10. Dezember 2021

V E R W Ä H L T


Von Wolfgang W. Timmler


Ich erzähle alles genau so, wie ich es selbst erlebt habe. Vor einem Monat sagte ich mir, so, jetzt fährst du mal wieder nach Berlin, das brauchst du für dein inneres Gleichgewicht, und außerdem hast du deine Schwester schon lange nicht mehr besucht. Kurz davor hatte hier unser Klassentreffen stattgefunden. Ich hatte mich zwar angemeldet, aber ich wusste gar nicht mehr, wer alles in meiner Klasse war. Ich hatte die Namen einfach nicht mehr präsent. Die Leute, mit denen ich während der Schulzeit gut befreundet war, wohnten nicht mehr hier, und mit den anderen aus meiner Klasse hatte ich keinen freundschaftlichen Kontakt. Ich ging dann doch nicht hin. Irgendwie war das Treffen nicht so mein Ding. Ich fuhr lieber übers Wochenende mit der Familie nach Italien. Das Treffen hatte unser früherer Klassensprecher organisiert. Ich fragte ihn, wer alles da gewesen sei. In der Zeitung erschien auch ein Artikel, aber der war so richtig saublöd: Mit vierzig noch voll fit! Als ich das las, war ich richtig froh, nicht dabei gewesen zu sein.

Der Klassensprecher erzählte mir, dass er mit dem Professor in Berlin telefoniert hätte. Der Professor war auch nicht zum Klassentreffen gekommen. Ich sagte mir, wenn du in Berlin bist, checkst du mal ab, wie es steht mit dem Professor, und wenn es noch so ist wie vor dreizehn Jahren, musst du vorsichtig sein, aber du rufst ihn auf jeden Fall an, bloß um zu hören, wie der gute Mensch drauf ist. Ich hatte hier kein Berliner Telefonbuch, und darum suchte meine Schwester die Nummer heraus. Als ich den Professor anrief, meldete sich eine Frau am Apparat. Ich dachte, es wäre seine Frau. Ich wusste ja, dass er verheiratet ist.

- Ich bin ein Schulfreund Ihres Mannes. Könnte ich ihn mal sprechen?

- Mein Mann ist gestorben.

Oh Gott, dachte ich, das war nun wirklich voll daneben. Die Frau sagte, ihr Mann sei an Blutkrebs gestorben, ganz plötzlich. Als ich das hörte, kam mir der Verdacht, der Professor könnte damals vielleicht eine Vorahnung gehabt haben, dass wir uns zum letzten Mal sehen würden. Als Psychologe neigt man ja dazu, weißgottwas für Zusammenhänge herzustellen.

- Ich komme jetzt ganz durcheinander. Kürzlich hat mein Bekannter mit ihm telefoniert, und ich bin mir nicht sicher, ob wir von derselben Person sprechen. Hat Ihr Mann auch das Helmholtz-Gymnasium besucht?

- Ja, das hat er.

Sie bestätigte es, aber ich hörte an ihrer Stimme, dass sie innerlich ganz aufgewühlt war. Ihr Mann war fast auf den Tag genau vor zehn Jahren gestorben. Darum reagierte sie auch so, sage ich jetzt mal, so gefühlsmäßig. Ich hatte das gleich bemerkt. Nach jeder Frage musste ich prüfen, konnte ich die nächste Frage noch stellen oder nicht? So in der Art. Wie ging's dann weiter? Ich war natürlich völlig fertig. Der Professor lebte nicht mehr. War tot. Gestorben. Ich ging raus auf den Balkon, rauchte ein paar Kippen und dachte an den Professor und die alten Zeiten. Ich hatte wirklich geheult. Nun war aber ganz wichtig, und darum ging die Geschichte auch weiter, ich hatte die Frau nämlich gefragt, auf welchem Friedhof ihr Mann begraben sei.

- Es war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen, anonym bestattet zu werden.

Als ich das hörte, wusste ich, das war genau sein Stil. Er verschwand einfach ins Nichts und ließ wieder alle Fragen offen. So hatte es der Professor immer gehalten. Es gab nur ein kleines Problem. Wenn der Professor seit zehn Jahren tot war, wie konnte dann der Klassensprecher mit ihm sprechen? Das war doch ein Ding der Unmöglichkeit. Irgendwas stimmte hier nicht. Ich rief den Klassensprecher an und sagte ihm, dass die Sache mit dem Professor doch recht merkwürdig sei.

- Du hast gesagt, du hättest mit ihm gesprochen.

- Habe ich auch. Er hat mich sogar gefragt, ob ich nicht in derselben Straße gewohnt hätte wie seine Freundin.

