28. Oktober 2021

Schlaf!

 

Eine Kurzgeschichte von Giorgi Ghambashidze


Wegen meiner Krankheit leide ich auch an Nachtschlafstörungen. Dies macht mich unter anderem sehr unachtsam. Ich führe jetzt nur ein Beispiel an:

Ich habe eine schwarze Katze, Europäisch Kurzhaar, keine extra gezüchtete und teure Rasse. Eine äußerlich gewöhnliche Katze mit einem ungewöhnlich tollen Charakter. Ich hätte nie gedacht, dass ich ein Haustier mehr lieben würde als die meisten Menschen auf dieser kaputten Welt.

Da ich aufgrund meiner immer wieder auftretenden Schlaflosigkeit wie ein Somnambule durch die Wohnung trottete, bemerkte ich die Katze auf der Türschwelle nicht und schlug die Küchentür kräftig zu. Die Katze hatte geschafft mit einem Aufjaulen zu entkommen, ihre Schwanzspitze aber nicht. Ein Fellbüschel blieb zurück.

Etwas später befanden wir uns beide im Wohnzimmer. Ich schaute mir eine völlig sinnlose Sendung an, die von einer jungen Frau mit viel Sexappeal moderiert wurde, während meine Katze auf der aschgrauen Sitzecke friedlich schlief. Nach einiger Zeit wachte sie auf und fing an, sich zu putzen. Dem Schwanz widmete sie mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich, dies fiel mir noch auf, ganz verblödet war ich nicht.
Plötzlich sah ich, wie der Stoff unter ihr, sich dunkelrot verfärbte.

„Was zum Teufel!“, schrie ich auf, denn das Sofa war brandneu und nicht billig. Eine Anschaffung, die mich mit Freude und Stolz erfüllte, eine Art Ersatzbefriedigung.

Ich rannte zum entstandenen Fleck und sah, dass die Schwanzspitze meiner armen Katze zwischen dem Fell knallrot war. Man sah direkt das Fleisch. Ich wurde panisch und lief zum Verbandskasten. Als ich versuchte, einen Verband anzubringen, gab sie einen Klageschrei von sich, den ich nie vergessen werde. Hoffentlich wird irgendwann mein Tod mich von dieser Erinnerung befreien.

An dieser Stelle lief sie davon. Unterwegs in mein Schlafzimmer, beschmierte sie die vor knapp einem Monat gestrichenen Wände mit ihrem Blut. Die Renovierung war auch für die Katz. Aber viel mehr beunruhigte mich die starke Blutung, die ich durch mein Verschlimmbessern verursacht hatte. Ich sah ein, dass wir sofort einen Tierarzt brauchten. Es war an einem Sonntagabend geschehen, also musste ich einen Notarzt ausfindig machen. Schließlich fand ich einen außerhalb der Stadt.

Da ich keinen Führerschein besitze, rief ich meinen einzigen Freund, Markus, an und bat ihn, uns schnellstmöglich abzuholen. Dann versuchte ich, die zu Tode erschrockene und große Schmerzen leidende Katze einzufangen und sie in ihre Transportbox zu setzen. Das erwies sich als Sisyphusarbeit. Sie entkam mir immer wieder, währenddessen wurden ich und meine Kleidung blutverschmiert.

Schließlich gelang es mir, und wir gingen in die kalte Winternacht hinaus. Aber da Markus noch nicht da war, mussten wir in der Kälte warten. Unpassend nur, dass ich mich während der Verfolgungsjagd sehr erhitzt hatte und jetzt die eisige Polarluft atmete. Mein Pullover unter der Jacke war vom Schweiß durchnässt.

Bloß keine Lungenentzündung holen, dachte ich und verwarf diesen egoistischen Gedanken sofort wieder.

Ab und an zerriss ein klagendes Miauen meiner Armen die Stille der Nacht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit vernahm ich das eigentümliche Brummen des Mustangs von Markus, den er noch mindestens fünf Jahre abzuzahlen hatte.

Die Tierarztpraxis lag in einem Kaff mit ungefähr zwölf Einwohnern, sieben davon waren die Haustiere des Arztes.

