PARTIE SOLITAIRE (FORTSETZUNG IV)
Ich sitze in der Küche und warte darauf, dass die Welt untergeht, aber sie scheint es nicht sehr eilig zu haben. Noch leuchtet der Himmel tiefblau, aber die Gewissheit ewiger Finsternis ist für mich bloß eine Frage der Zeit, während ich die Sonnenreflexe beobachte, die über die Felder in Anthrazit und Grau auf dem Küchenfußboden hüpfen. Irgendwie habe ich Ferien und doch nicht. Ich bin allein zu Hause und wollte übers Wochenende eine Sache abschließen, die ich sehr lange hinausgeschoben hatte, aber wie die Tat den Plan verändert, so wächst auch das Ungetane um das Fertige weiter, oder anders ausgedrückt, während ich hier Solitaire spiele und Cappuccino mit zwei Peh und zwei Zeh trinke, bin ich zur Touristin geworden, die sich mit dem falschen Reiseführer in der Tasche in einer fremden Stadt verirrt hat. Seit Wochen lebe ich in einer verrückten Welt, in der Briefkästen verschwinden und mit einem Male nicht mehr alles erlaubt ist, nur weil die Chinesen gelogen haben. Ganz merkwürdig kommt mir auch vor, dass viele bis dahin geglaubt hatten, sie seien weniger versklavt als die Kommunisten dort, weil sie hier tun und lassen konnten, wonach ihnen und ihren Freunden der Sinn steht, aber das war nicht die Freiheit, welche ich meine, nein, unter Freiheit verstehe ich, mir selbst treu zu bleiben, auch gegen den Willen der selbsternannten Freiheitskämpfer, die jetzt auf Plätzen und Straßen protestieren. Das Drama der Freiheit beginnt ja genau in dem Augenblick, in dem Grenzen neu gezogen werden, und mir wie jedem anderen stellt sich nun die Frage, ob ich sie achten will oder nicht, was aufregend, ja spannend ist, denn sobald ich mich gegen sie entscheide, bleibt es mir selbst überlassen, welchen Fluchtweg ich einschlagen will, aber die neu gezogenen Grenzen zu verletzen, halte ich für einen Akt moralischer Notwehr, seitdem es vorgeschrieben ist, sich Freunden und Verwandten nur noch in Gedanken und Worten zu nähern. Mein Alltag ist jetzt bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und hat nicht mehr viel mit dem Alltag von früher zu tun. Äußerlich geht alles zwar noch seinen gewohnten Gang, aber der Schein trügt. Alles hat sich verändert, und nichts mehr, wirklich überhaupt nichts mehr ist noch selbstverständlich. Der Küchenboden wirkt echt, aber ist er es tatsächlich? Mit seinen Feldern aus Anthrazit und Grau könnte er auch zu einem Brettspiel gehören, in dem ich eine Figur unter vielen bin. Jetzt kann ich mir in vielem nicht mehr so sicher sein, wie ich es früher einmal gewesen bin. Mein Fühlen und Denken hat sich verändert, und ich bin nicht mehr dieselbe, seit ich in ständiger Furcht lebe. Es klingt paradox, aber wenn ich mich erinnere, bin ich noch dieselbe und bin es doch nicht, genauso wie die Welt nicht dieselbe bleibt, wenn sie mir vertraut und unheimlich zugleich geworden ist. Ich weiß nicht, wann und wo es geschehen wird, doch am allerschlimmsten ist die Ungewissheit über die Wucht, mit der es mich treffen könnte. Ich wage nicht mehr, an die Zukunft zu denken, nein, nur das Hier und Jetzt bedeuten mir noch etwas, während mich die Furcht vor dem großen schwarzen Hund draußen auf dem Hof allmählich, aber stetig zu lähmen beginnt. Was kann ich noch tun? Wie ein kleines Kind knipse ich das Licht aus und stelle mich im Dunkeln vor den Spiegel im Flur und knurre