31. Dezember 2022

Technische Individuation


 
Olivier Del Fabbro – Philosoph und Medienwissenschafter mit aktueller Oberassistenz der Professur für Philosophie an der ETH-Zürich – untersucht die Individuationsontologie des französischen Technikphilosophen Gilbert Simondon (1924–1989) im Kontext von Wissenschaftsphilosophie, -geschichte und Pragmatismus. Es geht um die Auswirkungen von Philosophie, Wissenschaft und Technik auf das Individuationsparadigma. Weiters geht es um die wissenschaftshistorischen Einflüsse von Anaximander (die Vorsokratik), Aristoteles und René Descartes auf das Werk von Simondon. Der Autor will aufzeigen, wie Simondon „genau vorgeht, um sein eigenes abstraktes Paradigma der Individuation zu entwerfen“ (27). Kybernetische Begriffe wie Information, Metastabilität, Operation, Struktur, System oder Transduktion spielen dabei eine wichtige Rolle, um den philosophischen Begriff der Individuation neu auszulegen (17). Durch den Rückgriff auf die Kybernetik lassen sich alle möglichen technischen Objekte als informationsverarbeitende Systeme sehen, was für eine Objektontologie nicht folgenlos bleiben kann. Schließlich wird untersucht, wie Simondon Individuationen des Physikalischen, des Chemischen, des Lebendigen, des Technischen, des Psychischen und des Sozialen beschreibt. Folgenden Fragen geht das Buch dabei nach: Kann die Objektontologie von Simondon als eigene Philosophie gesehen werden? (10) Kann die vorgestellte Philosophie als pragmatistisch betrachtet werden? (11) Wie verlaufen technische, lebendige oder auch psychosomatische Individuationen? (27 f.) Wie können technische Objekte nachhaltig in ihre assoziierten Milieus integriert werden? (280)

Inhalte
Der Autor verarbeitet zahlreiche Texte von Simondon, die bis jetzt nur in französischer Sprache vorliegen. Die Arbeit ist methodisch eine hermeneutisch-werkimmanente Lektüre von Simondons Theorie, keine philosophiehistorische Arbeit, die Diskurse diskutiert. Sie diskutiert – bis auf den Pragmatismus – nur Autorinnen und Autoren und Texte, die Simondon selbst diskutiert haben. Dazu ist es nötig, mit einer ganzen Armee von eigens entwickelnden klärenden Begriffen die Prozesse lebendiger, psychosomatischer und physikalisch-chemischer Individuation näher zu bestimmen. Stoff, Form, Struktur, Information, System, Modulation, Metastabilität, Aktualisierung, Potenzialiät, Transduktion, Anpassung, Differenzierung, Integration, Norm, Wert, Vermittlung, Kausalität, Isomorphie, Potenz oder Akt dienen dem Autor dazu, sich der aus einem komplizierten diffizilen Vokabular aufgebauten Technikphilosophie Simondons anzunähern. Allagmatik, Existenzweise, Individuation, Konkretisation, Transduktion, Technische Mentalität oder der Unbestimmtheitsgrad von Maschinen sind einige Beispiele aus dem Vokabular von Simondon. In der Ausleuchtung des psychosomatischen Individuationsprozesses legt der Autor auch Konzepte frei, die man zunächst nicht bei Simondon suchen würde: z. B. Affekt, Spiritualiät oder Emotion (239). Prozessphilosophie und Pragmatismus spielen in dieser Annäherung eine grundlegende Rolle, weil ohne sie die relationale Techniktheorie Simondons nicht zu verstehen ist. In der Ausleuchtung des philosophiehistorischen Rahmens über die Stationen Vorsokratik, Aristoteles und Descartes untersucht der Autor die Vorbedingungen zu Simondons Technikphilosophie.
 
Ziele
Ein Ziel des Buchs ist es zu zeigen, dass Simondons Ansatz nicht nur im Bereich des phänomenologischen „Was“ bleibt, sondern auch als pragmatische Philosophie verstanden werden kann (11). Simondon – der sich selbst nicht in der Tradition des Pragmatismus sehen würde – kritisiert, Objekte auf ihren bloßen Nutzen im Gebrauch zu reduzieren, und versucht, auch die Funktionsweise von technischen Objekten miteinzubeziehen. Insofern ergänzt Simondons Ansatz französische Wissenschaftsphilosophie und -geschichte durch eine pragmatische Herangehensweise (12 f.). Ein weiteres Ziel besteht darin zu zeigen, wie Simondon den Philosophien der Natur oder des Geistes eine reale Philosophie technischen Denkens gegenüberstellt. Philosophie entsteht in Ergänzung und während der Relation von Reflexion und Objekt, quasi erst im Zusammenwerfen von Reflexion und Operation, wie im gängigen Symbolbegriff (59). Simondon sieht die philosophische Reflexion als Symbolteil der jeweilig operierenden Objekte. Erst in der Koppelung von Reflexion und technischem Objekt entsteht ein „Zeichen“ oder eine Art Mikrowelt. Diese Koppelung steht für Simondon für eine „reale“ Philosophie, die nicht in narzisstischer Selbstverliebtheit die Dinge in ihrem diskursiven Spiegel betrachtet, sondern mit den Objekten gedacht wird (60). Also keine Praxeologie der technischen Handlung, sondern wo eine Axiologie der technischen Individuation.
 