Im Sprechzimmer bekam meine Katze zwei Spritzen verabreicht. Eine gegen die Schwellung und eine gegen die Schmerzen. Außerdem versuchte der Tierarzt, ihr einen Verband anzubringen, was ihn mehrere mühsame Anläufe kostete. Ich hielt meine Katze die ganze Zeit fest, aber einmal entwischte sie mir und beschmierte die an einer Wand stehende schneeweiße Anrichte der Breite nach, worüber der Arzt, dem schon die Schweißperlen auf der gefurchten Stirn standen, nicht besonders erfreut war.

Als wir endlich fertig waren, bekam ich eine Rechnung, die mich erschaudern ließ. Höhere Mathematik.

Auf dem Rückweg fuhr Markus trotz der Glätte-Warnung ziemlich schnell, da er am nächsten Tag früh zur Arbeit musste. An einer Stelle kamen wir von der Fahrbahn ab und er zerkratzte die komplette rechte Seite seines Autos an einer Leitplanke.

Ich konnte mich nur tausendmal entschuldigen. Er meinte, es wäre nicht meine Schuld, aber natürlich war er äußerst frustriert. Der alte gute Markus.

Ich musste meiner Katze auch ein Antibiotikum geben, wovon sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben übergab.

Damit war es aber noch nicht zu Ende. Die darauffolgende Woche durfte ich nach jedem Stuhlgang meiner Katze die gekachelte Wand hinter ihrem Klo im Badezimmer mit Feuchttüchern putzen. Und als Bonus bekam ich eine dicke Erkältung.
                        
Schlaf!

Hypnos bedeutet auf griechisch „Schlaf“. Er ist der Bruder von keinem Geringeren als Thanatos, dem Tod, was eigentlich auch Sinn macht, denn der Schlaf ist wie ein kleiner Tod, eine Übung, bevor es richtig losgeht.

Als ich es meinem Arzt erzähle, kratzt er nervös in seinem unrasierten Nacken und schaut mich dabei mit großen Augen durch seine dicke Kassenbrille an.

Er kann gegen diese mythologischen Typen nichts unternehmen. Er hat Angst, sogar Ehrfurcht vor Göttern. Natürlich sagt er das nicht, aber ich gewinne es seinem unsicheren Blick ab. Feigling, aber ich verstehe ihn.

Zumindest ist er in der Lage, mir Medikamente zu verschreiben. Ich kriege wieder Benzodiazepine.
Die unheilbare Krankheit, die mich fest im Griff hält und mich mein Leben nicht leben lässt, heißt Narkolepsie, im Volksmund als Schlafkrankheit oder Schlummersucht bekannt. Mein Schlaf-Wach-Rhythmus ist gestört, das heißt, ich kann manchmal nachts kein Auge zudrücken, während ich tagsüber schläfrig werde und sogar plötzlich einnicke, was mir überall passieren kann.

Einmal bin ich beim Essen von Bohnen eingeschlafen, und als ich nach mehreren Stunden wach wurde, hatte ich noch die Essensreste im Mund. Ich hätte daran ersticken können.

Ich bin bereits mit dem Gesicht in heißer Kürbissuppe gelandet. Beim Überqueren einer gut befahrenen Bundesstraße bin ich in der Mitte eingeschlafen. Die Liste ist unendlich.

Schlaf!

Auf einer Website bestelle ich eine Escortdame für heute Nachmittag. Eine Russin, steht in der ziemlich ausführlichen Charakterisierung. Unter anderem bietet sie BDSM, Franz. beidseitig, Span./-BV, Fuß-, Schuh- und Nylonerotik, Fetisch-Spielchen und NS aktiv an, was auch immer dies heißen soll.

Ich bin neugierig geworden auf diese Person, die so viele seltene Kenntnisse besitzt. Ich muss sogar zugeben, dass ich auf sie ziemlich aufgeregt warte. Auf einmal fühle ich mich wieder wie fünfzehn, verliebt in eine Unbekannte.

Die Frau, die zur vereinbarten Zeit an meiner Wohnungstür klingelt, hat kaum Ähnlichkeit mit der Frau auf den Bildern.