und belle los. Warum? Ich bin das kleine schwarze Ungeheuer und brauche mich nicht mehr zu fürchten. Nun, ja, wer mit sich selbst spielt, kann nicht verlieren, aber wie heißt es doch? Ein Unglück kommt selten allein. Gerade ist die Kaffeemaschine kaputtgegangen, also sie stellt keine dampfaufgeschäumte Milch mehr her, was Mama bestimmt nicht freuen wird. In unseren Ansichten sind Mama und ich so weit voneinander entfernt wie der Nordpol vom Südpol, und im Alltag verbindet uns einzig noch die Achse unseres Geschlechts. Mama starrt nur auf die Fehler und fragt nicht nach den guten Vorsätzen, wenn ich in der Küche etwas anders gemacht oder beim Aufräumen etwas verstellt habe. „Das habe ich ja noch nie gesehen!“, heißt es dann, „warum machst du das so und nicht so?“ Mit solchen Vorwürfen versucht sie dann, mich in die Pflicht zu nehmen wie ein Dienstmädchen, ja, ich weiß, mütterliche Fürsorge neigt zur Herrschsucht, aber im Tun findet der gute Wille zu sich und nicht im Tadel. Selbstverständlich unterläuft Mama auch nie der kleinste Fehler, nein, niemals, nicht einmal dann, wenn ein Polizist sie beim Autofahren telefonieren sieht und anzeigt. Anstatt die Strafe zu bezahlen, erhebt Mama lieber Einspruch und erklärt, zu dem Zeitpunkt sei es regnerisch und dunkel gewesen, weswegen der Beamte ihre Lippenbewegungen auch falsch gedeutet habe, als sie den Streifenwagen überholte, denn sie habe damals mit der rechten Hand am Ohr einen Schlager mitgesungen, der gerade im Autoradio lief, na ja, so schnulzig geht es in Mamas Ausreden manchmal zu, weil sie glaubt, ein Fehler bringe nur Böses, was aber nicht wahr ist, in ihm steckt auch etwas Gutes, sobald ich aus ihm lerne, wozu Mama aber nicht bereit ist. Ich hasse Mama dafür, aber nicht wirklich, nein, eher ohnmächtig, wie es sich für eine Tochter aus gutem Hause halt gehört, doch ich merke, ich habe mich gedanklich verlaufen und muss kehrtmachen. Ohne Milchdampf ist ein Cappuccino kein Cappuccino. Was denn? Ein Milchkaffee vielleicht? Nein, auf gar keinen Fall! Ich weiß nicht, wie ich das nennen soll, was ich gerade trinke, aber es schmeckt gut, und das ist doch die Hauptsache, wie meine Großmutter zu sagen pflegt. Wenn ich ehrlich bin, mit meinem Italienisch könnte ich mir in Rom nicht mal eine Tasse Mokka bestellen, aber wie wär’s mit „Capriccio“ mit einem Peh und zwei Zeh? Doch Spaß beiseite! Lasst doch erst mal den Ernst vorbei! Ich hätte nie gedacht, dass Kaffee nach Sonnenschein schmecken kann, aber meine Weltuntergangsstimmung scheint sich tatsächlich aufzuhellen. Ich gehe nach oben in mein Zimmer, wo ich den Computer einschalte, um mich zu unterhalten, was ziemlich verrückt klingt, als könnte mich das Ding von der Einsamkeit heilen, völlig verrückt, oder? - ZEMA SAGT: Freundschaften sind wichtig, wirklich sehr wichtig. Das merkt gerade jeder, denke ich. - MIRIAM SAGT: Das ist wahr, ja. Darum möchte ich auch nie von hier wegziehen, obwohl es anderswo vielleicht viel besser ist, aber alle meine besten Freundinnen sind hier. - ZEMA SAGT: Freundinnen sind unersetzlich wie, - wie soll ich sagen? - FELICITAS SAGT: Geschwister? - ZEMA SAGT: Nein, zu Esma habe ich ein anderes Verhältnis, Feh. Das liegt vielleicht auch am Alter. Du, Mi und ich, wir drei sind ja eine Generation. - MIRIAM SAGT: Mich würde ein Altersunterschied von ein oder zwei Jahren nicht