MITTAGESSEN MIT K
Einmal im Jahr treffe ich mich mit K zu einem langen Mittagessen, bei dem wir uns regelmäßig bis in den späten Nachmittag über Gott und die Welt, doch meistens über Politik austauschen, denn K, den ich vom Studium her kenne, verdient sein Geld als Gemeindepräsident, was mit sich bringt, dass er in vielen Gremien sitzt und über wertvolle Einblicke ins lokale und regionale Geschehen verfügt – wertvoll meint, dass sie sich zu Geld machen lassen; er ist im Laufe der Jahre wohlhabend geworden.
„Was hältst Du davon, dass der Raiffeisen-Präsident dem unter Anklage stehenden Ex-Bankchef die Spesen fürs Strip-Lokal genehmigt hat? Und dieser oder sein Anwalt nun argumentiert, es sei alles legal gewesen, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen?“
„Formaljuristisch kommt er damit möglicherweise durch“, sagt K. „Und das ist problematisch, denn der Bürger akzeptiert solche Spitzfindigkeiten nicht. Und darunter leidet die Glaubwürdigkeit unseres Rechtssystems.“
„Ich selber war ja noch nie ein grosser Fan ,unserer‘ Rechtsordnung. Mir scheint sie nichts anderes als in Gesetze gegossene Absicherung von Privilegien, die zudem auf äußerst fragwürdigen Werten gründet. Denk nur einmal, wie wenig Platz der Abschnitt über Delikte gegen Leib und Leben im Strafgesetzbuch einnimmt und wie viel der über Vermögensdelikte.“
„Was natürlich auch daran liegt, dass Letztere immer raffinierter geworden sind.“
„Einverstanden. Aber trotzdem ...“
K. unterbricht mich. „Das Hauptproblem ist unsere immer komplexer werdende Welt. Zu der Zeit, als wir studierten, war es noch möglich, als Jurist Generalist zu sein. Heutzutage kannst du das mehr oder weniger vergessen, da musst du fast immer zu einem Spezialisten.“
„Das scheint mir überall der Fall. In der Medizin, der Linguistik, der Ethnologie. Für mich ist das hauptsächlich Arbeitsplatzbeschaffung. Nimm die Schulen: Zu unserer Zeit ging nur eine Minderheit an die Uni, heutzutage wimmelt es hingegen von Fachhochschulen und höheren Lehranstalten. Das liegt nicht an der zunehmenden Komplexität, das liegt daran, dass man nach Möglichkeiten sucht, um Geld zu verdienen. Alle diese Lehrer wären sonst arbeitslos. Und die Schüler kämen auf noch dümmere Gedanken, als Pubertierende eh schon haben.“
„Der Mensch muss sich eben irgendwie beschäftigen, sonst dreht er durch.“
„Schon, doch für mich ist für den Staat zu arbeiten allzu oft nichts anderes als legalisiertes Abzocken. Hast Du vom Treffen der Schweizer Bundeskanzlerin mit dem kalifornischen Gouverneur gehört?“
„Du meinst den Filmschauspieler, der wegen seiner Spanisch-Kenntnisse berühmt geworden ist? Hasta la vista, Baby?“
„Ja, genau den. Der während vieler Jahre im Spiegel seine Muskeln bewundert hat. Sie habe sich mit ihm 45 Minuten unterhalten und zwar, kein Witz, ich zitiere ihre Sprecherin: ,Es handelte sich um einen längeren Austausch über die Instrumente in einer direkten Demokratie zur Wahrung der Volksrechte.‘ Wenn ich so was lese, geht es mir genauso, wie wenn ich lese, der Raiffeisen-Heini kriege seine Strip-Lokal-Spesen ersetzt: Ich empfinde nicht nur Verachtung für diese Leute, sondern auch für das System, das sie möglich macht. Der für mich typischste Fall geschah vor einigen Jahren bei der UNO, wo ein höherer indischer Beamter seinen zahlreichen Familienmitgliedern lukrative Posten verschaffte und sich gegen seine daraufhin erfolgte Kündigung mit den Worten wehrte: ,Aber wieso sollte ich meinen Job eigentlich wollen, wenn mir das nicht zusteht.‘“
K lacht. „Nach meiner Erfahrung ist das eher die Ausnahme.“
„Ein paar faule Eier, meinst Du?“
„Die gibt es eben in jedem System. Doch das System finde ich an und für sich tauglich.“
„Dann würde es nicht die falschen Leute anziehen.“