- Das gibt's doch nicht! Jetzt wird's ganz mysteriös.

Ich überlegte, ob der Professor und seine Frau vielleicht beschlossen hatten, in der Anonymität der Großstadt zu versinken. In Berlin war alles möglich. Ich nahm mir vor, ein bisschen Detektiv zu spielen, sobald ich in Berlin bin. Über die Auskunft erfuhr ich, dass es unter dem Namen noch einen anderen Anschluss gab. Ich war mir nun schon ziemlich sicher, dass der Professor lebte. Vielleicht sollte er für weißgottwen gestorben sein, aber es gab ihn noch. Aus Berlin rief ich den Klassensprecher an, um zu überprüfen, ob die beiden Telefonnummern identisch sind. Sie waren es nicht. Jetzt wusste ich, dass der Professor lebte, und inzwischen war ich auch davon überzeugt, dass er in der Anonymität versinken wollte. Ich nahm mir vor, der Sache auf den Grund zu gehen.

Nachdem ich mit dem Klassensprecher telefoniert hatte, fuhr ich zu der Frau. Ich wollte die Wahrheit erfahren, aber leider, oder zum Glück, je nachdem, wie man es betrachtet, war sie an dem Tag nicht zuhause. Ich hatte ein Grablicht dabei, das die Frau am Todestag vom Professor hätte anzünden sollen. Als niemand aufmachte, läutete ich bei der Nachbarin, um ins Haus zu kommen. Ich wollte das Grablicht bei ihr abgeben, doch wie es halt so ist in Berlin, ich kam zwar ins Haus rein, aber die Nachbarin machte die Wohnungstür nicht auf. Ich sagte mir, so ist Berlin, Furcht und Zittern allerorts. Im Treppenhaus traf ich dann zufällig die Hauswartsfrau. Ich fragte sie, ob die Frau vom Professor noch hier wohne.

- Sie ist gerade einholen gegangen.

- Eigentlich will ich ja ihren Mann besuchen.

- Sie meinen sicher den Sohn. Der ist vor kurzem ausgezogen.

Dass der Professor einen Sohn hatte, hörte ich zum ersten Mal, aber ich hatte es noch nicht ganz. Ich klingelte noch einmal bei der Nachbarin. Dieses Mal machte sie die Tür sogar auf, aber nur einen winzigen Spalt weit. Sie war richtig verängstigt. Ich wollte ihr das Grablicht geben. Sie schüttelte den Kopf und schloss die Tür.

Als ich nach unten ging, hätte ich beinahe losgelacht. Plötzlich war mir alles klar: Der Professor hatte keinen erwachsenen Sohn, und dass ein zehnjähriges Kind, denn als ich ihn zuletzt sah, hatte er noch kein Kind, also konnte sein Sohn höchstens zehn, zwölf Jahre alt sein, aber dass das Kind in dem Alter von zuhause auszog, war undenkbar. So etwas gab es nicht. Nicht einmal in Berlin. Nun löste sich alles auf. Das Mysteriöse wurde mit einem Male grotesk.

So war Berlin. Nur in Berlin konnte es solche Irrungen, Wirrungen geben. Nur in Berlin stand auf dem Türschild der Name eines Toten. Nur in Berlin hatte ein Toter einen Telefonanschluss. Dabei kostete es doch kein Vermögen, die Eintragung zu ändern. Warum hatte die Frau das nicht gemacht? Wollte sie etwas aufrechterhalten? Wollte sie verhindern, dass der Name ausgelöscht wurde? Als Psychologe hatte ich damit keine Probleme, aber wenn ich mir überlegte, was ich alles hineingelegt hatte in diese Person, in den Professor, dann wurde mir ganz anders zumute. Ich hatte Abgründe gesehen, wo keine sind. Und ich hatte meine Bekannten da hinabsehen lassen. Natürlich war ihnen dabei schwindlig geworden.

- Geh da nicht hin! Begib dich nicht in Gefahr!

Noch im Treppenhaus sagte ich zu mir, so, heute Abend rufst du den Professor an. Er war zum Glück zuhause, und wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Dreizehn Jahre sind eine lange Zeit. Er hatte sich verändert, zum besseren, würde ich sagen, obwohl das jetzt vielleicht ein bisschen selbstgerecht und überheblich klingt.

- Es freut mich, dass du noch lebst.

- Wieso? Hast du etwas anderes gehört?

- Ich muss dir eine Geschichte erzählen.

- Du hast eine Frau angerufen, und sie hat dir gesagt, dass ich tot sei.

- Genau.

- Die Geschichte kenne ich schon.





Illustration: Duo (SPRNGPL8.JPG / 640x640 Pixels / Foto: Autor)