26. Oktober 2022

EIN ANDERES DENKEN


Ihr Vater sei gestern vom Dach gefallen, fünf Meter in die Tiefe. Das Spital habe er bereits nach einem Tag wieder verlassen. Er habe nichts, müsse arbeiten, äußerte er sich ungehalten, als man weitere Abklärungen machen wollte. Die junge Frau, die Tim im Englischunterricht davon erzählte, machte sich Sorgen über innere Verletzungen, doch sie wusste auch, mit ihrem Vater, einem Tabakpflanzer aus Sinimbu, war nicht zu reden. Werde einer vom Hund gebissen, sagte sie, und habe eine offene Wunde, gehe er nicht zum Arzt, arbeite einfach weiter. Tabakpflanzer seien so.


Sie hatte Agronomie studiert, war bei einem international tätigen Tabakunternehmen für eine große Anzahl Pflanzer zuständig, was mit sich brachte, dass sie sehr früh rausmusste und täglich stundenlang im Auto unterwegs war – der südlichste brasilianische Staat, Rio Grande do Sul, der an Uruguay und Argentinien grenzt, ist, bei einer Bevölkerung von elfeinhalb Millionen Einwohnern, knapp so groß wie Italien – und anschließend, so wollte es ihr Arbeitgeber, noch Englisch lernen sollte.


Offenbar war sie eine gesuchte Arbeitskraft. Sie habe gerade ein Super-Angebot aus Santa Catarina bekommen, doch ihr gefalle es, in Vera Cruz zu wohnen, ihrem Mann ebenfalls, sie wolle nicht weg. Was denn ihr Mann mache? Também tabaco.


Meist redete sie Portugiesisch. Es sprudelte nur so aus ihr heraus. Covid-19 habe ihre Arbeit viel schwieriger gemacht, einem Tabakpflanzer nicht die Hand zu geben, seine Frau nicht zu umarmen, sei fast nicht möglich, werde als Affront wahrgenommen. In einer Familie in Passo Fundo seien Vater, Mutter und Sohn an Corona gestorben, zurückgeblieben sei die Ehefrau des Sohnes, im sechsten Monat schwanger. Die Nachbarn unterstützten sie nach Kräften.Wie lebt sie damit? Indem sie sich beschäftigt, tut, was zu tun ist. Zu viel nachdenken ist nicht hilfreich, verdrängen auch nicht, es braucht etwas dazwischen, etwas, das man täglich und manchmal stündlich zulassen muss.


Delta und Omikron dominierten die Nachrichten. Abgesehen von den sogenannten Querdenkern, die die Grundrechte entdeckt hatten, von Freiheit schwafelten und damit Konsumieren meinten, gab es auch vereinzelt intellektuelle Stimmen, die sich kritisch zu den staatlichen Maßnahmen äußerten. Tim fehlte das Verständnis für solche Diskussionen; er hatte Regierungen noch nie für kompetent gehalten, nur war das in der Pandemie offensichtlicher als in „normalen“ Zeiten. Sie taten, was sie schon immer taten, versuchten also herauszufinden, woher der Mehrheitswind wehte. Die Epidemiologen sahen das anders, fragten, ob man das Virus bekämpfen oder die bestehende Ordnung schützen wollte. Die erste Variante verlangte schnelles und entschiedenes Handeln, die zweite Anpassungen, die möglichst niemandem wehtaten. Für die in den Medien präsenten Interessenvertreter, die ihre eigensüchtigen Instinkte für gesund hielten, war der Fall klar: Man würde doch wegen so eines dahergelaufenen Virus nicht einfach auf seine Privilegien verzichten, für die man schließlich lange genug hatte kämpfen müssen. Also nur keine Panik! Und überhaupt: So schlimm werde es schon nicht kommen.

