Das Fest
Vater ist tot. Er wollte nicht mehr, sagte meine Mutter. Er konnte nicht mehr, sagte meine Mutter. Herzinfarkt auf Bestellung. Nach nur einem Tag im Heim. Unruhig die Nacht verbracht, sagten die Pfleger. Morgens, sobald die Türen offen waren, rannte er in den Garten um dort seinen tödlichen Infarkt zu bekommen. "Er hat jetzt seinen Frieden", sagte meine Mutter. "Er hat einen Scheiß, DU hast deinen Frieden!", hätte ich ihr ins Gesicht brüllen sollen, hätte sie aber eh nicht begriffen, oder begreifen wollen.
Es war ja auch nicht mehr so leicht mit ihm, er hörte nichts mehr, er sprach nicht mehr. Aphasie? Demenz? Die Ärzte wussten es nicht. Jetzt braucht man es nicht mehr zu wissen. Bei seinem letzten Spaziergang in einer fremden Umgebung, hatte sich sein Herz ausgeschaltet. Die Arterien waren verstopft, sagte der Kardiologe. Er hatte ein Sportlerherz, sagte der Kardiologe. Anscheinend geht beides, Sportlerherz und verstopfte Arterien. Wozu dann ein Sportlerherz, wozu Sport? Meine Mutter pflanzt jetzt eine weiße Kamelie im Garten und sagt, das ist ihr Mann und dass sie ihn jetzt immer bei sich hat. Sie verliert langsam den Verstand, den sie vielleicht nie hatte.
Heute ist Beerdigung. Wobei, es ist keine richtige Beerdigung, es ist nur die Trauerfeier. Verbrannt und beerdigt wird er später. Wann ist mir nicht bekannt. Es geht auch nicht um ihn, es ist die Feier meiner Mutter. Sie will ihre Trauer öffentlich zeigen und zelebrieren. Als einziger Sohn habe ich zu erscheinen, sonst gäbe es Gerede, und Gerede ist Gift für die stumpfe Seele meiner Mutter, und das schöne Fest wäre verdorben. Ich bringe meine Frau mit. Meine Frau kennt sich mit Beerdigungen, sprich Trauerfeiern, viel besser aus als ich. Sie hat schon viele durchleben müssen. Wenn man im Bürgerkrieg aufgewachsen ist, geschieht dies zwangsläufig. Bei mir ist es erst die dritte. Die Beerdigung meiner Oma vor 34 Jahren, kaum noch Erinnerung, und die meines Onkels vor 25 Jahren. Ich war gegangen, nachdem ich mich ins Kondolenzbuch eingetragen hatte.
Die Veranstaltung beginnt vielversprechend; meine Frau wird nicht ins Beerdigungsinstitut hineingelassen. Sie hat zwar ihr Impfzertifikat dabei, aber leider ihr Portemonnaie mit dem Ausweis im Hotel vergessen. Ich sage der falsch lächelnden Dame – der Türsteherin –, dass ich ohne meine Frau der Feier nicht beiwohnen werde. Es interessiert sie nicht, bis sie erfährt, dass ich der Sohn des Verstorbenen bin. Rein will sie meine Frau dennoch nicht lassen, mich schon, ich habe Ausweis und Zertifikat. Sie ist korrekt. Wir stehen den hereinströmenden Trauergästen im Weg. Meine Frau und ich schicken uns an zu gehen. Meine Mutter erscheint auf der Bildfläche. Mit perfekt eingespielter leidender Miene bettelt und jault sie, doch bitte eine Ausnahme zu machen. Es funktioniert. Man gewährt uns Einlass in den Club und nimmt uns sogar die Mäntel ab. Sofort wird andächtig zum ausgeliehenen Sarg marschiert. Dort drinnen liegt mein Vater und hat keinen Einfluss mehr auf seine letzte Party. Die meisten Trauergäste haben schon Platz genommen in der kleinen Kapelle. Das furchtbare Foto meines Vaters, das meine Mutter ausgewählt hat, fällt mir als Erstes auf. Auf dem Bild steht er verzweifelt grinsend in einer viel zu großen billigen orangen Plastikjacke auf irgendeinem Strandweg, vermutlich auf Usedom, Rügen oder Sylt. Ich würde meine Mutter am liebsten drauf ansprechen, aber das hier ist nicht der passende Ort. Warum er in letzter Zeit immer so hässliche grelle Sachen trug, hatte ich sie zwei Monate vor seinem Tod gefragt. Sie entgegnete; damit die Autos ihn besser sehen, wenn er ohne zu schauen über die Straßen läuft. Das