6. März 2004

Fakten, Biografie, Fakten

 

Dieser Roman, der eigentlich mehr ein ausführlicher Bericht ist, beginnt gewissermaßen erst mit dem zweiten Satz. Der erste, recht poetische, schlägt einen Ton an, der bereits mit dem zweiten zerschlagen wird und der dem Leser gleich mitzuteilen scheint, was er hier nicht erwarten darf, nämlich eine Art Proustische Verklärung der Kindheit.

Da dieser Roman von einem Kind erzählt wird, muss diese Reflektion, so sie denn eine ist, an den Anfang gepackt werden, an dem entschieden wird, auf welcher Ebene erzählt wird, und es gibt bis zum Ende nach 500 Seiten nur diese eine des Knaben Martin Schlosser, den der Henschel-Leser bereits aus dem opulenten Briefroman „Die Liebenden“ als den zweiten Sohn der beiden Helden Richard und Ingeborg kennen gelernt hat. An die Stelle der Briefe aus dem Roman des Jahres 2002 treten in diesem, so darf vermutet werden, das Fotoalbum und das Tagebuch. Nicht, dass dieser Roman bebildert wäre – lediglich den vorderen und hinteren Buchrücken zieren teils private Fotos, teils solche aus Comics oder Zeitschriften –, aber sein gewollter Fragmentcharakter, seine Sprunghaftigkeit von Szene zu Szene, vergleichbar mit dem Weiterwandern des Blicks, der auf ein Fotoalbum gerichtet ist, lassen vermuten, dass sich der Autor beim Schreiben ziemlich direkt der erinnerungsschaffenden Beschäftigung mit dem Familienalbum ausgesetzt hat. Fotos und – in diesen Roman völlig integriertes, als solches also nicht mehr erkennbares – Tagebuch bieten die dokumentarische Stütze dieses Buchs.

Wenn oben gesagt wurde, dass der Roman von einem Kind erzählt wird, so ist das allerdings nur die halbe Wahrheit. Der Ton ist tatsächlich kindlich im Sinne von einfach und direkt, aber wenn man sich nur eine Seite dieses Buchs genauer ansieht, so stellt man schnell fest, dass nur ein Erwachsener ein solches, zwar nicht kompliziert montiertes, aber eben doch durch seinen Montage-Charakter geprägtes Buch schreiben kann. Es pendelt ständig, beinah in jedem Absatz, von kindlichem Erfahrungsbericht (ohne anschließende Reflektion, ohne Bezüge in Vergangenheit oder Zukunft, vor allem ohne jede stimmungserzeugende Kindermelancholie oder -verzweiflung) zu einer ganz nackten, kruden Bereitstellung von Sätzen, Reimen, Werbesprüchen, Weisheiten, die den Zeitindex sicherstellen und dem gleichaltrigen Leser auf jeder Seite Aha-Erlebnisse vermitteln und ihn außerdem zu Vergleichen mit seiner eigenen Biografie einladen.

Anders als bei sich in Stimmungsassoziationen gefallenden Schreibkaskaden, die über eine ja doch nicht mehr authentisch zu habende Kindheit geschickt werden und bei denen der Leser immer aufpassen muss, dass er nichts verpasst, bietet Henschel von Anfang an einen klar montierten Text aus persönlichem Bericht und Zeitdokument, sodass sich der Leser dann selber entscheiden kann, wie weit und wie genau er mitgehen will. Niemand wird dieses Buch ganz lesen (wollen).

Aber wer würde verlangen, dass man ein Archiv in Gänze zur Kenntnis nimmt? Denn das ist dieser Kindheitsroman schon, ein vielleicht kleines, aber eben doch ein Archiv, das für den einen mehr, für den anderen weniger hergeben wird. Wenn die „Liebenden“ ein groß angelegtes episches Drama waren, so ist dieser „Kindheitsroman“ ein neuer Einsatz, der unter veränderten geschichtlichen Bedingungen eine Normalität bezeugt, wie sie der Elterngeneration verweigert war.

 

Dieter Wenk

 

Gerhard Henschel, Kindheitsroman, Hamburg 2004 (Hoffmann und Campe)