31. Dezember 2022

PARTIE SOLITAIRE (FORTSETZUNG I)


Von Wolfgang W. Timmler



- Na, du! Wo waren wir stehen geblieben?

- Lass mich mal überlegen. Ich glaube, wir haben noch gar nicht angefangen.

- Nicht?

- Nein.

- Das kommt nicht oft vor, würde ich mal meinen.

- Mir passiert das ständig.

- Findest du das nicht merkwürdig?

- Nein.

- Ich schon.

- Anfangen ist gar nicht so einfach, wie du dir das vielleicht vorstellst.

- Dann erzähl doch mal, was dir gerade so durch den Kopf geht.

- Wieso?

- Einfach so.

- So, so.

- Und?

- Nichts und. Ich denke nach.

- Ach so.

- Heißt deine Freundin nicht Camilla?

- Nicht mehr. Ich spiele wieder Solitaire.

- Wieso das?

- Camilla war gezinkt, und als ich das merkte, habe ich sie wieder ins Spiel zurückgegeben. Umtauschen geht ja schlecht bei einer Herzdame.

- Hier steht aber, ihr seid noch Freunde.

- Wo?

- Facebook.

- Ich laufe gleich Amok!

- Im wirklichen Leben soll es Freundschaften tatsächlich noch geben, habe ich gehört.

- Ein wirkliches Leben gibt es seit Corona nicht mehr, schon vergessen?

- Du hast aber nicht vor, deswegen Amok zu laufen?

- Ich kann mich beherrschen, obwohl es heißt, mit mir sei nicht leicht auszukommen.

- Vielen Dank für die Warnung, Toby.

- Keine Ursache, Feh. Ein Meter fünfzig Abstand ist zurzeit ja Vorschrift.

- Über mich wird auch viel Unsinn erzählt. Angeblich will ich ständig im Mittelpunkt stehen, was aber gar nicht stimmt.

- Andere sehen das vielleicht anders.

- Es ist aber nicht wahr.

- Das kannst du nicht beweisen, Feh.

- Wieso sollte ich lügen?

- Wieso sollte ich dir glauben?

- Ich hatte einen Freund.

- Ich weiß.

- Woher?

- Rate mal.

- Keine Lust.

- Schulfunk.

- Dann weißt du bestimmt auch, dass er älter ist?

- Nein, das habe ich nicht gewusst, und ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht, aber ich vermute mal, er wurde plötzlich gescheit und hat mit dir Schluss gemacht.

- Nein, umgekehrt.

- Gratulation zur Emanzipation!

- Ich fand ihn eh zu klein.

- Meinst du jetzt zu klein oder zu kurz?

- Warum bist du so gemein, Toby?

- Ich bin nicht gemein.

- Ach nein?

- Ich bin außergewöhnlich.

- Wer hätte das gedacht?

- Du schätzst mich bloß falsch ein, Feh.

- Möglicherweise.

- Das heißt?

- Vielleicht.

- Sehr witzig!

- Findest du?

- Nein.

- Schade.

- Was meinst du mit „zu klein“? Du leidest doch selbst nicht gerade an Hochwuchs.

- Na ja, er ist ungefähr anderthalb Zentimeter kleiner als ich.

- Na und? Was ist daran so schlimm?

- Eigentlich nichts, außer dem kleinen Unterschied eben.

- Was wäre denn für dich die Ideallänge?

- Einsdreiundachtzig.

- Einsdreiundachtzig? Feh, Feh, Feh! Mir graut vor dir! Normale Leute würden sagen, ungefähr einsachtzig, aber du kommst gleich mit einsdreiundachtzig daher! Wenn das nicht oberschräg ist, dann weiß ich auch nicht! Wie steht’s mit einssiebenundachtzig? Oder wäre das wieder zu lang für dich?

- In der U-Bahn habe ich einen Kontrolleur gesehen, der war bestimmt zwei Meter groß.

- Mein Cousin ist über zwei Meter.

- Ist er Kontrolleur?

- Nein, dazu ist er nicht blöd genug.

- Ich habe eine Cousine, die ist höchstens ein Meter zwanzig groß.

- Wie alt ist sie?

- Sieben.

- Dann sind einszwanzig doch okay.

- Das stimmt auch wieder. Grrr!

- Was?

- Die Stilmittel bringen mich noch um!

- Ach ja?

- Ich kriege die einfach nicht in meinen Kopf.

- Deutsch kommt doch erst am Dienstag dran.

- Trotzdem kapiere ich nichts. Was zum Geier ist ein Oxymoron?

- Ich weiß nicht.

- Ich weiß. Jetzt kann ich auch das Wort noch nachschlagen! Ich dachte, wir hätten das erst bis Mittwoch zu lernen.

- Nein, bis Dienstag. Ich muss noch die Analyse und die Interpretation machen. Wie ich das hasse! „Wo der Schatten nur Schatten kennt.“ Woher soll ich wissen, was der Dichter damit sagen will? Das Gedicht hat er doch gemacht und nicht ich!

- Hast du es schon mit Silbenzählen versucht?

- Poesie ist doch keine Physik.

- Was denn?