stören, also in jede Richtung, zurück und vor, aber jetzt nicht allein zu sein, ist sehr wichtig. - ZEMA SAGT: Überlebenswichtig! - MIRIAM SAGT: Genau! Freundschaft ist aber nicht gleich Freundschaft. Zum Beispiel können wir uns alles sagen, weil wir miteinander vertraut sind. Und obwohl wir uns jetzt nicht mehr treffen können, ist etwas da, was uns miteinander verbindet, auch ohne Telefon und Computer, das ist schon unglaublich, ja. - FELICITAS SAGT: Wie geht’s eigentlich Esma? - ZEMA SAGT: Ihr ist der Wellensittich weggeflogen. - FELICITAS SAGT: Ups! Wie das denn? - ZEMA SAGT: Dummheit. Schwermut. Keine Ahnung! - FELICITAS SAGT: Dummheit? - ZEMA SAGT: Sie hat den Käfig aufstehen lassen. - FELICITAS SAGT: Ach, so! Wann? - ZEMA SAGT: Was? - FELICITAS SAGT: Wann ist ihr der Vogel weggeflogen? - ZEMA SAGT: Vorgestern. - FELICITAS SAGT: Das tut mir leid. - ZEMA SAGT: Seitdem ist sie nur noch am Heulen. - FELICITAS SAGT: Das ist ja auch traurig. - ZEMA SAGT: Ja. - MIRIAM SAGT: Mit Zugvögeln hast du es nicht leicht. - ZEMA SAGT: Nein, aber morgen holt sie sich einen neuen. - FELICITAS SAGT: Seit wann gehören Wellensittiche denn zu den Zugvögeln, Mi? - MIRIAM SAGT: Was? Wieder einen Vogel? Esma sollte sich besser eine Katze holen. - ZEMA SAGT: Esma sagt, pah!, das kommt nicht in Frage! - MIRIAM SAGT: Warum nicht? Eine Katze hängt am Haus und nicht am Himmel. - ZEMA SAGT: Esma sagt, ich hole mir doch keine Katze; ich heiße doch nicht Kleopatra, sagt sie. - MIRIAM SAGT: Kleopatra, aha. - ZEMA SAGT: Ich mag Katzen auch nicht besonders, Mi. Katzen sind falsch und rauflustig wie Kerle. - MIRIAM SAGT: Ich hatte auch mal einen Wellensittich, na ja, nichts als gefiederte Langeweile. Das ist jetzt aber nicht böse gemeint, Esma. - ZEMA SAGT: Esma weint wieder. - FELICITAS SAGT: Nicht doch! Mi, manchmal bist du ein richtiges Scheusal! - MIRIAM SAGT: Ja, ich weiß, aber Esma führt sich auf wie eine Zehnjährige. - ZEMA SAGT: Lass es gut sein, Mi. Sie ist erst zwölf. - MIRIAM SAGT: Warum? - FELICITAS SAGT: Bitte, Mi! - MIRIAM SAGT: Okay, Leute, die Klügere gibt nach! - FELICITAS SAGT: Sehr komisch! - ZEMA SAGT: Wisst ihr, Esma kann sich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen, tagaus, tagein zu Hause zu sitzen und dort auf ihr Leben zu warten. Wenn unsere Mutter sie fragt, wie war’s heute so, dann sagt sie, ach, ich weiß auch nicht, in der Schule war es doch besser. - MIRIAM SAGT: Das ist wahr. - FELICITAS SAGT: In der Schule war nicht alles bestens, aber die Vorstellung, du müsstest ein halbes Jahr lang zu Hause verbringen, das kommt schon einem Albtraum gleich. - ZEMA SAGT: Du könntest dir die ganze Zeit nur Serien angucken. Das wäre ein Schlamassel ohne Ende. Ein halbes Jahr lang zu Hause würde Endstation Hoffnung bedeuten. - MIRIAM SAGT: Wenn du sitzenbleibst, ist auch Endstation Hoffnung. - FELICITAS SAGT: Endstation Hoffnung ist eigentlich immer, ja. - MIRIAM SAGT: Wir sollten eine Sitcom machen - Titel: „Endstation Hoffnung“. - ZEMA SAGT: Ja, klar doch, jetzt gleich! - MIRIAM SAGT: Das meine ich ernst, Zem. - ZEMA SAGT: Vergiss es, Mi! Es dauert ewig, sich witzige Dialoge auszudenken! Oder hast du vielleicht welche auf Lager? - FELICITAS SAGT: Ich finde Mis Idee gar nicht so schlecht. - MIRIAM SAGT: Sterben? Nicht mehr lebendig sein? Jetzt? Nein, das passt mir gar nicht. Das wäre zu früh. Das müsst ihr