4. Dezember 2022

Partie solitaire

 

Von Wolfgang W. Timmler

 

- Ta-daah! Der Till ist da!

- Hey, Till. Hast du morgen schon was vor?

- Ich fahre Angeln mit meinem Vater.

- Schade! Ist das denn erlaubt, zu zweit?

- Ich denke schon. Wir sind ja eine Familie.

- Wo fahrt ihr hin?

- An die Nordsee.

- Ich war auch schon an der Nordsee, aber nicht zum Angeln; zum Angeln fehlt mir die Geduld. Außerdem fürchte ich mich vor Fischaugen. Davon kriege ich Albträume.

- Ich bin auch kein großer Flossenfreund. Eigentlich mache ich die Angeltour nur meinem Vater zuliebe mit. Wo warst du an der Nordsee?

- In Cuxhaven, wo meine Tante wohnt. Meine Sommerferien würde ich aber dort bestimmt nicht verbringen wollen.

- Im Sommer machen meine Eltern nie Urlaub auf dem Alten Kontinent. Warst du schon mal in Amerika?

- Einmal. In New York.

- In diesem Jahr wollten meine Eltern eigentlich nach Israel fliegen. Und? Wie war New York?

- Kolossal, solange du keinen Hunger hast. In New York ist das Essen entweder sündhaft teuer oder furchtbar schlecht. Wann fliegt ihr nach Israel?

- Das steht noch nicht fest. Es kann sein, dass wir erst nächstes Jahr fliegen können, wenn sich die Lage beruhigt hat. Vorher geht es aber erst einmal mit Vatern an die Nordsee.

- Bis Corona war ich mit meinen Eltern fast jeden Sommer in Kroatien. Im Herbst waren wir dann entweder in der Türkei oder in Spanien.

- Ich war auch schon in den USA, in Florida. Das Essen dort hat geschmeckt wie frittierte Sternschnuppen. Das stärkste Land auf der Welt hat die schlechteste Küche von der Welt.

- In New York habe ich mich bei McDonald’s nur von Salat ernährt.

- Vorletztes Jahr war ich mit meinen Eltern in Ägypten. Bei 30 Grad am Strand zu liegen ist genau das Vergnügen, das mir hier bislang gefehlt hat.

- Wart’s ab! Bald hast du das Vergnügen auch hier. Mit Kerosin ... taute Grönland ... ich auf.

- Ich kann es kaum erwarten.

- Du Klimakiller, du! Übrigens habe ich das ganze Wochenende sturmfreie Bude. Meine Eltern sind aufs Land gefahren zu den Großeltern.

- Das bedeutet Party?

- Du meinst Partie solitaire: Gäste müssen draußen bleiben! Bist du nicht mit Scooter befreundet?

- Scooter zählt zu den Besten!

- Tatsache?

- Wart ihr beide nicht mal zusammen?

- Oh, mein Gott! Wer sagt das?

- Nicht? Das hat Scooter mir erzählt, als ich ihn fragte, ob er eine Feh aus der Zehnten kennt.

- Oh, mein Gott! Wir sind mal zusammen weggelaufen, mehr nicht!

- Sieh an, sieh an! Das macht er am liebsten.

- Was? Weglaufen?

- Übertreiben. Das ist so eine Spezialität von ihm. Trotzdem ist er ein Spitzenkumpel.

- Das freut mich für dich. Eigentlich wollten Scooter und ich nach Gretna Green, aber uns hat der Brexit einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Als EU-Bürger brauchst du für Schottland jetzt ein Heiratsvisum.

- Du nimmst mich auf den Arm?

- Das kommt darauf an, wie viel du wiegst.

- Bei mir hebst du dir garantiert einen Bruch, Feh. Ich bin schwer von Begriff.

- Ich frage mich, wieso Scooter dir nicht erzählt hat, dass wir auf der Klassenfahrt zusammen vor der Polizei weggelaufen sind?

- Ups! Das höre ich jetzt zum ersten Mal.

- Unter achtzehn darfst du auch in Polen kein Bier kaufen oder trinken.

- Ich habe an Polen auch keine guten Erinnerungen.

- Wieso das?

- Meine Eltern haben in Polen ein Ferienhaus, und als ich das erste Mal dort war, haben die Nachbarskinder mich mit „Heil Hitler“ begrüßt. Ich hatte denen überhaupt nichts getan, und meine Eltern doch auch nicht. Als Hitler in Polen einmarschierte, waren meine Eltern noch gar nicht geboren.

- Und du warst nicht mal angedacht.

- Nein, nicht mal das.

- Ich verstehe diesen Dauerhass auch nicht.

- Ich war nur die Dorfstraße entlangspaziert, mehr nicht. Ginge es nach den Polen, wäre Marie Curie auch schuld an Hiroshima und Nagasaki. An ihren Händen klebt doch Radium.

- Und Polonium.

- Und Polonium, richtig, Radium und Polonium. Das Ferienhaus haben wir übrigens noch.

- Wo?

- Wolin. Das ist eine Ostseeinsel in der Nähe von Swinemünde.