- Angeblich Intuition.

- Wer sagt das?

- Frau Benedetto.

- Frau Benedetto habe ich mal in Zoologischen Garten gesehen, als sie noch nicht unsere Deutschlehrerin war.

- Im Zoo? Interessant. Das wäre ja ein neues Fachgebiet für sie.

- Sie war dort nicht alleine, ich glaube, gemeinsam mit einer Freundin.

- Ob sie noch Jungfrau ist, was denkst du?

- Sie ist eine Lesbe.

- Was?

- Mir kommt sie so vor.

- Du spinnst!

- Sie hat drei schwarze Hosenanzüge und fünf weiße Blusen.

- Und was beweist das?

- Dass sie eigentlich ein Mann sein will.

- Du lässt wirklich nichts aus.

- Außerdem sagt ihr Blick schon alles!

- Dann opfere dich doch.

- Du meinst, sie legt es darauf an?

- Gönn’ ihr doch den Spaß mit einer Abhängiglernenden. Was wäre daran so schlimm?

- Gar nichts.

- Und für dich wäre es eine einmalige Gelegenheit. Frau Benedetto ist reif und erfahren. Von ihr kannst du bestimmt noch was lernen. Sie kennt bestimmt alle Tricks.

- Warum opferst du dich dann nicht?

- Ich kenne die Tricks schon.

- Und? Kannst du Physik? Ich nicht.

- Ich habe die Aufgabe auch nicht ganz verstanden.

- „Die Welt wirkt rätselhaft und gehorcht doch bestimmten Gesetzen. Auf einem Spielplatz wiegen sich zwei Kettenschaukeln in der Morgensonne. Sie schwingen hin und her, als tanzten sie miteinander, bis ein Windstoß beide aus dem Gleichtakt bringt. Eine Schaukel bewegt sich nun langsamer, bis die andere sie überholt hat, und unvermerkt schwingen beide aufeinander zu und voneinander weg. Bisweilen will sich dieser zauberhafte Gegentakt jedoch nicht einstellen. Woran liegt das?“

- Wahrscheinlich ist die Aufhängung verkehrt wie bei Camilla.

- Ich habe Physik schon in der neunten nicht kapiert.

- Das ist aber gar nicht gut.

- Ich weiß, aber was soll ich machen?

- Wie wär’s mit Nachhilfe?

- Wegen Corona gibt es Nachhilfe nur online. Ich will aber nicht den ganzen Tag vor dem Bildschirm zubringen. Ich sehe schon wieder eine halbe Dioptrie schlechter.

- „Fernunterricht trübt den Durchblick. Die Bildungsministerin.“

- Ich bin aber auch selber schuld. Ich trage meine Brille zu wenig.

- Wie viel Dioptrien hast du?

- Zwei-fünf links und zwei-sieben rechts. Meine Mutter meint, ich solle schon mal für einen Blindenhund sparen.

- Gemein!

- Du sagst es!

- Wie teuer ist denn ein Blindenhund?

- Grrr! Woher soll ich das wissen? Wenn es so weit ist, kaufe ich einen bei eBay und gebe dir Bescheid.

- Dir traue ich das zu, Feh.

- Stell dir vor, gestern bin ich im Bett stundenlang Karussell gefahren. Das passiert mir eigentlich nie. Ich konnte deswegen lange nicht einschlafen.

- Weil du schwarzgefahren bist?

- Nein, Shi-sha, Shi-sha. Shi, Shi-sha, Shi-sha.

- Ach, so, dazu gehört das Karussell.

- Wozu?

- Zu ungesund.

- Rauchst du nicht mehr?

- Nein.

- Nie mehr?

- Ich denke nicht.

- Weswegen?

- Ladenschließung wegen Corona.

- Hö! Hö! Hö-here Gewalt!

- Du hast gut lachen.

- Gestern habe ich fast zwei Köpfe geraucht.

- Was hast du für Tabak?

- Banane, Kirsche und Orange, aber bis auf Orange schmeckt alles eklig.

- Ich hatte mir Traube geholt. Der Geschmack ist oberprimus.

- Hast du noch Shishakohle?

- Ja, aber sie brennt nicht so gut.

- Ich habe meine fast aufgebraucht und nur noch ein Stück.

- Ich habe noch zwei Rollen.

- Du Glückspilz!

- Ich könnte sie dir in den Briefkasten stecken.

- Das halte ich für keine so gute Idee. Unser Briefkasten ist nämlich weg.

- Du machst Spaß?

- Nein. Seit vorgestern ist er verschwunden, aber du könntest an der Haustür läuten. Die Klingel ist noch da.

- Dann sehen mich vielleicht die Nachbarn und rufen die Bullen.

- Du hast recht. Den Nachbarn ist alles zuzutrauen.

- Mir fällt jetzt auch niemand ein, dem ich sie geben könnte, damit er sie dir bringt.

- Das würde ich auch nicht wollen wegen des Kontaktverbots.

- Die Kohlenlieferung müssen wir wohl auf bessere Zeiten verschieben.

- Wer weiß, wann die wiederkommen.

- Sobald wieder reguläre Schule ist.

