4. Dezember 2022

Die Verhältnisse


sind. So. Derart enervierend-deprimierend, dass Menschen kaum noch Lust haben, überhaupt etwas zu … außer tunlichst die Klappe zu halten. Und schon gar nicht mit journalistischen Phrasen um sich zu werfen, wie „Clemens Schittko ist ein 1978 in Ostberlin geborener Autor, der als Gebäudereiniger und Verlagskaufmann ausgebildet wurde.“ Obwohl das zu stimmen scheint und in dieser KombiNation nicht soo oft vorkommt. Zumindest ist diese biografische Notiz in seinem neuen Gedicht- und Textband „SAG JA ZUM NEIN“, der im erstaunlichen Verlag Moloko Print erschienen ist, vermerkt. Bemerkt. Aufgemerkt. Der neben Jörg Fauser, Jürgen Ploog, Brion Gysin, Gottfried Benn, Georg Heym, Georg Trakl, Ed Sanders, Kiev Stingl auch Ditterich von Euler-Donnersperg aka Uli Rehberg im Programm hat. Zudem fungiert Moloko auch als Musiklabel.

Clemens Schittkos Texte und Gedichte entziehen sich dem Beschönigungs-, Verdichtungs- und Feelgood-VerDikt.at der Literaturszene, die inzwischen auch die Lyrik zu einem unreinen Lifestyle-Produkt verkommen lassen hat. Schittko schreibt seit über zwei Jahrzehnten dagegen an mit politischer Lyrik ohne Zeigefinger und Besserwissenschafts-Mentalität.

Oft sind es Listen des rüden Alltags: Über das, was sich im Portemonnaie des Autors  befindet. Über das, was dieser mag und was nicht. Über Verbotsschilder, gesichtet bei einer Fahrt durch Deutschland. Über „meine Siebensachen für einen Sommerspaziergang in Berlin“, VerbalHornungen von Lesungsabläufen usw. usf.     Reihungen, Repetitionen, Resteverwertungen. Eine insgesamt gesehen einfallsreiche Herangehensweise zur Materialgewinnung, -sichtung und -zusammenstellung.

„vorläufiges Endergebnis

wir haben bislang
alles getötet
was sterben kann
bis auf den Tod
der immer noch
lebt!“

Erstaunlich und auffällig oft fällt das Wörtchen „egal“ in den Texten. Ganz so, wie das, was der Volksmund gurgelt. Und damit übt Clemens Schittko Gesellschaftskritik auf beiläufige, anti-doktrinäre Weise, die in den Leser*innen nicht sogleich Fluchtimpulse auslöst.
    Man kommt sich unmerklich näher. Die Beziehung zum Buch, die zum Autor wird intim, schmucklos zwar, aber  … voller Details.
    Doch dann kann es auch hammerhart anstrengend werden, wenn Schittko den Leser*Innen seine ans neurotisch grenzenden Aufzählungen ins Hirn brettert, um allen Parolen paroli zu bieten. Und der Werbung. Und den Gebräuchen und Sitten im Gegeneinander, und der … egal.
    Da wird dem Lesen der Spaß ein- und ausgetrieben, der schamlosen Lust an der Unterhaltung Einhalt geboten. Gleich, wie man das Buch dreht oder wendet: Die Texte sind Vorhaltungen, Einhaltungen, Enthaltungen, Überunterhaltungen. Haben auf jeden Fall Haltung.

„Pullermann“, das Wort habe ich zuletzt 1968 aus dem Mund meiner Oma in Sellin auf Rügen gehört. Im Westen noch nie – bis auf dann natürlich, wenn diese Oma in Hamburch zu Besuch kam (siehe Gedicht „die Lösung“). Immer wieder „Pullermann“. Dabei geht es im Gedicht nur um eine Einlassung zu den Schwanz-ab-Fantasien von wo*manchen Gruppierungen.
    Fragen über Fragen … und keine Antworten. Jedenfalls keine hinlänglich Befriedigenden. Weil: Wo gibt’s denn so was von …?

„Apropos Identititätspolitik

Heiner Müller sagte einmal:
„Ich will nicht wissen, wer ich bin.“
Aber Müller war auch nur ein alter,
weißer, heterosexueller Mann.
Also vergessen wir am besten
das Zitat ganz schnell wieder.“

Das Aufbrechen der Gewissheiten bringt auch nur wieder ungewisse Wissenslücken zutage. Und das ist gut so oder so.

