15. März 2022

Ray Monk: Wittgenstein

 

Die Originalausgabe dieser philosophischen Biografie, die zeigen will, „wie das Werk aus diesem Menschen hervorquoll“, erschien 1990, als ihr Autor gerade mal 33 Jahre alt war. Umso erstaunlicher, wie einfühlsam und differenziert, wie klug und, ja, lebensweise, er bereits auf den ersten Seiten die Familie Wittgenstein schildert. Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die überarbeitete und korrigierte Neuausgabe des gleichlautenden, 1992 erschienen Titels.

Ludwig Wittgenstein, geboren am 26. April 1889, war es schon früh um völlige Aufrichtigkeit („eine Moral, die von innen kommt, statt einem durch Regeln, Prinzipien und Pflichten aufgezwungen zu werden.“) zu tun, die allerdings ihren Gegenpart in seinem Drang hatte, es allen recht zu machen. Im Alter von 19 begab er sich mit dem Vorsatz, Flugzeugbau zu studieren, nach Manchester, wo er Bertrand Russells Principles of Mathematics entdeckte, deren Leitmotiv war, „dass man die gesamte reine Mathematik aus wenigen logischen Grundsätzen ableiten kann. Mathematik und Logik seien also ein und dasselbe.“ Der junge Wittgenstein fasste den Plan, ein philosophisches Buch zu schreiben.

„Als Wittgenstein einen Mentor brauchte, benötigte Russell einen Protégé.“ Das Verhältnis der beiden war kompliziert und auch von Missverständnissen geprägt, nicht zuletzt, weil Wittgenstein sich weigerte, seine Grundprinzipien zu diskutieren. „Als Russell ihn bat, nicht apodiktisch zu behaupten, sondern auch zu argumentieren, erwiderte er, Argumente zerstörten die Schönheit des Gedankens.“

Von heftiger Unbedingtheit („Wittgenstein ging völlig in logischen Problemen auf. Sie waren sein Leben, daneben gab es nichts.“), mit fanatischen Zügen und imponierender Geradlinigkeit, so wirkt Wittgenstein auf mich. Alles an ihm scheint geprägt von einer ungeheuren Intensität – seine Angstgefühle, seine neurotischen Episoden, sein Entweder-Oder. Ein getriebenes Ego (ständig sucht er das Problem bei sich selbst), mit den zugehörigen Höhen und Tiefen, voller schöpferischer Impulse, die aus ihm hinausdrängen.

Wittgenstein liest sich ausgesprochen spannend, höchst lehrreich, und auch wunderbar unterhaltend. Immer mal wieder musste ich laut heraus lachen, so etwa, als sich Russell zu Wittgensteins Plan, zwei Jahre in Norwegen zu verbringen, in einem Brief an Lucy Donnelly äusserte: „Ich sagte, es werde dunkel sein, & er sagte, er hasse das Tageslicht. Ich sagte, er werde einsam sein, & er sagte, er prostituiere seinen Geist, wenn er mit intelligenten Menschen spreche. Ich sagte, er sei verrückt, & er sagte, Gott behüte ihn vor der Normalität“. (Das wird Gott bestimmt tun.)“

Ray Monk beschreibt Wittgenstein als manisch-depressiv und so ziemlich alles spricht dafür, dass diese Einschätzung zutreffend ist. Die Gefühls-Extreme und Ansprüche an sich selber – „Klarheit oder Tod – es gab für ihn keinen Mittelweg“ – waren wahrlich nicht gesund! Mir selber ging bei der Lektüre ständig das Thomas-Evangelium durch den Kopf: „Wenn Du hervorbringst, was in Dir ist, wird das, was Du hervorbringst, Dich retten. Wenn Du nicht hervorbringst, was in Dir ist, wird das, was Du nicht hervorbringst, Dich zerstören.“

Ein umgänglicher Mann war Wittgenstein beileibe nicht, über seine Grundüberzeugungen („Bessere Dich selbst – das ist alles, was Du tun kannst, um die Welt zu verbessern.“) galt es für ihn nicht zu argumentieren, seine Urteile waren oft schneidend. „Das Ärgste ist die Einleitung des Professor Postgate Litt.D.F.B.A. etc. etc. Etwas so Albernes habe ich selten gelesen.“ Doch ihn zu verstehen, war alles andere als einfach; auch Russell, so glaubte Wittgenstein, könne seinen Tractatus nicht verstehen.