Sie sieht aus wie die Aufseherin eines Arbeitslagers in Sibirien, die endlich mal entschieden hat, am Wochenende auszugehen. Sie hat ein blutrotes Köfferchen bei sich. Ihr breites, unfreundlich wirkendes Gesicht ist so intensiv geschminkt, dass es schon einer Kriegsbemalung ähnelt.

Unwillkürlich erinnere ich mich an eine Gefrierkombination, die ich online bestellt hatte, und die ziemlich verbeult ankam. Ich habe sie zwar behalten, aber wegen der Mängel habe ich einen Preisabschlag bekommen. Ich bin unsicher, ob ich dieses Thema bei der Russin ansprechen soll. Ehrlich gestanden habe ich Angst, sie zu verärgern.

Sie bemerkt das blutbefleckte Sofa und fragt mich mit gewisser Skepsis: „Du bist doch kein Sadist, oder?“

Das „S“ spricht sie mit einer slawischen Betonung aus. Lächerlich, als ob ich sie überwältigen könnte.

In meinem Schlafzimmer, auf meiner schon etwas durchgelegenen Matratze, unterzieht sie mich einer Körper-zu-Körper-Massage. Ich muss gestehen, dass ich sie entkleidet ansprechender finde. Vor allem ihre voluminösen Brüste haben es mir angetan. Kurz denke ich an die üppigen Frauen aus Fellinis Filmen. Ich bin lange nicht mehr so voll und ganz bei der Sache gewesen. Mit jedem Atom meines erregten Leibes, an dem sie sich reibt, spüre ich das Hier und Jetzt. Ich befinde mich dem Orgasmus nahe, aber ich möchte nicht, dass diese Erfahrung mit der Russin, die sich ihrer Arbeit voller Hingabe widmet, vorzeitig vom Zeichen meiner Ungeduld und männlichen Schwäche unterbrochen, sogar entweiht wird. Ihr massiver, weicher Körper drückt mich in die Matratze, sodass ich die Federn an meinem Rücken deutlich fühle. Es schmerzt ein wenig, aber die Ekstase, der ich ausgesetzt bin, verwandelt die Schmerzimpulse in ein süßes Vergnügen. Ich kann es länger, denn ich will es richtig genießen und …

Schlaf!

Ein kräftiges Rütteln und Schütteln weckt mich. Die nackte Russin schaut mich erschrocken an.

„Was ist los mit dir? Erst zeigst du mir deinen schiefen Turm von Pisa und dann plötzlich schläfst du wie ein Toter! Ich wollte schon einen Krankenwagen“, dieses Wort spricht sie mit besonders starkem Akzent aus, „rufen!“

Dem Brennen meiner Wangen nach zu urteilen, hat sie mich, während ich schlief, mindestens zehnmal geohrfeigt.

Nachdem ich ihr über meine seltene Krankheit erzähle, beruhigt sie sich allmählich, aber das magische Momentum ist unwiederbringlich vorbei.

Trotz schmerzender Wangen bedanke ich mich verbindlich bei ihr und bezahle sie für ihre Dienste. Sie geht mit ihrem Köfferchen, dessen Inhalt mich im Nachhinein neugierig macht.

Schlaf!

Ab und zu bin ich hyperempfindlich. Jeder Reiz versetzt mein Gehirn in Alarmbereitschaft. Alles wird als unmittelbare Gefahr wahrgenommen.

Eine Frau lacht hellauf in der Ferne: Gefahr!

Der Heizkörper gibt ein monotones Tröpfeln von sich: Gefahr!

Das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos schleicht an der Decke entlang und verschwindet ohne Spur: Gefahr!

Jemand klopft an die Tür des Nachbarn mindestens zwei Stockwerke über mir: Gefahr!

Erinnerung an meine Ex und ihre fleischigen Lippen: große Gefahr!         

