6. November 2022

Optimierte Körperwelten

 

„Ich bin Madame Bovary“, antwortete Gustave Flaubert, als man ihn fragte, wer die Romanfigur denn in Wirklichkeit wäre. Heute könnte die Aussage als Crossgender-Bekenntnis gelesen werden. Aber zeichnet sich nicht jeder gute Romancier dadurch aus, dass er sich in die unterschiedlichsten Figuren, selbst Tiere, Pflanzen, Dinge, hineinzuversetzen mag. So empfindet Virginie Despentes Subutex, an einen Baum gelehnt, diesen bis in die feinsten Verästelungen. Für mich das Sinnbild eines „menschlichen Stammbaums der Gefühle“, wie ihn ein guter Romancier kennt.

Und wie viele Ichs muss Marie Pohl (Künstlername Marijpol) gewesen sein, um diesen großartigen Comic-Roman (Hort) schreiben und zeichnen zu können?

Unter einem Hort versteht man im Allgemeinen eine Familien ergänzende und unterstützende Institution. Auch in Marijpols Hort geht es um die Frage, wie Menschen sich unterstützen und was sie zusammenhält. Dabei spielt anfangs der ideale Körper die Hauptrolle. In einer Wohngemeinschaft kümmern sich Petra und Denise um die Optimierung ihrer designten Wunschkörper. Petra, halb Schlange, und Denis, die erfolgreiche Bodybuilderin, vermarkten ihre Körper gewinnbringend auf unterschiedlichen Feldern der Schönheitsindustrie. Ulla hingegen, die dicke Riesin, verkörpert als Archäologie die Lust am Wissen. Als Wissenschaftlerin kümmert sie sich um die Vergangenheit. Symbolträchtig setzt sie Schönheitsideale vergangener Epochen zusammen. In der harmonischen Wohngemeinschaft steht Denise für die Gegenwart, Petra für die Zukunft, weil es eben noch nicht möglich ist, Tier und Menschen zu kombinieren, und Ulla für die Sorge um die Vergangenheit. Das klingt wie am Reißbrett konstruiert, hätte Marijopol es nicht geschafft, die Personen glaubwürdig von innen heraus und in ihrer Alltäglichkeit zu erzählen. Das ist ihre große Stärke – mit Unmengen von Design-Zitaten, auf unsere moderne Lebenswelterfahrung Form gewordenen Wünsche zu verweisen.

Als diese schöne neue Welt mit dem „In die Welt geworfen Sein“ dreier Geschwister in Berührung kommt, öffnen sich Tore zu neuen Gefühlswelten. Jörg, Dieter und Ilse versuchen, verlassen von der Mutter, in deren Messi-Wohnung zu überleben. Als die sechs sich begegnen, treffen verschiedene Un-Ordnungsprinzipen von Über-Lebensgestaltung aufeinander. Dabei entstehen Gefühle einer umeinander besorgten Wahlverwandtschaft. Alle drei, Petra, Ulla und Denise, empfinden Empathie für die Kinder. Und diese Familienzusammenführung löst kurzzeitig einen Brechreiz aus. Familie, so scheint es, steht hier plötzlich als heilsame Metaordnung im Raum. Und, egal wie perfekt du deine noch so elaborierten Wünsche erfüllst, der wahre Wunsch nach Familie und Muttersein erscheint bei aller Diversität als Urwunsch, so eine mögliche Lesart. Doch zum Glück gibt Marie Pohl der Geschichte eine weitere Wendung, sodass man sie unerlöst verlässt und sich diese noch lange in einem weiter erzählt.

Hort ist derzeit der beste Comic-Roman zum Thema Gender, optimierte Körperwelten, Lifestyle, Kinderwunsch und Wunschkinder. Erzählt in psychedelisch verschleiertem Lila, wolkigen Schatten und weicher Linienführung, die den Leser in einer zwiespältigen Stimmung zurücklassen, zwischen Utopie und Dystopie.

Christoph Bannat


Marijpol: Hort

368 Seiten

2022
Edition Moderne (Verlag)
978-3-03731-242-1

https://www.editionmoderne.ch/buch/hort/