28. Oktober 2021

Sofie

 

Eine Kurzgeschichte von Giorgi Ghambashidze


Auf der Terrasse eines Cafés, wo ich mich mit meiner Freundin, Claudia, niederlassen wollte, waren alle Tische besetzt, aber gerade, als wir im Begriff waren zu verzweifeln, wurde einer ganz dicht am Teich frei. Wir kämpften uns durch und ergatterten ihn.

„Sag mal, schaust du nicht in den Spiegel, bevor du rausgehst? Du hast ja Blut im Gesicht, igitt!“, herrschte mich Claudia plötzlich an, nachdem wir uns hingesetzt hatten.

Um dieses Problem zu lösen, ging ich kurz auf die Toilette und wusch mir die vertrockneten Blutflecken weg, aber die kleinen Wunden von meinem gnadenlos scharfen Rasierhobel waren tief; frisches Blut trat sofort hervor, an manchen Stellen sogar mehr als zuvor. So kehrte ich zum Tisch zurück.

Die Sonne, die jetzt einer überreifen Orange glich, versank erst hinter den Baumwipfeln und dann verschwand sie hinter den Bergen, den azurnen Himmel mit ihren sterbenden Strahlen purpurn bemalend.

Auf einmal roch ich tatsächlich eine Orange. Ich drehte mich in der Suche nach der Ursache um und sah am Tisch hinter uns ein kleines Mädchen, das an einem großen Glas Orangensaft unschuldig nippte. Ihre Eltern waren in einer lebhaften Konversation mit ihren Freunden verwickelt und schenkten ihr keine Aufmerksamkeit, die sie anscheinend sehr benötigte.

Ein viel zu sehr femininer Kellner kam auf uns zu und fragte, was es sein dürfe.

„Ladies first“, sagte ich ihm auf meine Begleiterin deutend.

Er war da offenkundig nicht meiner Meinung, aber was könnte er schon tun? Nachdem er die Bestellung aufgenommen hatte, verschwand er ganz schnell und nicht ohne Pathos in seinem Abgang.

Claudia sah verdutzt aus, sie zog ihre schmalen Lippen eng zusammen.

Ich schaute mich um, und die Atmosphäre des Abends transportierte mich gedanklich in einen Sommer, den ich noch als Jugendlicher mit meiner Familie verbracht hatte.

In der Nähe unseres Landkreises gab es einen kleinen, schönen Ferienort an einem See, dessen Name mir wie vieles andere entwichen war, wo man sich ein Gefühl des glücklichen Lebens einigermaßen verschaffen konnte. Diese Zeit hatte sich in mein Gedächtnis tief eingebrannt - wegen Sofie …

Wir mieteten eine Holzhütte am Rande des Waldes, nur wenige Hundert Meter vom Wasser entfernt, und ich musste ein Zimmer mit meiner kleinen Schwester teilen. Von Privatsphäre, die in der Pubertät das Allerheiligste ist, konnte keine Rede sein. Wir verbrachten die ganze Zeit am Ufer liegend, und es passierte am Anfang nichts, was mich in eine Art angenehmer Aufregung oder unruhiger Erregung versetzen konnte. Ich breitete mein blaues Badetuch etwas weiter von meiner Familie aus, legte mich hin und schloss die Augen. Ich wollte einfach allein sein. Ab und zu spürte ich den liebevollen Blick meiner Mutter, den ich nie erwiderte.