Wissenschaftsphilosophisches
Einflüsse aus Anthropologie, Biologie, Zoologie, Medizin, Physik, Psychologie, Gestaltpsychologie oder Kybernetik mit Autoren von z. B. André Leroi-Gourhan, Adriaan Kortlandt, Kurt Goldstein, Louis de Broglie, Kurt Lewin, Wolfgang Köhler bis Norbert Wiener werden diskutiert, um das riesige Spektrum darzustellen, aus dem Simondon seine Individuationsontologie entwickelte. Gaston Bachelard, Georges Canguilhem, Jean Cavaillès, Henri Poincaré oder Léon Brunschvicg werden als Einflüsse französischer Wissenschaftstheorie diskutiert. Immanuel Kant, Georg W. F. Hegel oder Karl Marx bleiben bei Simondon nahezu unerwähnt (72). Gestützt auf Auguste Comte werden – ausgenommen die Mathematik und Philosophie – „Subjekt-Objekt-Beziehungen“ (42) für die Wissenschaften starkgemacht. Die Entstehung des Neuen wird damit vorsichtig auch der Seite des Materiellen zugeschrieben, weil Positivismus immer ein Objekt/Phänomen zum Ausgang hat. Gestützt auf Baruch de Spinoza wird der Gedanke entwickelt, das Mensch und die Technik aus der gleichen „ontologischen Ebene“ (289) herauswachsen. René Descartes Paradigma der Mechanik wird anhand einzelner Beispiele (u. a. Flaschenzug, Schalenmauerwerk) genau auf die Simondon’sche Begriffe hin untersucht, weil dieser auch als praktizierender Techniker mit der Mechanik ein prozessuales Paradigma geschaffen hat (27).
 
Erkenntnistheoretisches
Es wird gezeigt, dass es in Simondons Erkenntnistheorie darum geht, das „Verhältnis zwischen Struktur und Operation im Sein beziehungsweise in den Objekten zu bestimmen“ (62). Durch Individuationsgeschehnisse beim technischen Problemelösen rückt das, was Erkenntnis ausmacht, ganz nah an die Sphäre des Objekthaften. Es geht Simondon eher um sinnliche Erkenntnis, die auf einem hantieren und manipulieren von technischen Objekten fußt, als um Erkenntnis, die von immateriellen Phänomenen ausgehend gewonnen wird. Erkenntnisgewinn und Invention rücken hier in große Nähe zueinander, insbesondere deshalb, weil die Ausführungen von Simondon zum Erfinden, Konstruieren oder Entwerfen wertvolle Indizien dafür sind, wie erkenntnistheoretisch Neues in seiner Objektontologie entstehen kann. Durch das Erfinden nimmt ein technisch aktives Subjekt an der Technizität von Objekten teil (297). Auch dieser Prozess des Erfindens wird anhand der aufgestellten Begriffe durchdekliniert. Erfindung oder technisches Problemelösen bei Simondon hat immer mit Vermittlung und Transduktion von etwas zu tun (271, 283). Technische Vermittlung – zwischen Handlungsimpuls und Handlungsresultat – hat ein Handlungsziel (normative Komponente), welches durch ein Mittel/Medium oder eine technische Handlung (empirisch-kognitive Komponente) erreicht wird. Hier ist es spannend zu verfolgen, wo die Simondon’sche Erfindung verortet wird: beim praktischen Syllogismus des Aristoteles (vgl. Poser 2016, 18), d. h. A will B und weiß, dass B nur durch die Handlung C erreicht werden kann – also handelt A nach C, oder beim abduktiven Schlussfolgern, wo zu einer überraschenden Tatsache (Resultat, Medius) eine abdukte Hypothese gebildet wird (Fall, Minor), welche die Tatsache vor einem bestimmten Kontext oder einem Hintergrundwissen (Gesetz, Major) als schlüssig erscheinen lässt (vgl. Peirce 2000, 393; Aliseda 2006, 34). Entdeckt z. B. eine Ingenieurin oder ein Ingenieur, dass ein rotes Lämpchen nicht erlischt (überraschende Tatsache, Resultat), wenn der Motor auf Touren kommt (Hintergrundtheorie), kann dies möglicherweise an einem defekten Relais (Fall 1, Ursache 1) liegen, aber es können auch andere Ursachen (Fall 2, Ursache 2) der Grund sein (vgl. Müller 1990, 9).
 