- Swinemünde sagt mir was.

- Wohin habt ihr noch mal eure Klassenfahrt gemacht?

- Nach Frankfurt an der Oder und Slubice. Zu dumm, dass die Klassenfahrt dieses Jahr ausfällt wegen Corona.

- Wie ich dieses Corona hasse! Bei mir wäre es die erste Fahrt in der 11. Klasse gewesen.

- Ich bin mal gespannt, was noch alles auf uns zukommt.

- Das bin ich auch.

- Ich finde mich jetzt schon nicht mehr zurecht und bringe ständig alles durcheinander.

- Das ist der Q-Effekt. Durch Wiederkäuen lernst du, was du nicht weißt, doch Wiederkäuen will gelernt sein.

- Ich vergesse blitzschnell. Ich bin Klassenbeste in Vergesslichkeit.

- Und ich Weltmeister.

- Was rätst du mir als Weltmeister?

- Lächeln, wie’s immer sich fügt. Trotz tausend Minuspunkten lächeln. Hast du dir schon mal den E-Roller von Scooter angesehen?

- Wie käme ich zu der Ehre?

- Scooter gibt gerne vor Mädchen damit an. Das Schrottding halten nur noch die Aufkleber zusammen.

- Scooter scheint ja ein toller Hecht zu sein! Wie lief es eigentlich am Freitag bei dir?

- Beschwerlich. Wir haben Vektoren durchgenommen.

- In Mathe?

- Nein, in Bio.

- Von Vektoren habe ich keinen blassen Schimmer.

- Bis Freitag ging’s mir genauso.

- Was machst du jetzt gerade?

- Ich gucke Fernsehen. Und du?

- Felicitas hört gerade Musik.

- Und? Wie ist dein Freitag gewesen?

- Perfektes Chaos! Beim Unterricht hat uns die Technik wieder alle fertiggemacht!

- Ihr Ärmsten! Wer ist Felicitas?

- Ich bin Felicitas.

- Ich dachte, Felicitas wäre deine Freundin?

- Wieso das denn?

- Du hast in der dritten Person geschrieben.

- Schreiben macht schizophren. Wusstest du das nicht?

- Nicht mehr um diese Zeit. Was meint der Arzt dazu?

- Ansichtssache. Was guckst du gerade? Sport?

- Nein, Nachrichten. Magst du Sport?

- Nicht als Schulfach.

- Wieso nicht?

- Zu viel Schikane.

- Ich muss am Montag übrigens zum Arzt.

- Oh, nein! Hast du dich angesteckt?

- Gott bewahre! Nein! Seit einem halben Jahr höre ich nicht mehr so gut.

- Wie das?

- Es ist ziemlich lästig, aber manchmal auch lustig. Meine Patentante meinte kürzlich, ich würde schlecht hören, weil ich falsch erzogen worden sei.

- Würde ich dich jetzt anrufen, würdest du das Klingeln hören oder nicht?

- Ich würde es hören. Ich bin ja nicht taub wie Beethoven. Ich weiß aber nicht, ob ich abheben würde.

- Beethoven würde das tun. Er war gut erzogen.

- Es kommt halt öfters vor, dass ich nachfragen muss, weil ich was überhört habe.

- Das tut mir aber leid! Dafür sehe ich nicht gut.

- Paradoxerweise höre ich auf Entfernung gut und in der Nähe schlecht.

- Bei mir ist es genau umgekehrt. Auf Entfernung bin ich blind wie ein Maulwurf.

- Dafür wirkt eine Brille weniger krüppelmäßig als ein Hörgerät.

- Das stimmt.

- Ich würde sagen, wir ergänzen uns.

- Meinst du?

- Weißt du schon, was du nach der Schule machen wirst?

- Etwas mit Reisen.

- Etwas mit Reisen stelle ich mir ganz schlimm vor.

- Das Etwas meine ich ganz bestimmt nicht! Was willst du denn mal werden?

- Lehrer.

- Im Ernst?! Du willst dein Leben lang zur Schule gehen?

- Ich bin halt konservativ.

- Du meinst, du hast nichts Besseres gelernt?

- Wieso wirst du nicht Reisejournalistin?

- Bloß nicht. Vielleicht mache ich nach der Schule ein Reisebüro auf, damit ich selber billig verreisen kann. Willst du später mal eine große Familie haben?

- Ich glaube nicht.

- Ein Kind reicht, denke ich.

- Ein Kind und ein Hausmädchen, falls das Kind den Müll nicht runterbringen will.

- Und bloß nicht Alleinerziehende sein. Alles, bloß das nicht! Hoppla! Bei meinem Laptop blinkt jetzt die Batterieanzeige.

- Dann machen wir besser Schluss für heute. Der Samstag ist sowieso gleich um.

- Etwas muss ich dir noch kurz erzählen.

- Schieß los!

- Unser Briefkasten ist weg. Ich weiß nicht warum, aber seit gestern ist er verschwunden.

- Lustig! Briefkasten verreist. Sehr lustig!

- Gute Nacht.

- Gute Nacht.