„Was meinst Du damit?“
„Leute, die Sicherheit suchen.“
„Das ist doch nicht verwerflich.“
„Es hat Nachteile. Denk an die Migrationsdebatte. Denk an Corona. Beides Ereignisse, mit denen unser System überfordert ist. Und ganz besonders die, die es vertreten. Beides Ereignisse, die den Mut zu sogenannt unpopulären Entscheiden verlangen. Und genau dieser fehlt Beamten völlig.“
„Von meiner Warte aus hat sich unser System bewährt. Selbstverständlich hat es Schwächen, wie alles von Menschen gemachte. Doch unseren ungeheuer differenzierten Föderalismus, der noch den absurdesten Anliegen Rechnung trägt, finde ich schlicht genial.“
„Nur dass er sich jetzt bei Corona als Katastrophe erweist, denn diesem Virus sind Kantonsgrenzen nun mal nicht bekannt. Ich finde, der Föderalismus müsste temporär ausgesetzt werden. Epidemiologen, die mehr wissen als ich, vertreten die Auffassung, dass ein drei- bis vierwöchiger Total-Lockdown, dem Virus den Garaus machen würde.“
„Für eine solche Maßnahme kriegst keine Mehrheit. Und ohne, dass du die Bevölkerung hinter dir hast, wird sie auch nicht greifen.“
„Genau das sehe ich als das Problem. Dass sich die Politiker bei den Wählern anbiedern müssen. Dass sie so recht eigentlich Verkäufer sein müssen. Adlai Stevenson, ehemals Gouverneur von Illinois und Präsidentschaftskandidat der Demokraten, meinte einmal, die Qualitäten, die einen zu einem erfolgreichen Wahlkämpfer machen, seien auch die, welche einen für das Präsidentenamt ungeeignet machten. Eine Auffassung, die die heutige Welt treffend beschreibt. Denk doch nur an diesen durchgeknallten Mafia-Immobilien-Heini aus New York.“
K schmunzelt. „Es gibt aber eben auch intelligente Leute, die der Auffassung sind, er habe einiges auch sehr gut gemacht.“
„Das ist das Problem mit intelligenten Leuten, sie sind häufig ausgesprochen dumm.“
„Das ist keine Antwort auf deren Argument.“
„Weil ich finde, es sei falsch, darauf einzugehen. Denn im Grunde vertreten sie eine Auffassung, der man keinen Raum geben sollte und die da lautet: Wer auch immer vertritt und durchsetzt, was ich will, was ich für gut und richtig halte, der findet meine Unterstützung. Ob das ein Psychopath, ein Soziopath, ein empathieloser Narzisst oder ein anderswie Durchgeknallter ist, interessiert mich nicht.“
„Nehme ich meinen politischen Alltag, dann komme ich mit Deiner Auffassung, man solle sich von fiesen Charakteren fernhalten, nicht weiter. Ich kann mir meine Gesprächspartner nicht aussuchen, ich muss mich wohl oder übel mit ihnen auseinandersetzen.“
„Tut Dir das gut?“
„Ich ertrage es, es gehört zu meinem Job. Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert.“
„Das sehe ich zwar auch so, doch Deinen Job würde ich mir nicht antun.“
„Er hat auch viele Seiten, die mir gefallen. So kriege ich etwa Einblicke in die menschliche Seele, über die ich nicht aufhören kann, mich zu wundern. An der letzten Gemeinderatssitzung zum Beispiel. Da ging es unter anderen um einen zweistelligen Millionenkredit für die Kläranlage, der ohne Gegenstimme gewährt wurde, Das Ganze dauerte eine Minute. Das zweite Geschäft betraf einen Garagenausbau auf einem Privatgrundstück, von dem ich annahm, er werde genauso reibungslos über die Bühne gehen wie der Millionenkredit. Doch plötzlich gingen die Wellen hoch. Was braucht der seine Garage ausbauen? Für ein zweites Auto? Wo hat er das Geld dafür her? Und so weiter. Geschlagene zwei Stunden dauerte es. Und dann wurde das Gesuch abgeschmettert.“
„Neid, Missgunst. Der Mensch ist böswilliger als ein Tier.“
„Solche Erfahrungen helfen mir, die Dinge nüchtern zu sehen. Keine großen Hoffnungen zu hegen, mich auf das Machbare zu konzentrieren.“
Aus:
Hans Durrer
Gregors Pläne
Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern
neobooks 2021