So fasziniert ich von diesem Werk auch bin, gelegentlich lässt es mich auch zweifeln. Wenn etwa dieser Tagebuch-Eintrag Wittgensteins: „Die Furcht vor dem Tode ist das beste Zeichen eines falschen, d.h. schlechten Lebens.“ wie folgt kommentiert wird: „Das ist diesmal aber kein persönliches Credo, sondern ein Beitrag zum philosophischen Denken.“ Woher will Ray Monk das bloss wissen? Zudem: Jedes auf überlieferten Dokumenten nacherzählte Leben suggeriert eine Folgerichtigkeit, die das gelebte Leben, eine verwirrende Abfolge von Gefühlen und Gedanken, von denen wir nur wenige wahrnehmen, nun einmal nicht hat, weshalb denn auch dem schriftlichen Nachlass eine womöglich übertriebene Bedeutung gegeben wird. Und so picke ich mir die Aspekte heraus, die mir helfen, meine eigene Sicht auf die Welt zu erhellen. Und von diesen gibt es in diesem grandiosen Buch einige.

Ein Zweifler, der um die Wahrheit rang, unerbittlich, so kommt Wittgenstein mir vor. Die Unterscheidung zwischen Zeigen und Sagen ist für ihn zentral. „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Die weithin verbreitete Methode, mittels Diskussionen über Zweifel und Einwände sich Klarheit zu verschaffen, lehnte Wittgenstein ab, sobald, in den Worten von Rudolf Carnap, „die Einsicht durch den Akt der Inspiration gewonnen war.“

Die Inspiration, das Unsagbare, scheint mir, macht diesen Mann wesentlich aus, der die Praxis und nicht die Theorie für entscheidend hielt. „Die Praxis gibt den Worten ihren Sinn.“ Darüber hinaus betonte er die Vielfalt des Lebens. „Er dachte sogar darüber nach, als Motto für sein Buch ein Zitat aus König Lear zu verwenden: ‚Ich werd‘ dich Unterschiede lehren.’“

Wittgensteins höchstes Zeil war es offenbar, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Eine schwierige Aufgabe für jeden und jede, doch noch weit schwieriger für jemanden mit seinen Anlagen und seinem Temperament, der sich auch einmal als Gärtnergehilfe verdingte. „Wenn die Arbeit am Abend getan ist, so bin ich müde und fühle mich dann nicht unglücklich.“ Doch auch diese Therapie hat ihre Grenzen, nach wie vor fühlt er sich an die Welt der Düsternis gefesselt. Selten ist mir deutlicher gewesen als bei der Lektüre dieser überaus eindrücklichen Biographie, dass sein Wesen dem Menschen Schicksal ist.

In regelmässigen Abständen überfällt ihn das Gefühl, er sollte etwas Nützliches tun (Philosophie zu unterrichten, rechnete er nicht dazu). Während des Zweiten Weltkrieges bemühte er sich um eine Anstellung als Hilfsarbeiter im Guy’s Spital und wurde als Apothekenbote eingestellt. Sein Chef, später gefragt, ob er sich an ihn erinnere: „Ja, sehr. Er hat hier gearbeitet, und nach drei Wochen erklärte er uns, wie wir den Laden zu organisieren hätten. Wissen Sie, er war offenbar ein denkender Mensch.“

Wittgenstein, wie er von Ray Monk vermittelt wird, spricht mich vor allem deswegen an, weil er ganz anders tickte als die sogenannt Normalen, die bestenfalls gescheit sind: Ein Philosophieprofessor, der sich nicht mit anderen Philosophen befasste, Null-Sympathie für die etablierte, hochnäsige Orthodoxie hatte, ahistorisch und existenziell philosophierte und anstrebte, „die Perspektive des Blicks auf bestimmte Dinge zu ändern.“

Hans Durrer

 

Ray Monk: Wittgenstein
Das Handwerk des Genies
Klett-Cotta, Stuttgart 2021