)Entwicklung / (under)development fällt er dahinter, hinter die Güte und Tiefe dieser literaturspezifischen Überlegungen zurück. Aus der Zeit der frühen 1990er Jahre, aus ihren Umständen und Zwängen heraus verstanden, ist das womöglich nachvollziehbar.
Trotzdem, die Klemme Nummer drei, in der Norbert Ndong steckt oder die er sich in hineinbegibt: Man sollte da mal genauer hinschauen. Nicht nur er, sondern die gesamte École d’Hanovre ist es das vielleicht wert.
Bruno Arich-Gerz