- Ich hätte nie gedacht, dass ich mich auf die Schule mal freuen würde.

- Wem sagst du das? Wenn ich mir aber vorstelle, was wir alles aufholen müssen, dann wird mir obermulmig zumute. Wie steht’s eigentlich mit Mathe bei dir?

- Mathe ist nicht schwer – bis auf die Funktionen.

- Funktionen finde ich einfach.

- Welche liegen dir mehr?

- Das kann ich so gar nicht sagen.

- Lineare Funktionen finde ich einfacher. Sie sind leichter zu lösen als Exponentialfunktionen.

- Für dich vielleicht. Ich komme mit beiden zurecht.

- Schön für dich.

- Das kam jetzt bestimmt wieder falsch an?

- Nein, wieso?

- Vergiss es! Das war nur so ein Gedanke.

- Zerbrich dir darüber mal nicht den Kopf. Ich finde mich eh schlauer als dich.

- Oh, la, la, la!

- Du hast vorhin gesagt, mit dir sei nicht leicht auszukommen.

- Korrekt.

- Wie hast du das gemeint?

- Na ja, irgendwie scheine ich für gewisse Leute sehr anstrengend zu sein.

- Auf mich wirkst du aber nicht so.

- Wie wirke ich denn auf dich?

- Anders eben, aber du kannst dir nicht vorstellen, woher das kommt, das Anstrengend-Sein?

- Ich habe nicht die leiseste Ahnung.

- Ich vermute jetzt mal, das heißt, ich kann auch völlig danebenliegen.

- Mmh.

- Auf mich wirkst du sehr stolz.

- Deswegen muss ich aber noch lange nicht anstrengend sein.

- Ich versuche nur, etwas zu verstehen. Deshalb frage ich dich ja. Was denkst du, was es noch sein könnte?

- Sag du es mir.

- Wieso ich? Du kennst dich doch selbst am besten.

- Logisch.

- Du meinst wohl tautologisch?

- Ich habe keine Ahnung, auf was du hinauswillst, ehrlich.

- Zum Beispiel ist mein Cousin noch immer mit seiner Freundin zusammen. Ich frage mich, wie er das hinkriegt. Die beiden sind schon seit bald drei Jahren ein Paar. Wie schaffen sie das bloß? So lange würde ich niemals durchhalten und du doch auch nicht, oder?

- Nein, und weißt du auch warum?

- Warum?

- Du und ich sind einfach noch nicht reif dafür.

- Wofür?

- Für eine feste Beziehung.

- Meine Beziehungen reichen mir bis zum Jüngsten Gericht, Toby. In der Hinsicht habe ich keinen weiteren Bedarf.

- Solche Dinge passieren eben. Du bist jetzt irrsinnig verärgert, aber später gibt sich das wieder.

- Mein Cousin ist mit seiner Freundin zusammen, seit beide fünfzehn sind, aber ich habe bislang nur schlechte Erfahrungen gemacht. Ich verstehe das nicht. Wenn ich zurückdenke, könnte ich euch alle auf den Mond schießen! Ich meine jetzt nicht dich persönlich. Bei dir ist etwas anderes.

- Inwiefern?

- Du würdest ja niemals etwas mit mir anfangen wollen.

- Und wenn du dich irrst?

- In Bezug auf dich? Nein, niemals!

- Ein schlechter Apfel muss ja nicht gleich den ganzen Korb verderben.

- Mein Korb war voller schlechter Äpfel, das kannst du mir glauben, Toby.

- Trotzdem wäre es doch einen Versuch wert.

- Ja, klar!

- Feh, willst du mich heiraten?

- Toby! Das war ironisch gemeint! Nein, ich will dich nicht heiraten.

- Es müsste ja nicht auf der Stelle sein.

- Nein!

- Du bist einfach egozentrisch, Feh. Das ist dein Problem.

- Nein, nur naiv.

- Auch wahr.

- Es tut mir leid.

- Mir nicht.

- Nein?

- Nein.

- Wann bist du mal nicht gemein?

- Das Thema hatten wir schon, glaube ich. Nimm’s dir also nicht zu Herzen.

- Das werde ich bestimmt nicht tun.

- Bist du jetzt sauer?

- Nein.

- Ich bin ein Stalker. Dein Gesichtsausdruck verrät mir aber, dass du lügst.

- Ich habe die Rollläden runter.

- Du vergisst deine Webcam.

- Verdammt, Toby! Du hast mir gerade einen Mordsschrecken eingejagt! Jetzt habe ich doch den Deckel vom Laptop instinktiv zugeklappt, obwohl ich am alten PC sitze.

- So einfach ist das eben nicht, Feh!

- Sehr witzig! Ich bin für dich genauso unsichtbar wie meine Stimme.

- Ich meine das wirklich ernst. Ich bin ein Profi-Stalker.

- Mein Lügendetektorprogramm schlägt gerade voll aus. Woran liegt das wohl?

- Wackelkontakt.

- Da seh ich doch gleich mal nach. Ups! Das war der Netzschalter! Das tut mir jetzt aber wirklich kein bisschen leid, Toby.