Am dritten oder am vierten Tag sah ich Sofie; erst ihren porzellanweißen Rücken und ihren kupferroten Schopf, um genauer zu sein. Aber es genügte, um mein Interesse zu wecken. Ich ging auf sie zu und nach vorne blickend setzte ich mich in Schneidersitz zu ihr, dabei tat ich so, als ob ich sie gar nicht bemerkt hätte. Sie saß direkt am See und hielt ihre zierlichen Füße im kühlen Wasser, das ich beneidete. Seitlich spürte ich, dass sie mich anschaute, aber ich wollte weiterhin meine Gefühlswallungen hinter vorgetäuschter Gleichgültigkeit verbergen. Unbeteiligt wirkend beschäftigte ich mich mit einem Grashalm, den ich gewaltsam ausgerissen hatte und jetzt wie ein unbekanntes Objekt studierte. Nach einer Weile wagte ich es doch, sie mir unauffällig anzuschauen und sah, wie ihr bewundernswertes Antlitz durch die Reflexionen der Sonnenstrahlen, welche die Wasserobefläche widerspiegelte, flüchtig und wellenförmig ausgeleuchtet wurde. Sie hatte viele  Sommersprossen im Gesicht; dieser Anblick raubte mir den Atem. Ihr sinnlicher Mund war ein bisschen offen, und ich bemerkte, dass sie eine Zahnspange trug. Natürlich wusste sie, dass ich sie beobachtete, ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem ätherischen Lächeln.

Eine warme Brise wehte aus dem Tal herauf und ermutigte mich ins Wasser zu gehen, aber es war viel kühler, als ich mir dachte. Ich ging bis zum Knie rein, und musste da anhalten; Gänsehaut überzog meinen ganzen Körper, dessen Zittern ich vergeblich zu verstecken versuchte. Ich spürte, wie ganze Wärme, die ich in mir hatte, mich allmählich verließ und wie ich im Gesicht ganz bleich wurde. Meine Zähne klapperten vernehmlich und ich bekam stechenden Schmerzen im Hinterkopf. In diesem Moment meiner völligen Resignation hörte ich zum ersten Mal ihre süße Stimme, die mich trostspendend streichelte: „Am Anfang ist es immer so, aber man gewöhnt sich ganz schnell daran.“

Ich drehte mich halbwegs um und verzog eine dumme Grimasse, die eigentlich ein naives Lächeln vermitteln sollte. Alles, was ich dazu sagen konnte, war ein gequältes, kaum hörbares „Ja.“

Sie stand auf und stellte sich graziös neben mich; ihre Körpermaße waren perfekt. Man konnte die blauen Adern durch ihre milchige Haut schimmern sehen. Ich vergaß sofort mein ganzes Unbehagen wie einen Albtraum, der von einem himmlischen Momentum vertrieben wurde. Sie schaute mir mit ihren honigbraunen Augen tief in die Seele hinein. Ich fühlte mich splitternackt vor ihr, aber es war mir absolut nicht peinlich, ganz im Gegenteil, es war wie eine langersehnte Heimkehr zu der Liebe meines Lebens.

Natürlich merkte sie, dass etwas Seltsames in mir vorging.

„Was hast du?“, fragte sie mich, ihren Kopf zur Seite neigend.

„Nichts“, log ich, mit Schamröte im Gesicht.

Sie nickte schwach, sie verstand alles.

„Komisch, ich habe mich so lange vorbereitet, aber es ist trotzdem ziemlich kalt, jetzt verstehe ich dich völlig“, sagte sie, mich betörend anlächelnd.

Ich schaute kurz zu meiner Familie hinüber. Meine Mutter hatte sich aufgesetzt und beobachtete uns unverhohlen. Ich wandte mich ab.

„Sind das deine Eltern und dein Schwesterchen?“ Sie war kindisch neugierig.

Ich bejahte.

„Ich bin mit meiner Mutter da“, sagte sie und deutete auf eine Frau, die in der Nähe auf einer Picknickdecke tief zu schlafen schien, einen umfangreichen Strohhut auf dem Kopf.
Auf dem Hügel in unserer Sichtweite stand eine Eisdiele. Ich lud sie zum Eis ein. Sie flüsterte es ihrer Mutter zu, während ich von meinem Vorhaben keinen informierte. Dem eindringlich fragenden Blick meiner Gebärerin entzog ich mich schnellstmöglich.