Er sei geimpft, doppelt, doch in Bezug auf Kinderimpfungen sei er skeptisch, hatte ein Fachmann für Finanzen während des Unterrichts gemeint. Man wisse da noch viel zu wenig, ihm scheine es besser abzuwarten. Das Problem, entgegnete Tim, läge seines Erachtens anderswo. Einstein habe ja bekanntlich gemeint, man könne Probleme nicht mit demselben Denken lösen, das sie geschaffen hätten.
„Und was wäre ein anderes Denken?“
„Man könnte zum Beispiel mit unserem Weltbild anfangen. Dieses geht wesentlich davon aus, dass wir mündige Bürger sind, fähig zu verantwortungsvollem Handeln. Und das würde ich doch sehr bezweifeln. Ich jedenfalls bin von der Informationsschwemme völlig überfordert. Das war schon während des Wirtschaftsgymnasiums so, als ich mich noch motiviert in die Abstimmungsvorlagen zu Wirtschaftsthemen vertiefte, sie jedoch selten wirklich verstand. Wenn ich also nicht verstand, was ich gerade studierte, wie sollten andere und womöglich Dümmere, die kein Interesse an Wirtschaftsfragen hatten, das verstehen?“
„Keine Frage, wir sind überfordert, können vieles nicht wirklich beurteilen. Doch ich traue nun mal der profitgetriebenen Pharmaindustrie nicht.“
„Ich traue keiner einzigen profitgetriebenen Industrie, gibt es überhaupt andere? Auch der Lebensmittelindustrie nicht. Und trotzdem gehe ich im Supermarkt einkaufen. Und lebe erstaunlicherweise immer noch.“
„Doch was heißt das jetzt in Sachen Kinderimpfungen?“
„Ich glaube, Eltern sind völlig ungeeignet, für ihre Kinder zu entscheiden. Weil sie ihnen emotional viel zu nahe stehen. Nüchterne Entscheide sind von ihnen nicht zu erwarten.“
„Also sollen Experten entscheiden?“
„Sagen wir mal so: Ich setze mich seit zwanzig Jahren mit Fotografie auseinander und publiziere regelmäßig dazu. Das bringt mit sich, dass ich auch auf ganz viel sogenannte Expertise stoße. Es ist selten, dass sie mich beeindruckt. Es gibt aber eben unter Experten auch solche, die wirklich was draufhaben. Von denen lasse ich mich gerne anführen, ihnen folge ich oft mit Gewinn.“
„Ich muss also selber Experte sein, um Experten richtig einschätzen zu können?“
„Das könnte man aus meinen Ausführungen durchaus schließen, doch ich meine etwas anderes. Die meiste Zeit meines Lebens war ich der Meinung, dass, wenn ich etwas nicht verstehe, es an der Erklärung bzw. am Lehrer liegt. An mir sicher nicht! Schließlich war ich nicht auf den Kopf gefallen, zudem interessiert und lernwillig. Und trotzdem gab es ganz vieles, das ich nicht verstand. Chemie zum Beispiel. Oder Mathematik. Mein Vater, dem schleierhaft war, weshalb ich nicht begriff, was ihm leichtfiel, gab erschöpft auf und meinte, dabei schmunzelnd: Also ein Genie ist er nicht gerade! Ich selber ziehe Wittgensteins Einsicht vor, der meinte, es gebe Probleme, an die er nie herankomme, da sie nicht in seiner Linie oder in seiner Welt lägen. In Sachen Kinderimpfung meint dies: Ich verstehe dermaßen wenig von Immunologie und so ziemlich gar nichts von Virologie (ich wusste bis vor Kurzem nicht einmal, dass das ein Fach ist), dass meine Meinung irrelevant ist. Ich muss ganz einfach auf Menschen hören, die mehr davon verstehen als ich und denen eine nüchterne Betrachtungsweise eigen ist. Dazu kommt, dass wenn, sagen wir, 95 Prozent der Virologen ein und dieselbe Meinung vertreten, ich nicht auf die anderen 5 Prozent höre. Das ist keine Frage des Rechthabens, sondern der Wahrscheinlichkeit. Und nicht zuletzt: Ich kann gar nicht leben, ohne auf andere zu vertrauen. Das tue ich übrigens auch auf anderen Gebieten, in denen ich mich nicht auskenne. Wenn ich etwa zum Augenarzt gehe oder trotz Flugangst ein Flugzeug besteige. Ich denke, bei dieser Impfverweigerung geht es um tief liegende Lebens- und Todesängste, die viele sich nicht zugeben wollen.“

Aus:
Hans Durrer
Auf der Flucht vor dem Augenblick
neobooks 2022