leuchtete mir ein; was mir aber nicht einleuchtete, warum sie so ein debiles Foto für die Feier ausgewählt hatte. Kaufhausmusik lenkt mich ab, die aus kleinen an der Decke befestigten Boxen dröhnt. Wäre zum Beispiel Bachs Matthäus-Passion nicht etwas passender? Ein junger Kirchenmann mit blonden Locken betritt die Bühne. Salbungsvoll blickt er auf die Trauergemeinde. Er beginnt mit einer Bibelstelle aus dem Neuen Testament. Ich höre nicht zu. Die Stühle sind unbequem. Meine Mutter sitzt grade und ehrfürchtig, also perfekt einstudiert da. Meine Frau sitzt zwischen uns. Das ist gut. Ich schaue den Kirchenmann an. Ich trage eine Maske. Auch das ist gut, so kann er mein Minenspiel, das ich kaum kontrollieren kann, nicht erkennen. Wir alle sollten die Masken ewig tragen, wenigstens hierzulande. Hartmut Rudolf war ein Bewegungsmensch, höre ich ihn plötzlich sagen. Ein abrupter Übergang von der Bibel zu meinem Vater. Hartmut Rudolf war gesellig, liebte Tennis und Verreisen. Das war’s, das war die Zusammenfassung eines achtundsiebzigjährigen Lebens, so wie meine primitive Mutter es sah. Wäre meine Mutter die Frau von meinetwegen Beethoven gewesen (vorausgesetzt natürlich Beethoven hatte eine Vorliebe für einfältige Frauen gehabt), hätte der lockige Kirchenmann nach dem Vorgespräch sicher verkündet: Ludwig mochte spazieren gehen und hörte gerne Musik, bis seine Ohren ihn leider im Stich ließen. Punkt.
Meine Mutter und mein Vater waren knapp fünfzig Jahre verheiratet gewesen und kannten sich außer einiger trivialer Vorlieben kein Stück. Zugegeben, auch ich kannte meinen Vater kaum, es hatte sich nie richtig ergeben. Meine Mutter kenne ich besser, jedenfalls so weit, um zu wissen, dass sie eine ängstliche, einfältige und schwache Frau ist.
Gedenken wir Hartmut Rudolf mit einem Lied, kommt es jetzt aus der Blondlocke heraus. Enya schmettert aus den Lautsprechern. Anstatt meines Vaters zu gedenken, habe ich die Überreste der Twin Towers, stolz dreinblickende New Yorker Feuerwehrleute, die von George W. Bush umarmt werden, und gigantische weißgräuliche Staubwolken vor Augen. Meine Frau und ich drücken unsere Knie gegeneinander. Auch ihr scheint die Absurdität der Situation nicht entgangen zu sein. Wann ist dieser groteske Zirkus zu Ende? Meine Mutter quetscht eine Träne aus ihren zugekniffenen kalten Augen. Die "Emotionen" überwältigen sie. Enya kommt zum Ende. Der Kirchenmann stimmt das Vaterunser an. Alle erheben sich. Überrascht stelle ich fest, dass ich es auswendig kann. Meine Mutter deutet uns mit einer unbestimmten Geste, ihr zu folgen. Wir gehorchen, schweben aus der Kapelle und erwarten die Trauergemeinde am Ausgang. Innerhalb von etwa fünfzehn Minuten reichen mir etwa fünfzig hinter Masken verborgene Menschen die Hand und bekunden ihr tief empfundenes Beileid. Ich nicke und bedanke mich artig. Dieser im Grunde sehr gesittete Vorgang wird nur durch meine schluchzende Tante gestört, die meiner Mutter zitternd und heulend in die Arme fällt. Nach den Schilderungen meiner Mutter, war es gerade diese Tante, die Monate oder auch Jahre vor dem Tod ihres Bruders ihm nicht mal einen Besuch abgestattet hatte, obwohl sie nur drei Straßen entfernt wohnte. Dann umarmte sie mich (meine Frau verschonte sie zum Glück) heulend und nach Knoblauch riechend. Wer zum Teufel frisst morgens schon Knoblauch? Ich stimmte ihr zu, dass alles ganz schrecklich sei, und sie entfernte sich endlich. Ein plötzlicher Hagelschauer erschütterte das Glasdach des Instituts und hinderte die Trauergemeinde daran, den Heimweg anzutreten. Die Straße war weiß und übersät von Hagelkörnern. Der letzte Akt meines Vater. Der Gedanke gefiel mir.
Jörn Birkholz