Wie immer, bestellte ich Schoko- und Bananenkugel in einer Waffel. Sofie nahm Himbeer- und Sanddornkugel im Becher. Ich war auf diese Mischung neugierig, und sie ließ mich diese probieren. Ich wollte mir einen Plastiklöffel holen, aber sie hinderte mich daran, indem sie mir ihren gab.
„Wir können doch mit einem auskommen, der Natur zuliebe“, sagte sie.

Nachdem ich es gekostet hatte, aß sie mit demselben Löffel weiter, was mich erstaunte. Es kam mir sehr vertraut, sogar erotisch vor. Es war mir, als hätten wir uns leidenschaftlich geküsst.

Wir sprachen viel, und sie erzählte mir, dass sie eine Tierärztin werden wollte. Selbst für die Fische hatte sie etwas übrig. Von ihr erfuhr ich noch, dass ihr Vater ein Irländer war, und dass er sie verlassen hatte.

Wir wurden unzertrennlich. Ich wollte sie stets fest umarmen, sie mit meinem liebenden Geist umschließen und von allen Gefahren der Welt abschirmen. Und sie ließ mich, sie liebkosen, sie gab sich mir sogar hin.

Kurz vor ihrer Abreise steckte sie mir einen Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Brusttasche meines Hemdes. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, konnte ich ihn nicht mehr finden. Ich ging ins Hotel, in dem sie geblieben war, aber die unansehnliche junge Frau, die an der Rezeption stand und eigentlich genau wusste, dass wir eng befreundet waren, gab mir keine Information. Angeblich, weil sie es nicht dürfte, aber sie konnte ihre Schadenfreude kaum verbergen. So starb ich zum ersten Mal. Nur Erinnerungen spendeten mir Trost, aber mit der Zeit verblassten sie.

Jetzt, nach so vielen Jahren, lebten sie wieder auf. Ich verglich Sofie mit Claudia und voller Bedauern entdeckte, dass sie gar keine Ähnlichkeit hatten. Sofie war lebensfreudig und energiegeladen, ganz anders im Umgang als Claudia.

Ich hoffte, Sofie war immer noch so wie damals. Egal wo und mit wem sie war, ich hätte bloß gerne gewusst, ob es sie immer noch gab, und ob sie sich von den Problemen des Erwachsenseins nicht verändern, abstumpfen gelassen hatte. Denn es wäre ein großer Verlust eines Menschen, der jede Minute zu genießen wusste.

In meinem Geist betete ich zu Gott, mich zu erhören: Bitte, lass sie wie damals vom Rauschen des Windes im Laub hinreißen, lass sie von der Berührung des Wassers an ihrer zarten Haut vor Vergnügen erstarren und erfreut einen kurzen, leisen Ton von sich geben, der alles Reines in sich enthält, lass sie einfach die frische Luft tief einatmen und vor dem Bewusstwerden, das sie lebt, glückselig aufschreien, lass sie jeden Tag ihr Dasein feiern und lass sie mindestens ab und zu an mich denken. Dafür versprach ich, ihr Abbild vor der allesfressenden Vergessenheit zu bewahren, koste es was es wolle.

Es wäre keine Übertreibung, wenn ich behaupten würde, meine delikaten Fingerkuppen an ihrer samtigen Haut gleiten zu fühlen, den Verstand betäubenden Duft in ihrem Nacken und zwischen ihren strammen Schenkeln zu wittern, ihre süße …

„Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte aufgebrachte Claudia, mich an meiner linken Schulter kräftig rüttelnd.

„Tut mir leid, ich war kurz weg“, gab ich zu und sah mir einen Kaffeefleck auf der sonst perfekt weißen Tischdecke an. Der Kellner hatte unsere Bestellung gebracht, aber ich hatte nichts davon gemerkt.

„Du bist nie da, wenn man dich braucht!“ Ihre verdunkelten Augen funkelten voller Zorn auf. „Wo bist du ständig, wie kann ich mich neben dir beschützt fühlen?“

Darauf hatte ich keine Antwort. Ich fing an, die Enten zu betrachten, die gründelten.


Giorgi Ghambashidze (2018)