7. November 2022

Pflock des Augenblicks

 

Vom tierischen Gebundensein an den Pflock des Augenblicks. Lena Kuglers Habilitationsschrift Die Zeit der Tiere sichtet die Hybris des zeiterfindenden anthropos.


‚Die Zeit der Tiere‘, vermessen in der des Menschen. Was wissen wir – was können wir wissen – über eine mögliche chronos animalis? Wie ticken Tiere, wie ticken ihre Uhren? Was gibt es an Erwiesenem und was ist auf subjektive Art den animalischen Objekten Aufbeobachtetes?


Lena Kuglers literaturwissenschaftliche Sichtung der Indienstnahmen des nichtanthropischen nächsten Verwandten des Menschen versucht sich an einer Antwort. Die Zeit der Tiere – so heißt auch der Titel ihrer Habilitationsschrift – ist materialreich und Moderne-wissenschaftlich: eine akribische Zusammenschau diverser Anbindungen des Dinosauriers oder des Mammuts, der Fliege als Todeszeitbestimmungshelfer in der Forensischen Entomologie oder des klontechnologisch reproduzierten Pyrenäensteinbockkitzes an menschliche Maßgaben.
Es sind Anbindungen auch, und sehr wörtlich, an den Pflock ihrer jeweiligen onto- und phylogenetischen oder spezieschronologischen Zeitlichkeit. Tiere wissen anders als anthropoi nicht, dass es neben dem Präsens auch ein Präteritum gibt – das was war – und vor allem kennen sie keine Aussicht namens Futur: das was sein wird und was man antizipieren kann. Tod oder Keulung oder ‚afterlife‘ als endling (last of the species).


Als Archiv der Zusammenschau dient Lena Kugler der Kanon der Moderne. Da findet sich viel Nietzsche, von dem die Sache mit dem ‚Pflock des Augenblicks‘ stammt, daneben Wilhelm Raabe und außergermanistisch H. G. Wells, Jonathan Franzen, natürlich Jules Verne und als Fluchtpunkt in der jüngeren populärkulturellen Darstellung (und, wie oft betont, Herstellung) Michael Crichtons Jurassic Park als menschengemachte De-Extinction einer Gattung.


Die Non-Anthropoi – diese Tiere mit ihren bis jetzt nicht einsehbaren und damit ‚nach menschlichem Ermessen‘ verstehbaren Erfahrungen von Zeit, ihren Routinen mit Zeit – bleiben rätselhaft. Das ist, was dieses Buch so lesenswert macht.


Alle diese Tiere lebten nur individuell (ontogenetisch) als Vertreter einer bestimmbaren Spezies (phylogenetisch) und wurden vom Menschen der Moderne, diesem im 19. Jahrhundert ätzend werdenden, rubrifizierenden und klassifizierenden Biest, identifiziert als Vertreter von Zeitwissen according to his own definitional terms. Dinosaurier und Mammuts wurden zu Echoloten in eine definierte Tiefenzeit, als sich die Erkenntnis durchsetzte, dass ihre Fossilien älter sein mussten als die diluvische in der Bibel als Sintflut deklarierte paläontologische Zäsur. Schlüpfende Fliegenlarven indizierten danach präzise, weil man es irgendwann wissenschaftlich rekonstruieren konnte, ab wann ein toter homo sapiens tot gewesen sein musste. Und noch mal Zeitlichkeit und eine daraus abgeleitete Aussagekraft: Die abgezogenen Felle vom Ozelot ließen sich Anfang des 19. Jahrhunderts noch anders ausstopfen und damit konservieren als 1934. Die Jahrzehnte dazwischen sind Ausdruck eines augenfälligen wissenschaftlichen Fortschritts, den Lena Kuglers Buch zweifach covert: als Umschlagillustration ‚vorher – nachher‘. Und als implizite Aussage über die mitlaufende Differenz von ‚verdammt aktuell – warum dafür auf die modern classics und den Kanon zurückgreifen?‘.
 

Bruno Arich-Gerz


Lena Kugler: Die Zeit der Tiere. Zur Polychronie und Biodiversität der Moderne. Konstanz: University Press 2021: ISBN: 978-3853-9141-3

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