10. Januar 2023

PARTIE SOLITAIRE (FORTSETZUNG II)


 

Von Wolfgang W. Timmler

 

- Wuh-hu-hu-huh! Ich muss gleich heulen!

- Wieso?

- Nur so. Endlich erreiche ich dich mal.

- Ach, so!

- Mein Gott, Annie!

- Was?

- Mir ist so langweilig.

- Und mir erst.

- Ich schalte mal die Webcam ein. Hoffentlich macht das Internet nicht wieder solche Mucken wie beim letzten Mal. Wer sagt’s? Keine Verbindung.

- Nicht? Ich kann dich sehen.

- Aber ich dich nicht. Moment. Jetzt.

- Schon besser.

- Meine Haare sind noch ganz nass. Eigentlich wollte ich sie trocknen, aber ich kann meinen kleinen Reiseföhn nicht finden. Ich glaube, meine Mutter hat ihn mitgenommen, ohne mir was zu sagen.

- Ja, ja, das moderne Matriarchat! Das Leid kenne ich.

- Verflixt, noch mal! Wegen meiner Mutter mache ich jetzt die Tastatur pitschnass! Ich tropfe wie ein altes Klageweib. He! Ist dir schon was aufgefallen an mir?

- Was?

- Wuh-hu-hu-huh! Annie! Wuh-hu-hu-huh!

- Süße, ich nehme dich doch bloß auf den Arm. Ich habe den Pony gleich bemerkt.

- Und? Wie findest du ihn? Ich habe ihn mir selbst geschnitten.

- Du siehst todschick aus!

- Ehrlich?

- Ehrlich, begehrlich!

- Wuh-hu-hu-huh!

- Stell’ dir vor, Fabio hat mich eingeladen.

- Was? Fabio? Hoh-hoh!

- Willst du die Nachricht sehen?

- Ich bitte darum.

- FABIO SAGT: Was machst du heute? - ANNIE SAGT: Wieso? - FABIO SAGT: Meine Ma ist drei Tage weg. - ANNIE SAGT: Na, und? - FABIO SAGT: Ich feiere meinen Geburtstag nach und lade dich ein.

- Oho!

- Warum gehst du nicht für mich hin!

- Sehr witzig!

- Bitte, bitte, Feh, geh’ für mich!

- Na, klar! Hey, Fabio! Ich bin Annies zweites Ich. Ihr erstes Ich ist gerade in Quarantäne und kann leider nicht kommen.

- Puh! Warum muss mir das ausgerechnet jetzt passieren?

- Schlechtes Karma. Fabio ist aber bestimmt nicht so einer.

- Was für einer, meinst du?

- Halt so einer, du weißt schon.

- Du Luder!

- Selber Luder.

- Wieso bin ich eine Kontaktperson, wenn sich in Bennys Kindergarten jemand angesteckt hat? Das kapiere ich nicht. Verstehst du das?

- Das versteht keiner, glaube ich.

- In der Gruppe von Benny seien alle negativ, sagt meine Mutter, die mit den anderen Eltern telefoniert hat, und von uns ist auch keiner positiv. Das ist doch der volle Schwachsinn!

- Was macht dein kleiner Bruder?

- Im Augenblick sieht er fern.

- Und wie kommt ihr zuhause miteinander aus?

- Wir sind alle schrecklich nett zueinander.

- Das kann ich mir vorstellen.

- Papa sagt, wir machen jetzt Urlaub im Haus-U-Boot.

- Lustig. “Familie Nowak! Sich klarmachen zum Tauchen!”

- Kindskopf!

- Tralala und hopsasa!

- Huch! Wer hat bei dir das Licht jetzt ausgemacht, Feh?

- Ach, das! Meine Webcam friert ständig ein. Ich mache sie besser mal aus, um den Akku zu schonen. Stell’ dir nur vor, ich hatte heute schon einen kleinen Unfall.

- Beim Haareschneiden?

- Sehr witzig! Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht und wollte nachsehen, wie spät es ist. Vor dem Schlafengehen lege ich immer mein Handy auf den Nachttisch, und wie ich mich im Halbschlaf so vorbeuge, stoße ich mit dem Kopf gegen die Tischkante. Das hat höllisch wehgetan, und ich habe jetzt eine richtige Beule auf der Stirn.

- Dich darf Mami doch keine Sekunde allein lassen, meine Süße.

- Wuh-hu-hu-huh! Wuh-hu-hu-huh!

- Du hättest die Stelle gleich kühlen müssen.

- Und womit?

- Eis-gekühlte Marme-lade ... Marme-lade, eis-gekühlt!

- Ja, ja, mach’ dich nur lustig über mich!

- Meinst du etwa mich?

- Nein, dein anderes Ich.

- Weißt du, was Rektor Lykratz dazu sagen würde?

- Das verrätst du mir bestimmt gleich.

- All Körper sint dröge, aver nit all sint dat in det selve Maas. Wenn du Köppball mit din Nachtdisch spilst, denn stökst der dik mit de glike Kraft turük, un din Köpp krigt det to phöhlen un tud weh. Dat hest nu: Ohn din Nachtdisch tädest du dik selver nit spürn.

- Jetzt geht es mir schon viel besser, Annie.

- Dat glob ik, mein Einhorn!

- Ich habe mir heute Spaghetti Miracoli gemacht.

- Ach, ja? Spaghetti haben wir heute auch gehabt, Spaghetti vongole.

- Was ist das?

- Spaghetti mit Venusmuscheln.

- Venusmuscheln?

- Selbst gezüchtet, aus unserem Gartenteich.

- Na, klar!

- Vom Italiener selbstverständlich! Der Lieferservice brachte das Essen an unsere Haustür!

- Ach, so.

- Wie steht es eigentlich zwischen Pih und dir?

