31. Dezember 2022

‚Heim‘ und ‚Gast‘ im Gegenteil II

 

Kapstädter Impulse über das Unheimliche und Ungastliche von Sprache und Übersetzung (Teil II)


Bruno Arich-Gerz


Linguistic hospitality, das gleichzeitige Honorieren einer Sprache, die empfängt, und einer anderen, die im Handwerk des Übersetzens um Einlass bittet. Die lokale Sprache Deutsch hat in dem Sinn selten honoriert. Auch die Übersetzer:in, die Expert:in in beiden Sprachen mit ihren doppelt verpflichtenden Gastfreundlichkeiten, hangelt sich etwas praxisfremd am Ideal einer Demarkierung entlang, in der sich das Eigene und Heimische mit der fremden Sprache nicht vermischt.


Denn sonst wäre es – sonst würde es – unheimlich im Freudschen Sinn. Die andere Sprache würde in die Metropole der eigenen eindringen, sie würde unterhalb ihrer bewusstgemachten Strukturen reiten und vielleicht sogar ihre Gewissheiten untergraben, statt sich ihrer deutsch-lokal-sprachlichen Vormacht (Kearney: hegemony) zu unterwerfen. Es entstünde ein Mittelweg (middle road), der genau besehen ein neues Drittes ist.


Ethnolektales Deutsch, Kiezdeutsch oder ‚Kanak Sprak‘ wären so ein Eindringen. Ein unheimliches? Eher nicht, solange ihre Sprecher:innen zulassen, dass Proben des von ihnen geschaffenen sprachlichen Dritten gezogen und Korpora angelegt werden wie das ‚Kiezdeutschkorpus‘ KiDKo.


Tiefer dringt eine andere Varietät mit dem Entstehungsort Deutschland, Deutsch also als heimischem Idiom und afrikasprachiger Teilelternschaft, ein. In Kapstadt kam sie zur Sprache, eingefädelt von Helena M. Stock und Shusmeither Uaisiusa:
Oshideutsch.


Gesprochen wurde Oshideutsch von namibischen Vor- und Grundschüler:innen, die zwischen 1979 und 1989 in die damalige DDR kamen und dort regulär unterrichtet wurden. Ein Abkommen zwischen der South-West African People Organisation SWAPO unter dem ersten Präsidenten des unabhängigen Namibia, Sam Nujoma, und SED-Funktionär:innen bis hoch zur Ministerin Margot Honecker nach einem Angriff südafrikanischer Luftstreitkräfte auf ein SWAPO-Lager in Cassinga, Angola, im Mai 1978 war der Hintergrund für die deutsch-namibische Episode und bildete die Echokammer, in der Oshideutsch zuerst vernehmlich wurde.

Wie das von ihm Bezeichnete ist der Terminus Oshideutsch mischsprachig (und als Bezeichnung durchaus humorig) mit Anteilen der Unterrichtssprache Deutsch und solchen aus der Erstsprache der meisten Kinder, Oshiwambo, mit dem Wortauftakt Oshi für ‚Sprache der‘, hier der namibischen Ethnie der Owambo:
Oshideutsch.


In dieser doppelzüngigen lingua kommunizierten die exile children miteinander, ohne dass deutsche Lehrkräfte und mitgereiste namibische Erzieher:innen folgen konnten, weil sie eine der beiden Sprachen nicht beherrschten und auch keine Übersetzer:in zur Hand hatten. Es ging den Kindern ums Verbergen von Gesprächsinhalten, um kindliche Heimlichkeiten – um eine mutmaßlich globale Praxis und einen locus im Osten Deutschlands. Oshideutsch war eine glokale Praxis, zusammengefügt aus einander sehr fremden Sprachen: ein Kinderspiel und eine Geheimsprache ohne Code, was sie unterscheidet von den kindlichen Bi- oder Löffelsprachen. Auch sonst war sie ziemlich regellos. Aus keiner der Spendersprachen Deutsch oder Oshiwambo wurden entweder die Grammatik oder das Lexikon oder die Syntax übernommen, jede:r Sprecher:in löste es anders, individuell, situativ – idiosynkratisch.