Hylemorphismus
Entscheidender Ausgangspunkt für Simondon sind Individuationsgeschehnisse, wie sie unterschiedlich bei Anaximander und bei Aristoteles beschrieben wurden. Vorsokratisch gesprochen entsteht ein Individuum durch die Physis als Individuation aus einem Urstoff (Apeiron). Hylemorphisch gesprochen entsteht ein Individuum, weil eine Form als Akt die vorindividuelle Potenz aktualisieren muss. Simondon interessierte sich für den Punkt, an dem Philosophierende wie Beobachtende von außen auf technische Prozesse daraufblicken, d. h. sie beschrieben entsprechend dieser Perspektive dann technische Prozesse als etwas ihnen äußerlich Gegebenes, ohne selbst technische Subjekte zu werden (vgl. Simondon 2020, 35 f.). Vor diesem Hintergrund kann auch die Aussage, dass Handwerkerinnen und Handwerker nicht sagen können, warum das Feuer brennt, sondern „nur“ mit diesem arbeiten, auch als Teil des hylemorphischen Schemas gesehen werden (vgl. Aristoteles 1961, 37). Simondon bringt den Hylomorphismus zusammen mit einem Denken geprägt von der Vorstellung, dass manuelle Tätigkeiten von versklavten Menschen und unfreien Künsten ausgeführt werden, wobei Philosophierende diese Tätigkeiten lediglich in ihrem diskursiven Spiegel erblickten und beurteilten (24). Daraus folgt unmittelbar eine These zum Denken in Objekten: Vorsokratisch Denkende haben „frei“ gehandelt, weil sie mit Objekten und anhand von Objekten Phänomene der Natur erforschten, und dies nicht nur beobachtend-reflexiv (294). Simondons Kritik am Hylemorphismus ist nicht misszuverstehen als eine Destruktion im Sinne von Martin Heidegger (19). Vielmehr geht es ihm darum, den aristotelischen Hylemorphismus kybernetisch zu ergänzen (19).
 
Methodisches
Eine Leistung des Buchs besteht darin, zentrale Prozesse bei Simondon mithilfe der eingeführten Begriffe zu erklären. So kann gezeigt werden, dass z. B. die berühmte Simondon’sche „concretude“ – als Begriff zwischen „Konkretisierung“ (concretisation) und „Konkreszenz“ (concrescence) (Hart 1980, 6) – ein Prozess ist, der sich immer mit Struktur und Operation abspielt. „Konkreter werden die Objekte dann, wenn unterschiedliche Strukturen und Operationen derart miteinander verschmelzen, dass ihre gegenseitige Existenz von dieser Synergie abhängig wird.“ (208) Bei technischen Objekten mit wenigen oder keinen solchen Verschmelzungen oder Verwachsungen besitzt jede Struktur exakt nur eine Operation. Diese beispielhaften Überlegungen machen die Ausführungen auch anschlussfähig zur Untersuchung von synergetischen Funktionskoppelungen in den Konstruktionswissenschaften.
 
Urteil
Simondon entwickelte vielversprechende Begriffe, z. B. „technische Intuition“, „technologische Einstellung“, „technische Mentalität“, „technische Aktivität“, um das Werden von Mensch und Technik genauer zu fassen. Diese Begriffe werden in einer bejahenden Art und Weise diskutiert und exemplifiziert, was sie dann für eine nicht-reaktive Technikdiskussion so fruchtbar machen kann. Simondon entwickelte ja auch den Standpunkt, dass nur mit einer solchen fast an eine nicht-technokratische Ethik grenzende Begrifflichkeit eine Sensibilisierung der Menschen zu ihrer Technosphäre erfolgen kann (267 f. und 290). Ein Ansatz, welcher z.B. von Anne Fagot-Largeault weitergetragen wird. Über Technik sprechen wie über ein Vogelherz, darin drückt sich auch ein Wunsch aus, Technik wertschätzender einzusetzen und zu behandeln. Diese Objektontologie lässt neben szientistischen Bestimmungen technischer Objekte, z. B. deren Wirkungsgrad auch ethisch-soziale Bestimmungen technischer Objekte, zu, z. B. material literacy, neumaterialistische Objektontologien, Objekt-Subjektbesetzungen, affektive Arbeit mit Objekten, Technikethik etc. (24). Interessant ist der Zusammenhang von mitunter auch feministischer Wissenschaftsforschung und der Arbeit von Simondon. Objekten in der Wissenschaftsforschung wird genau jener Status aus Werkzeug, Instrument und Information zuerkannt, den Simondon auch für technische Objekte einfordert (295). Dynamische Objektontologien, z. B. „Biofakt“ (Karafyllis 2003, 12), „Cyborg“ (Haraway 1995, 47 u. 59), „Inforg“ (Floridi 2007, 181-184), „Quasi-Objekte“ (Serres 1982, 228) oder „Spimes“ (Sterling 2005, 104 f.) helfen, die umfassenden Übersetzungen, Kodierungen oder Referenzierungen nachzuzeichnen.
 
