10. Dezember 2021

Labyrinthisch, chaotisch, unentschieden



Mit Die Eisbahn erscheint endlich ein neu übersetzter Bolaño-Roman, der nicht mehr seiner Frühzeit entstammt, sondern einen dezidierten „Wenderoman“ seiner Biobibliografie darstellt, der ihm 1993 die ersten Preise in Spanien einbrachte und der kein Fragment ist – abgeschlossen, selbstbewusst & mit ein paar Abstrichen so etwas wie ein erstes Meisterwerk. In der Grundstimmung seinem Dritten Reich verwandt, spanische Küstenstadt („Z“) zwischen Nacht und Tag, bevölkert von einigen wenigen Exzentrikern und einer bürgerlich dichten Masse anderer Menschen, die sich wie Bettenburgen zwischen die Handlung schieben. Dreifach gebrochen erzählt Bolaño aus dreier Protagonisten Sicht in kurzen, extrem lebhaften Kapiteln, die schneller zu Ende sind als einem lieb ist, von den intermittierenden Schicksalen Remo Moráns, Gaspar Heredia und Enric Rosquelles, die alle mit der Eisläuferin Nuria zu tun haben. Am heftigsten Rosquelles, der als korrupter Beamter für sie aus dem Abbruchgebäude Palacio Benvingut eine Eisbahn kommissioniert, auf der, wie für Bolaño typisch, ein Mord geschieht, der zwar nicht umfassend geklärt, dafür aber als Abgrundauge seiner Fiktion fungiert, sozusagen der Spiegel, in den es hinein & sehr gebrochen wieder heraus läuft.
„Manchmal, wenn ich morgens allein beim Frühstück sitze, denke ich, Polizist zu sein hätte mir gefallen können. Ich glaube, ich bin kein schlechter Beobachter, verfüge über kombinatorische Fähigkeiten und bin nebenbei ein begeisterter Krimileser. Falls das irgendetwas nützt ...“
Unterschiedliche Zeitebenen, Sprechweisen, Sichtweisen auf die Ereignisse werfen noir-artige Schattenlichter auf die Chronologie der Ereignisse, die sich verschwommen entstrudeln und gegen Romanende nur noch wie Erinnerungen schwach pochen. Zurück bleibt dieser eigenartige Ortsgeschmack, mit bekannten Betätigungsfeldern wie Campingplatz, Nachtwachen, Bars, Filme, eingestreute Gedichte und -fetzen, was Christian Hansen gewohnt souverän übersetzt hat. Das Buch ist zwar nicht mit dem größeren Atem der späteren Klassiker ausgestattet, doch macht gerade dieses knappe Zu-Wenig seinen Reiz aus. Wie auch im Lumpenroman, Naziliteratur in Amerika oder Amuleto weiß der Autor mit Form wie Inhalt zu bezaubern, ohne sich selbst über die erzählten Dinge zu stellen. Was fehlt, bleibt vielleicht, bei der ausschließlich männlichen Triosicht alles Gesprochenen, das Ferne, hier objekthaft gewordene der Frauencharaktere Nuria, Caridad u. a. in eigenen Stimmen näher zu bringen. Eine gewisse Unrundheit, die einigen Texten dieser Zeit (späte 80er Jahre, frühe 90er) ihr Gesicht verleiht. Es bleibt borstig.

Jonis Hartmann



Roberto Bolaño: Die Eisbahn, Fischer Verlag, Frankfurt 2021

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