Dann laufe ich durch meine Wohnung und schimpfe mit den unsichtbaren Mächten, die mir diese Bürde auferlegt haben. Aber meistens ärgere ich mich über mich selbst. Ich betrachte mich im Spiegel und brülle los, etwas wie: „Du armseliger Versager, du bist kein normal funktionierender Mensch, du bist eine Last, ein Nichtsnutz, warum bist du nur so ein …“

In solchen Augenblicken ist ein Sekundenschlaf wie ein Segen für mich, denn wenn ich wieder zu mir komme, bin ich wie neugestartet und kann meine Probleme einigermaßen wieder anpacken.

Es kommt auch vor, dass die medikamentöse Behandlung für kürzere Zeit anschlägt und ich nachts geregelter schlafe. Dies macht mich euphorisch. Ich fange sogar an, mich für die Erfindung der Hypnotika innig zu bedanken. Benzodiazepin-Derivate finde ich besonders lobenswert, diese kleinen, bunten Engelchen.

Schlaf!

Als ich neun war, gab eine durchreisende Truppe aus Bulgarien eine Magie-Vorstellung in unserer Stadt. Meine Eltern - Gott hab meine Mutter selig, und der Teufel meinen Vater zu lieb – nahmen mich mit hin.

Besonders beeindruckte mich ein Hypnotiseur mit hochgezwirbeltem Schnurrbart. Er suchte sich einen Freiwilligen aus dem Publikum aus. Eine attraktive, junge Frau in Begleitung ihres Ehemannes, wie sie es auf der Bühne im Lichtkegel verlegen stehend mitteilte. Geblendet hielt sie ihre zierliche Hand vors Gesicht. Ich spürte ein angenehmes Kribbeln in meinem mit Zuckerwatte vollgestopften Bauch und wünschte mir, möglichst schnell erwachsen zu werden. Ein nichts ahnender Narr.

Sie und der Hypnotiseur setzten sich auf zwei zueinander gerichtete Stühle. Die Frau lächelte nervös, während er sie mit seinem durchdringenden Blick fixierte und schwieg.

Eine Totenstille legte sich auf alle Anwesenden im stickigen Raum. Man hielt sogar den Atem an. Ich zumindest. Die Frau hörte auf, angespannt zu lächeln, und wurde ernst.
„Schlaf!“, erteilte der Hypnotiseur mit einer jenseitigen Stimme den Befehl.

Die Frau schlief sofort ein. Ihr Kopf mit welligen, karamellfarbenen Haaren hing willenlos nach vorn.

Ein Gemurmel machte sich unter den Zuschauern breit. Der Ehemann richtete sich in seinem Sitz voller Bereitschaft auf, aber dann wurde er unschlüssig und entschied abzuwarten.

Der Hypnotiseur ließ seinen Blick im Halbdunkeln des Saals schweifen, ein selbstzufriedenes Grinsen im unheilvollen Gesicht. Dann wandte er sich der Schlafenden zu. „Offenbare uns dein dunkelstes Geheimnis!“

Die Frau fing an, in einer tieferen Stimmlage zu erzählen: „Ich bin Hals über Kopf verliebt. Ich will ständig bei ihm sein, seine starke Hand halten, seine zarte Berührung spüren, tief in seine dunkelbraunen Augen schauen und ihm ohne Unterlass sagen, dass er der Einzige ist, er ist der Mann meines Lebens.“

„Sehr schön“, sagte der Hypnotiseur und schaute zum Ehemann schelmisch hinüber.

Der Ehemann strahlte förmlich vor Glück. Aber die Frau war mit ihrem Geständnis noch nicht fertig.

„Ich weiß nicht, wie lang ich es meinem Mann noch verheimlichen kann. Er ist ein Guter. Er liebt mich über alles, und ich befürchte, dass er es nicht übersteht.“

Empörte Aufschreie der vielen, bösartige Gelächter der wenigen und ein lautes „Aufwachen!“ des Hypnotiseurs vermischten sich in meinem vor Verwirrung dröhnenden Kopf.

Später erlauschte ich bei meinen Eltern, dass der Ehemann sie mit einer Strumpfhose erwürgt und sich mit einem Revolver erschossen hatte.

Was sagt man dazu? Magie! Und der Vorhang fällt.

Schlaf!   
 
Giorgi Ghambashidze (2021)