doch verstehen. Ich bin so jung und habe noch so viel vor, nein, sterben, das geht jetzt gar nicht, aber so tun, als ob, damit könnte ich euch wohl dienen, Meister Mephisto. - ZEMA SAGT: Na, ja, wie viele solcher Monologe ergeben wohl einen Dialog, was schätzt du, Mi? Wir sollten lieber machen, was wir gut können. - MIRIAM SAGT: Und das wäre? - ZEMA SAGT: Auf keinen Fall solches Goethegeschnatter aus der Theater-AG! Was meinst du, Feh? - FELICITAS SAGT: Ihr beide habt mich auf etwas gebracht. - ZEMA SAGT: Lass hören. - FELICITAS SAGT: Kilian trat auf den Balkon und sah das Mädchen über den Hof gehen. Gleich würde es in der Ausfahrt verschwunden sein. - MIRIAM SAGT: Wer ist Kilian? - ZEMA SAGT: Mein Gott, Mi! Das erfährst du noch früh genug. Los, erzähl weiter, Feh! - FELICITAS SAGT: Kilian war verärgert. Eben hatte Basta wieder einen von diesen bunten Ausreißern erwischt, einen Wellensittich mit lichtblauem Gefieder, das an den Spitzen in ein Weiß mit dunklen Tupfen überging. Die Tupfen waren kein Blut, das erkannte Kilian sofort, als er dem Kater die Beute abgenommen hatte. Wahrscheinlich hat sich das arme Vögelchen so erschreckt, dass ihm das Herz stehen geblieben ist, dachte Kilian, während er nach der Zeitung suchte, die er letzte Woche in der Straßenbahn gefunden hatte. Auf der Titelseite war eine Frage gestanden, die auch ihn sehr beschäftigte, und wie die Bahn an der Kreuzung gefährlich hin- und herschwankte, hatte er sie vom Nachbarsitz genommen und keck eingesteckt, was eigentlich nicht seine Art war, denn er ekelte sich vor allem, was fremde Hände berührt hatten. Daheim hatte sich Kilian die Zeitung dann laut vorgelesen. Er wusste, die Gedanken sprachen in seinem Kopf mit seiner Stimme, und so nahm er an, der Klang seiner Stimme würde ihn die Antwort leichter finden lassen, doch die Sätze verdichteten sich beim Lesen zu einem schwarzen Gewölk, aus dem es Fragezeichen regnete, die alles mit Sicheln niedermähten, was bislang deutlich und klar gewesen war. Auf die einfache Frage des Titelblatts konnte ihm die Zeitung keine einfache Antwort geben, und enttäuscht hatte Kilian den Artikel beiseite gelegt. Jetzt wusste er nicht mehr, wo er die Zeitung gelesen hatte, und der Zweifel verwandelte seine Wohnung in ein riesiges Labyrinth. Endlich fand er sie im Schlafzimmer. Er scheuchte den Kater vom Bett und faltete die Zeitung zu einem Dreispitz, den er sich aufsetzte. Basta fand das nicht witzig und flüchtete sich auf die Fensterbank, wo er aus sicherem Abstand beobachtete, wie Kilian aus dem Dreispitz umständlich einen Umschlag für den toten Vogel faltete. Was war noch mal witzig? Lankwitz. Viele Leute kamen dorthin, meist alleine, manchmal auch zu zweit wie die beiden Mädchen. Sie trugen Kopftücher und alberten herum. Zwischen den Grabsteinen wurden sie ganz still. Die Leute hatten dort Blumen und Stofftiere abgelegt. „Oh, die hieß Amina, genau wie du.