Der „Text ohne lyrisches Ich (es spricht das Gedicht selbst)“ ist auch super. Geht es hier doch um eine Aufforderung zum hemmungslosen Nahverkehr in vulgärsprachlicher Ausführung, die ganz geschlechtslos daherkommt, weil eben „Fick mich!“ ein genderübergreifender Ausspruch von ihm oder ihr sein kann. Plus allem dazwischen. Ein Universalgedicht für alle von allen. Vor allen und: vor.über und unter allem.

„das Nein-Gedicht“ ist eine Predigt, die das Leben erledigt. Und das Sterben. Den Tod. Und Nestle, Amazon, Ikea, Facebook, die USA und die Supermacht-Supermärkte … die sind all dessen Player.
    Was nicht aufgeführt wird, ist Russland. Das ist außen vor. Scheint entweder ein alter Irrglaube aus der DDR zu sein, der hier noch einmal auflebt, oder das Zitat einer Meinung, die Schittko zur Diskussion stellt. Beides möglich. Und so aktuell.

In „wer ich bin (20 Anläufe, um zu einer Biografie zu gelangen)“ werden Vorstellungstexte und Kurzbiografien von Personen, die auf Dating-Portalen stehen könnten, auf 5,5 Seiten versammelt, die ein Personal ins Buch holen, das … naja, einen Querschnitt durch die Bevölkerung darstellt, die Gedichte höchstens auf dem Bauch liegend im Freibad lesen.
    Ist das Realsatire? Treffen die Texte gar auf Schittko selbst zu? Alles ist ein bisschen so oder so. Und eventuell auch wieder egal?
    Gesellschaftskritik und die neue Wurschtigkeit lieben dich hier dicht beieinander, als gucke man TV wie im echten Leben. Beim letzten Satz dieses Textes „Man muss Dinge auch mal abwarten können“, habe ich zuerst gelesen: „Man muss Dinge auch mal abwerten können.“
    Kann man, muss man aber nicht.

„(kein Haiku)“ ist die längst fällige Korrespondenz zu dem beliebig changierenden Nichts, das Haikus manchmal innewohnt. Zumindest in der massenhaften Verbreitung durch mitteleuropäische Hobby-Verwässerungs- und VersalzungsartisttInnen:

„draußen scheint die Sonne
die Scheiben des ICE sind getönt
und eingeschaltet ist drinnen
die Beleuchtung“

Online-Kommunikation in den (a)sozialen Medien aufs Korn zu nehmen, wie in „Nachdem sich eine gewisse Maria (24) aus Berlin bei Tinder angemeldet hatte“, ist in diesen Zeiten durchaus sinnvoll, weil es eine Art Psychohygiene ist, die stärker wiegen kann, als das schöne Gefühl vermittelt durch lyrische Erbauungsunternehmer-Profis.

Ach ja: Seite 143. Kenne ich!

Und immer wieder Satzfetzen alltäglicher Nichtkommunikation, Kommunikationssurrogate, Kommentare auf Social Media-Posts, Verständigungsschwierigkeitsexzesse, BlaBla und Blubb, die demaskiert, maskiert und wieder demaskiert werden als Nullstellen und Unsicherheiten im menschlichen Unter- und Über-, Mit- und Gegeneinander.

Im anderthalbseitigen Poem
„es ist nicht meine Schuld,
dass ich hier jetzt vor euch sitze,
um mich zu verteidigen“

heißt es in den letzten drei Zeilen:

„mir ist immer das Falsche widerfahren,
sodass man jetzt allenfalls noch sagen kann:
dieses Falsche ist fast schon wieder richtig“

… tritt das Schicksal eines ehemals ganzen, halben Landes auf und ab. Was so traurig wie ergreifend ist. Ein hartes Los, für die Dauer einer Minute bewohnbar gemacht.

Die Illustrationen steuerte M P Landis bei. Bye.

                                                                                                                 Carsten Klook



Clemens Schittko: SAG JA ZUM NEIN
Moloko Print 178
ISBN 978-3-948750-84-8
15.- Euro