Übersetzung von
‚Habt Ihr das auch mitgekriegt? Frischli kommt nach Namibia‘

ins Oshideutsch, von fünf Sprecher:innen:

(N.:) Omweshuda nala? Frischli oteya nach Namibia [= Syntax und Wortschatz/Lexik erster Satz: Oshiwambo]


(Ma.:) Anno habt ihr gehört nokusha? Frishli oteya nach Namibia. [= erster Satz: Mischlexik, Syntax angelehnt an Deutsch. Zweiter Satz Oshiwambo außer Präposition ‚nach‘, damit wie (N.)]


(J.:) Habt ihr das nahle mitgekriegt okutscha? Frishli otaya ko Namibia. [= erster Satz: Mischlexik, außerdem mit ‚nahle‘ = ‚nala‘ bei (N.): orthografische Variation. Syntax angelehnt an Deutsch. Zweiter Satz komplett Oshiwambo]


(Mo:) Omwa raus finden wie Frishli a kommen mo Namibia.  [= sehr freie Übersetzung, integriert Aussage von zwei Ausgangstext-Sätzen in einen]


(L.:) Omweshi mitkriegen ano? Frischli ota kommen ko Namibia. [= Wortbeugung von 2. Person Plural ‚mitgekriegt‘ im dt. Ausgangtext zu Infinitiv; Unterschied in Wortbeugung in Oshiwambo ‚omweshi‘ gegenüber ‚omweshuda‘ (N.). Beide Sätze mit Mischlexik, Oshiwambo ‚ota‘ (= Pronomen 3. Person Singular: ‚es‘, hier redundant: Frishli) ebenfalls orthographische Variation: ‚oteya‘ (N., Ma.), ‚otaya‘ (J.)



‚Habt ihr das auch mitgekriegt? Frischli kommt nach Namibia‘ in gleich fünffacher oshideutscher Übersetzung. Das ist eine Rarität und auf den ersten Blick ein Zuwiderhandeln. Eine Geheimsprache verrät man nicht, im deutschen Osten nach 1979 drang nichts an die Falschen, nur eine verdunkelnde Sprache an dadurch Ausgeschlossene, die heimischen erwachsenen Erzieher:innen. Oshideutsch war ein Gastnehmen und -geben von Oshiwambo und Deutsch. Ein sprachliches Heimlich- und Heimischsein, das Lehrkräften und Lokalsprachpuristen nicht geheuer sein konnte.


Im Jahr 2015, als die fünffach unterschiedlichen Übertragungen entstanden, hatte Oshideutsch seine Funktion und den Ort seines Auftretens gewechselt. Statt einer Geheimsprache war es zum identitätsstiftenden Marker einer Gruppe von Sprecher:innen geworden, die Ostdeutschland verlassen hatten. Im November 1989 ging die DDR unter und am Tag des Mauerfalls fanden in Namibia die ersten freien Wahlen statt. Knapp zehn Monate später, am 26. August 1990, brachte eine Maschine der Interflug die rund 430 jungen Afrikaner:innen von Frankfurt nach Windhoek. Oshideutsch reiste mit und blieb, weit entfernt vom Entstehungsort, die lingua franca der ‚DDR-Kinder aus Namibia‘.