Simondons technische Individuation schafft Anschlusspunkte zu aktuellen Tendenzen in  intersektionaler Technikforschung und technischer Bildung, wo Mini-Fabriken als technische Individuen fungieren können, und in Makerspaces, durch eine quasi aktive Beziehung zu Technik, eine stärkere technologische Individuation gefördert wird (21 und 24). Als Ergebnis der komplizierten Denkwege bei Simondon dann bricolieren, tinkering oder hacking (300 f.) präsentiert zu bekommen, zeigt, wie aktuell sein Denken ist, wenn es um Relativierung an Technokratie und der Re-Interpretierung des Marxismus durch historisch-materialistische Techniktheorien geht. Mit dem Rückgriff auf Hacking oder Critical Making wird das Werk von Simondon gepriesen (Mazzilli-Daechsel 2019; Bevilacquva 2019), aber auch annulliert, weil die reichhaltigen Diskurse dort ohne Simondon operieren und auch ohne Individuationsphilosophien zeigen, wie Techniknähe, technische Selbstkonzepte oder technische Bildung bei jungen Menschen gebildet werden können. Obgleich Simondon hier unbemerkt bleibt, bildet seine Theorie genau diesen Wunsch nach einer nicht-reaktiven technologischen Einstellung ab. Sein Philosophieren und Denken in technischen Objekten bedeutet immer auch Aufklären, und so endet diese Geschichte über Objektontologien mit Ausführungen über technische Bildung (301–304), denn vielleicht ist genau das ein Ort, wo noch mit (technischen) Objekten philosophiert wird. Weshalb das vielleicht als friedvolles Plädoyer gesehen werden könnte, wie wir in Zukunft mit technischen Objekten denken sollten, denn mit Simondon gesprochen gibt es „in der Kultur fast keine menschliche Aktivität mehr, die nicht durch Technik vermittelt ist“. (290)
 
Gert Hasenhütl


Del Fabbro, Olivier: Philosophieren mit Objekten. Gilbert Simondons prozessuale Individuationsontologie, Frankfurt: Campus Verlag, 2021. EUR (D) 45,00.
ISBN: 978-3-593-51401-7

Literatur:

Aliseda, Atocha: Abductive Reasoning. Logical Investigations into Discovery and Explanation, Dordrecht, 2006.
Aristoteles: Metaphysik, Die Lehrschriften herausgegeben, übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke, 2. Auflage, Paderborn, 1961.
Floridi, Luciano: The Future Development of the Information Society, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2007, Walter de Gruyter GmbH & Co. KG: Berlin, S. 175-187.
Haraway, Donna J.: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften, in: Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M. u.a., 1995.
Hart, John: Preface. On the Mode of Existence of Technical Objects, in: Simondon, Gilbert: On the Mode of Existence of Technical Objects , translated from the French by Ninian Mellamphy, University of Western Ontario, S. 1–10, 1980.
Karafyllis, Nicole C.: Das Wesen der Biofakte, in: Karafyllis, Nicole C. (Hrsg.): Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn, 2003, S. 11–26.
Mazzilli-Daechsel, Stefano: Simondon and the maker movement, in: Culture, Theory and Critique, 2019,
Müller, Johannes: Arbeitsmethoden der Technikwissenschaften. Systematik, Heuristik, Kreativität, Berlin u.a., 1990.
Peirce, Charles S.: Semiotische Schriften, Band 1, 1865–1903, Frankfurt a.M., 2000.
Poser, Hans: Homo Creator. Technik als philosophische Herausforderung. Wiesbaden: Springer 2016.
Simondon, Gilbert: Individuation in Light of Notions of Form and Information (orig: L´individuation à la lumière des notions de forme et d´information, 2005), Translated by Taylor Adkins, Minneapolis: University of Minnesota Press 2020.
Serres, Michel: The Parasite, Baltimore/London, 1982, p. 228.
Sterling, Bruce: Shaping Things, Cambridge, Mass., 2005.