- Zwischen uns ist es aus und vorbei. Wir sind nicht mehr zusammen.

- Was? Oh, nein! Wieso?

- Pih sagte mir, er würde mich eigentlich nur noch hinhalten und irgendwann bestimmt auch betrügen.

- Wieso sagt er das, wo er doch genau weiß, dass dich das verletzt?

- Wegen der ständigen Streitereien würde er sich jetzt eine Auszeit nehmen, und darauf meinte ich, die Auszeit könne er sich gleich ganz nehmen und zwar für immer.

- Zum Streit gehören zwei, denke ich.

- Das denke ich auch, doch er meinte, ich würde mich nicht ändern wollen, was aber gar nicht wahr ist. Ich habe es wirklich versucht, Annie. Das darfst du mir glauben.

- Mal ganz ehrlich, Feh, jetzt redest du wie seine Sklavin.

- Im Grunde ging es ja nur um Kleinigkeiten. Ich würde ihn nicht ausreden lassen und so.

- Du liebe Güte! Eine Mücke im Porzellanladen ist kein Elefant!

- Wenn er glaubt, mit uns habe es keinen Sinn mehr, dann muss ich das halt hinnehmen, was bleibt mir anderes übrig?

- Ich finde, Pih hat dich überhaupt nicht verdient!

- Wir hatten vor kurzem mal über eine Auszeit gesprochen, aber als er jetzt am Telefon meinte, er nehme sich eine Auszeit, gleichgültig, ob mir das nun gefällt oder nicht, was konnte ich da noch machen?

- Ihm den Laufpass geben, was sonst?

- Damit hatte er wahrscheinlich nicht gerechnet und gleich wieder versucht, mich um den Finger zu wickeln.

- Wie?

- Indem er mich an das viele Zeug erinnerte, das ich noch von ihm hatte. Dadurch wollte er die Sache zwischen uns wieder offen halten.

- Und? Hast du dich um den Finger wickeln lassen?

- Ich habe ihm gesagt, dass ich seinen Mist in unseren Briefkasten stopfen werde.

- Verrückt!

- Loslassen ist nicht leicht, Annie!

- Mist! Mist! Mist!

- Was?

- Mein Papa will in genau sechzig Sekunden bei mir den Stecker ziehen. Er meint, für heute hätte ich genug gechattet.

- Und was meint deine Mama dazu?

- Sie sagt, Papa entscheidet.

- Merkwürdig.

- Überaus merkwürdig, aber so sind hier die Spielregeln. Papa stellt sich dauernd quer, und ich weiß wirklich nicht, was der Grund ist. Mama hätte mir vieles erlaubt, aber Papa sagt ständig Nein.

- Wieso?

- Ich habe keine Ahnung. Da musst du ihn schon selbst fragen.

- Das ist wirklich gemein.

- Ich bin richtig, grrr!

- Was?

- Na, was wohl? Wütend! Aus heiterem Himmel stört ihn, dass ich chatte.

- Wieso?

- Wieso wieso? Was weiß ich wieso! Ich würde zu wenig im Haushalt helfen und so.

- Im Ernst?

- Ich und nicht helfen! Das ist völlig ungerecht. Benny macht überhaupt nichts. Nicht mal den Müll bringt er raus.

- Ja, ja, der kleine Prinz.

- Warum kann ich nicht schon achtzehn sein?

- Über Nacht achtzehn wäre auch mein Traum.

- Ich müsste mir dann nichts mehr sagen lassen.

- Warum fragst du nicht deine Mama?

- Es ist einfach nur schlimm. Strenge Eltern sind wirklich das Allerletzte! Mama hätte bestimmt nichts dagegen.

- Und wieso sagt dein Papa dann Nein?

- Ich habe keine Ahnung, warum er sich plötzlich benimmt wie ein Idiot. Es ärgert ihn, wenn ich etwas tue, was er nicht versteht. Das bringt ihn richtig auf die Palme.

- Und was sollst du stattdessen machen?

- Das weiß er selbst nicht, glaube ich.

- Meine Mama kann meinen Papa meistens überreden.

- Ich schätze, er hat nichts für die Schule gemacht, als er so alt war wie ich, und jetzt glaubt er, er müsste mich vor dem gleichen Fehler bewahren.

- Gespenster! Huh! Huh!

- Na ja, er meinte mal, in der Schule würde ich alles fürs Leben lernen, aber wenn du nicht weißt, was abgefragt wird, dann lernst du doch auch viel Unsinn, oder?

- Wieso sagst du ihm das nicht ins Gesicht? Schlimmer als der Streit mit meiner Mama neulich kann es nicht werden. Wir haben uns ja auch wieder vertragen.

- Mit meinem Papa lege ich mich nicht an. Am Ende schmeißt er mich noch raus, Schule hin, Schule her!

- Wieso hilft dir deine Mama nicht?

- Das tut sie ja.

- Wirklich?

- Sie sagt, was sie nicht will, aber was sie will, sagt sie nicht.

- Kompliziert.

- Sie spielt ständig solche Schlager wie "Muss es denn sein, so sag' ich nicht nein, doch nicht besonders rühmlich ist deine Hilfe für mich".

- Hilfe wobei?

- Im Haushalt. Ach ja, ihr Spitzenschlager heißt: "Den ganzen Tag bin ich auf Arbeit, und keiner hilft mir."

- Auch sonntags?

- Heute habe ich zum Beispiel den Tisch gedeckt und das ganze Geschirr gespült.

- Musst du auch im Schlaf lernen?

- Sehr witzig! Ich muss jetzt mal schauen, was ich nicht lerne. Oh, oh, oh! Er kommt die Treppe hoch. Bis dann!

- Bis bald! Wuh-hu-hu-huh!