6. Februar 2023

Gliedmat



Die genuine „ars saltandi“ untersucht Dagmara Kraus in ihrem neuen Band Poetiken des Sprungs, erschienen bei Engeler. Sein Tonfall ist dem als Dissertation entstandenen Werk eingeschrieben, nüchtern argumentativ, ansteigend dramatisch gegen Ende, was dem untersuchten Thema des Sprungs als lyrische Waffe zugutekommt. Anhand ausgewählter Lektüren werden Sätze und Sprünge gleichermaßen hinterleuchtet, die als „Sprung ohne Fall“ konstitutiv für lyrisch organisierte Rede herhalten sowie deren gleichzeitige „Diskriminierung“ als Brüche menschlicher Ideengeschichte/ -darstellung aufzeigen – „eine unedle Bewegung“.

Mit Alejandra Pizarniks „yo es salto“ beginnt die Reihe sehr interessanter Lektüren Kraus‘, die mehrsprachlich, immer frisch neu-übersetzt wo nötig, herangezogen werden, besonders expressiv bei Monchoachi: „zing-zizing-tit zong-Dinge“. Einen Höhepunkt der Untersuchung stellt Kraus‘ Sezieren der drei Werke John Barton Wolgamots dar, die „von Konstanten gesäumt, Satzhaftigkeit vortäuschen“, aber sich z. B. durch Verbauslassung als etwas anderes zu erkennen geben, das unter Hinzunahme der synästhetischen Komponente der möglichen „Autorenfiktion“ bzw. des Konzeptes (?) Wolgamot, von u. a. Keith Waldrop, eine mögliche Textperformance des Vorstellens von einer Ertaubung sein könnte – in Relation zu Werken Gertrude Steins, „Essenz kann nicht derart inflationär auftreten“. Nach der atemberaubenden Wolgamot-Betrachtung folgen kürzere Lektüren von Konrad Bayer, Sol LeWitt und Rodney Graham, Inge Müller, Vorletztere mit dem Lenz-Loop, der sehr treffend an das Textperformen andockt, mit einem Nadelsprung, das sich ständig neu aufrollende Psychotikum Lenz‘ durch Büchner darstellen mag. Leidenschaftlich huschend wird Poetiken des Sprungs in den letzen Kapiteln, vor allem zu Frédéric Forte und dessen Anagrammsestinen, eine mathematische Anti-Gödelei, bei der ein schier unfassbares Kaugummi aus Anagrammen von Kraus teleologisch als mission accomplished zu Ende übersetzt wird, dabei auch erstmals die bis dato überfällige Analogie zum Jump-cut aus dem Film fällt. Mit Oskar Pastiors „Sätze wissen nicht, was Folgen heißt“ beschließt sich die umtriebige, belesene Schrift und wird dramatisch selbst tätig, indem sie mit „fiat fleck“ in einem Pastor’schen Gedicht chirurgisch tätig wird. Eine lohnende, wenn auch fordernde Lektüre ist Poetiken des Sprungs, die allein wegen der darin vorgestellten Analysen (und originellen Originale) Freude bereitet.

Jonis Hartmann

 

Dagmara Kraus: Poetiken des Sprungs. Engeler 2023