“ Je länger sie herumliefen, desto schlimmer wurde es. Eines der Mädchen setzte sich auf eine Bank und weinte. Das hatte ihn bewegt. Oder hatte er sich das nur eingebildet? Vielleicht gab es keine Mädchen, und er hatte einfach nur einen Augenblick lang geträumt. Es gab dort vieles zu sehen. Mit dem Fotoapparat hatte er nach Bildern gesucht und keine gefunden. Manchmal ließen die Bilder ewig auf sich warten. Es konnten Stunden vergehen, bis sich eines zeigte. Manchmal wartete er auch vergebens wie damals in Lankwitz. Die Bilder waren nicht dort. Wo waren sie hin? Es gab unzählige von ihnen. Aus welchem Versteck kamen sie hervor, wenn ihre Zeit gekommen war? Ihre Erscheinung hatte einen merkwürdigen Namen: Belichtungszeit. Was war damit eigentlich gemeint? Und wohin gingen die Bilder, deren Belichtungszeit nie kommen würde? Auf dem Friedhof fand Kilian nur Namen, die von etwas sprachen, das sich nicht mehr zeigen konnte. Der Himmel war bedeckt. Später fing es an zu regnen. Die beiden Mädchen waren gegangen, und der Himmel weinte. Wenn das kein Witz war. Es kann sein, dass nicht alles wahr ist, was da steht, sagte sich Kilian, als er die Wohnungstür hinter sich schloss und nach unten ging. Auch die Zeitung kann sich irren, aber in allem, was sie schreibt, muss sie doch wahrhaftig bleiben. Der Leser kann ja nicht mehr wissen, als in der Zeitung steht. Er muss ihr vertrauen. Doch was ist, wenn der Leser merkt, dass die Zeitung lügt? Dann bricht alles in sich zusammen! Das Mädchen war auf den Hof zurückgekehrt und sah zu den Balkons hoch. Es rief etwas, das Kilian nicht verstand, aber voll und rund klang wie ein Frauenname. Kilian steckte den Umschlag in die Mülltonne und schloss gerade den Deckel, als das Mädchen auf ihn zutrat. Sie hatte sich eine blaue Arztmaske aufgesetzt, und Kilian ärgerte sich wieder, dieses Mal über sich selbst, hing seine Maske doch an einem Haken im Flur, wo Basta sie nicht erreichen konnte. Verflixt!, dachte er, in der Welt geschieht nichts ohne Grund. Alles ist schon entschieden, und der Zufall hat keine Macht über mich! Es war also völlig gleich, ob Kilian eine Maske trug oder nicht. Sein Schicksal stand bereits fest. „Ich wohne im ersten Stock“, sagte das Mädchen, „kannst du mir zehn Euro borgen?“ Das Gesicht hinter der Maske ließ Kilian einen Augenblick lang rätseln, doch dann war er sich sicher. Er kannte das Mädchen nicht. Er hatte es noch nie vorher im Haus gesehen. Kilian war ein Geizhals, ein Sklave des Geldes. Er verdiente nicht viel und gab so wenig wie möglich aus. Selbst für Kleinigkeiten nahm er große Umwege in Kauf, um Geld zu sparen. Neulich hatte er fünf Euro für einen Becher Kaffee bezahlt. Er fand den Preis unverschämt und versuchte, den Wucher auszugleichen, indem er fünf Stückchen Zucker statt einem nahm, wobei er sich selber kindisch vorkam. Er wusste auch nie, wie viel Geld er bei sich hatte, und so war er ständig gezwungen, sich bei Kollegen und Freuden etwas zu borgen. Zehn Euro sind eigentlich kein Geld, dachte Kilian, und bestimmt sehe ich keinen einzigen Cent davon wieder, doch vielleicht braucht das Mädchen das Geld wirklich, wer weiß? Einen Fremden um Geld zu bitten, ist gar nicht so einfach. Das kann nicht jeder. Ich könnte das nicht. Wenn ich dem Mädchen jetzt aber nichts gebe, dann wird es das Geld vielleicht stehlen und ich wäre dann auch noch schuld. „Ich gebe sie dir, wenn du mir keine Lüge sagst“, versprach Kilian. Das Mädchen griff nach seiner Hand, sah die kurze Herzlinie und sagte: „Du wirst mir keine zehn Euro geben.“ Es war die reine Wahrheit. Kilian würde dem Mädchen fünf Euro geben und keinen Cent mehr.
Hörspiel »Partie Solitaire« (MP3) ->
Sprecher: Kerstin, Saskia, Sander, Audwin (allesamt Kunststimmen)
Album: W. Timmler - Corona-Protokolle
Produktionsjahr: 2023
Genre: Comedy