Gesammeltes Ersetzen
Ein Hörfunkmitarbeiter erhält den Auftrag, für einen Radiobeitrag das G-Wort durch ‚jenes höhere Wesen, das wir verehren‘ zu ersetzen, weil ‚Gott‘ seinem Verfasser nicht mehr zeitgemäß erscheint. Im analogen Milieu westdeutscher Funkhäuser der 1950er geschah so was durch Herausschneiden und Einkleben auf dem Tonband. Nebenbei sammelt der Mitarbeiter andere Schnipsel dieser Art – nicht den Ausschuss des ersetzten Worts, sondern Redepausen und das Schweigen der Sprechenden.
‚Doktor Murkes gesammeltes Schweigen‘ erschien 1955 als Kurzgeschichte in den Frankfurter Heften. Mit ihrem Autor Heinrich Böll tritt die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo (Adas Raum) nun in einen fingierten, weil postumen Dialog. Herausgekommen ist ein wunderschön aufgemachtes Büchlein in der Hamburger Edition Zweifel, in dem ebenfalls viel überklebt, ersetzt und das Schweigen in Bölls Vorlage und Otoos Replik sichtbar gemacht wird.
Die grafische Umsetzung – statt ‚Gott‘ das ‚höhere Wesen‘, jeweils markiert durch weiße Schrift auf schwarzen Rechtecken – ist der erste Clou des Buchs. Er bereitet den zweiten vor: Otoos eigene Sammlung von Geschriebenem und Verschwiegenem, Ersetztem, weil Verletzendem. Wie um ein geschwärztes Zentrum dreht sich vieles nicht um das G-Wort, sondern einen Begriff, dessen Verwendung für afropäische Menschen im deutschen Sprachraum eine Zumutung und sein Verschwinden ein Anliegen ist. ‚Ich weiß jetzt schon, dass ich in meinem Beitrag nicht über das N-Wort schreiben werde‘, heißt es mit der gleichen Ambivalenz, mit der Schweigen immer auch etwas sagt.
Die Brücke zu Böll schlägt Otoo über Zitatfundstücke von Ijeoma Umebinyuo, Olivia Wenzel oder Philipp Khabo Köpsell, die recht assoziativ in ihre Ausführungen geklebt sind, und ein Nachdenken über zwei Aussagen des Literaturnobelpreisträgers von 1972 über die Verantwortung des Schriftstellenden gegenüber der eigenen Sprache. Im Dialog von Otoo und ‚F.‘, einem Romancier der Gegenwart, erscheinen Bölls Aussagen widersprüchlich. Einmal geht es darum, ‚diese Sprache zu hüten und sie auch zu reinigen‘, an anderer Stelle klingt das Hüten wie ein Gebot des Bewahrens und Nichtanrührens: ‚Man darf sozusagen die Worte nicht ihrer Erbschaft berauben‘.
Beides hat direkten Bezug zum geschwärzten, weil verschwiegenen oder ersetzten Wort. Ist es Aufgabe der afropäischen Schriftstellerin und ihres imaginierten Gesprächspartners Böll, Sprache zu reinigen oder sie als essentielles Etwas gegen Wandel zu konservieren? Wie markiert man zu reinigende, weil verletzende Sprache? Durch Überschreiben, ein Verfahren des Durchgestrichenen sous rature, ein Sagen des Schweigens?
Otoo scheint dies in Betracht zu ziehen. Als Lesende kann man sich in einem fingierten Brief an eine Figur aus Bölls Kurzgeschichte auf Spurensuche machen, in der ein Redebeitrag aus dem Deutschen Bundestag von 1952 zitiert wird ‚über den Antrag der SPD betreffend Uneheliche Kinder der Besatzungsangehörigen‘. Den Originalwortlaut der MdB Dr. Luise Rehling ‚habe ich mir erlaubt, an der einen oder anderen Stelle etwas abzuändern‘.
Zwei, drei weitere Ideen hat Otoo außerdem noch. Letztlich und durchaus strategisch läuft ihre Intervention aber ins Leere, auch weil ihr längst verstorbenes Gegenüber naturgemäß schweigt. Dass das gesammelte Schweigen der beiden ein lesens- und nachdenkenswertes Experiment in großartiger Buchdruckaufmachung ist, bleibt davon unberührt.
Bruno Arich-Gerz
Heinrich Böll, Sharon Dodua Otoo: Gesammeltes Schweigen, Hamburg: Edition Zweifel 2022, 18 Euro
ISBN 978-3-9824323-0-4
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