Ein Zuwiderhandeln gegen das Geheime und Unheimliche einer glokalen deutsch-afrikanischen Sprache waren die fünf in Namibia entstandenen Variationen somit nicht mehr. Eine Seltenheit werden sie bleiben, denn anders als bei Kiezdeutsch wird es von ihr nie eine repräsentative Zusammenstellung, ein Korpus oder eine Grammatik seiner Regellosigkeit geben. Dafür haben zu viele Sprecher:innen die Nase voll von neugierigen Soziolinguist:innen. Auch N., der 2015 einer der fünf Frischli-Übersetzer war, zählt dazu. Einmal noch, dann ist Schluss, schrieb er mir nach Kapstadt:

Ich habe eine Email von der Helena erhalten und obwohl es mich langsam nervt immer wieder von Journalisten und Academics kontaktiert zu werden wegen meiner Vergangenheit, werde ich heute nach der Arbeit Ihre Saetze fuer Oshideutsch translaten. Ist ja alles fuer einen guten Zweck.

Darauf muss man es beruhen lassen (können). Unantastbarkeit ist je nachdem auch eine ethische Geste, ähnlich und doch widerstrebend zu der der auf sprachliche Gastfreundschaft bedachten Übersetzer:in. Bei denen, die Oshideutsch erfunden haben und praktizieren, werde ich nicht mehr anklopfen und um Einlass bitten. Es würde sich nicht gehören.


Dafür lässt sich versuchen, das Glokale noch einmal und auch zu denken als ein Verfahren an einzelnen Orten, eine Bewegung des ineinander Übersetzten von Sprachen: den Sprachen der Welt, die globalisiert sind im Sinn von einander nahegerückt durch Millisekunden-schnelle Translationsalgorithmen und mobile, migrierende Sprecher:innen, was Folgen hat für die Vorstellung von souveränen, ‚puren‘ Einzelsprachen.


Glokal in diesem Sinn wäre das Hybrid einer Heimsprache, in und an der andere Gast genommen haben jenseits von etablierten, wie langsam abgestorbene Metaphern oder wie irgendwann an- und eingebaute, domestizierte Lehnwörtern. Ist auch Standarddeutsch glokal? Nur ungern, wie die dauernde Problematisierung von Anglizismen zeigt, und mit Blick auf sein postkoloniales Gastgeben eher gar nicht. Glokal ist eher ein Deutsch am deutschen Ort, das sich heimlich und unbemerkt einquartiert, ohne Anspruch auf Erkennung und Anerkennung, und nur der limitierten Reichweite einer In-Group.


Wenn Oshideutsch damit glokal ist, ein regellos ineinander übersetzter Plural von Sprachen und eine geheimnisbewahrende Praxis, was heißt der erworbene und hier (= in diesem Fall, am deutschen Ort) funktionalisierte Bi- und Multilingualismus für das Übersetzen und diejenigen in der Regel Dritten, die es ausüben? Qua definitionem spielen sie keine Rolle, denn Gespräche auf Oshideutsch sind keine Ausgangstexte, die in einen Zieltext überführt werden sollen. Anders als Translanguaging und oder die von Elke Sturm-Trigonakis nicht erst in Kapstadt ins Spiel gebrachte (Neue) Weltliteratur mit einem ähnlichen Plural von Sprachen, die durch ihre Artikulations- oder Publikationsorte glokal werden, war das Oshideutsch der Jahre 1979 bis 1990 nach außen unübersetzbar. (Und auch heute fällt es schwer, selbst für den guten Zweck).


Das glokale Oshideutsch: ineinander übersetztes Deutsch (gastgebend) und Oshiwambo (gastnehmend), und zugleich unübersetzbar. Hier nisten nächste Überlegungen. Ist das glokale Oshideutsch nicht die Kehrseite und gleichzeitig Ausdruck einer ‚radikalen Heterogenität‘ nach Paul Ricoeur, einer Fremd-Sprachen-heit am Anschlag ‚nach Babel‘ (George Steiner), die nur noch einander Gast geben können, ohne ein Heim – und eine Übersetzer:in im Daheim – zu haben?

Es gibt ein erstes Unübersetzbares, ein Unübersetzbares am Ausgangspunkt, die Pluralität der Sprachen […], von der die Idee einer radikalen Heterogenität suggeriert wird, die eine Übersetzung a priori unmöglich machen müsste (Ricoeur, Vom Übersetzen).