28. Oktober 2021

KRANKENWELT

Eine Kurzgeschichte von Giorgi Ghambashidze


„Ich sah mich wieder mit dem Tode leben
und sah mich wieder mit dem Leben sterben.“
Francisco de Quevedo


Meine Mutter hat mir wieder mal unangekündigt, einen Besuch abgestattet. Sie sitzt mir gegenüber und schaut mich eingehend an, bevor sie mir von ihrem neuen Liebeskummer erzählt. Sie ist merklich gealtert. Ihr Gesicht wirkt länglicher als früher, ihr graues Haar gleicht der vom Novemberregen durchnässten Asche, ihre Augen scheinen von innen ausgebrannt zu sein, aber es juckt mich nirgends.

Ihren neuen Ex hatte sie durch eine Anzeige in der lokalen Zeitung aufgegabelt. Er soll sich seit drei Tagen nicht mehr bei ihr gemeldet haben. Ob sie miteinander schon geschlafen haben? Ja, natürlich haben sie es. Sie ist schließlich kein junges, dummes Mädchen mehr, das glaubt, alle Zeit der Welt zu haben. Jedes Warten ihrerseits kann schwerwiegende Folgen haben, teilt sie mir mit.

„Er ist sehr aufmerksam und zart zu mir gewesen. Ein wahrhaftiger Galant. Wir haben uns wunderbar verstanden und prächtig amüsiert, sowohl in alltäglichen Dingen als auch im Bett. Sein Lingam ist unterdurchschnittlich, aber er machte es wett, indem er es nicht eilig hatte, orgastisch zu werden, außerdem, wenn es ihn trotzdem überkam, bediente er sich anderer Mittel, um den Bedürfnissen meiner anspruchsvollen Yoni Genüge zu tun. Oh Gott, war er ein fleißiger Handwerker der Liebe ...“

Stillschweigend versuche ich, an etwas anderes zu denken, Schöneres, aber das Einzige, was mir in den Sinn kommt, sind die schmerzhaften, hellen Reminiszenzen an Lisa. Allmählich fangen sie an zu stinken. Sie bekommen grünlichen Überzug wie die Zunge einer Unke.

Lisa, Lisa, Lisa, der Klang dieses Namens verbreitet ein klägliches Ding-Dong in meinem Mikrokosmos, das keiner außer mir wahrnimmt. Ich bin einsam, aber nicht allein, was im Grunde noch schlimmer ist. Meine Erzeugerin, die Frau, die mich ungefragt und ohne jegliche Vorwarnung in diese eiskalte Existentia hinausgepresst hat, wie man einen lästigen Mitesser ausquetscht, erzählt ihre triviale Geschichte weiter:

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jetzt eine andere hat. Er ist monogam, das kann ich dir versichern. So was merke ich an den Augen. Seine sind so tiefgründig, romantisch und anhänglich, fast wie die eines hingebungsvoll verliebten Hundes. Aber er ist wie ein egoistischer Kater verschwunden.“ Sie seufzt auf. „Vielleicht kommt er wieder, taucht einfach vor meiner Tür auf und sagt ‚Hallöchen Popöchen‘, wie er es zu tun pflegte. Ich habe nichts Falsches gemacht, es lief alles in optima forma, deswegen bin ich so verwundert und bestürzt, dass er amorph ist. Vielleicht ist ihm etwas Schlimmes zugestoßen, eine äußerst beunruhigende, aber die einzige Erklärung, die ich hege. Hast du ein paar ermutigende Sentenzen für deine gequälte, todmüde Mutter?“ Sie schaut mich erwartungsvoll an, mit ihren irren Augen, die mich manchmal in Albträumen verfolgen. Sie sind sogar das Baumaterial meiner Albträume. Sie will von mir, dass ich ihre Geschichte seziere und inspiziere. Wie ein babylonischer Wahrsager soll ich anhand der miefenden, glibberigen Innereien berichten, was geschehen wird.

Lisa ist auch aus meinem Leben plötzlich verschwunden. Erschienen war sie wie eine Monsterwelle, die mich, wie einen auf dem Strand ahnungslos Schlafenden, überspült und hinter sich mit diversen Prellungen, Blutergüssen, Verrenkungen, Brüchen, inneren Blutungen, Schürf- und Platzwunden meiner sensiblen Seele komplett erschüttert liegen gelassen hat.

Der bohrende Blick holt mich wieder in mein Wohnzimmer zurück. Meine Mutter ist noch da, und sie wartet, dass ich meinen Mund aufmache, aber der klebt irgendwie fest zusammen. Mein Speichel ist zu Leim geworden.

„Ich merke es doch, da schlummert etwas in deinem kleinen Spiritus Rector“ – wie ich ihre bildungssprachlichen Ausdrücke satt habe! –, „sag es mir, sag mir, was es denkt!“, herrscht sie mich an, den Tränen einer lächerlichen Verzweiflung nahe.

Und der Damm in mir bekommt eine Bresche, die mit jeder Sekunde tiefer und breiter wird. Ich höre, wie die Balken knarzend und ächzend zerbrechen, die Steinblöcke fallen ab, um dem Strom meiner giftigen Wörter freien Lauf zu geben. Die Flut kommt, sie ist nicht mehr aufzuhalten. Die mitreißende Strömung trifft frontal mein Gegenüber.

„Verdammte Galle eines grippalen Aussätzigen, es reicht! Deine banalen, idiotischen Affären, die du mir auch so detailliert glaubst erzählen zu müssen, stehen mir schon bis über den Halse, ich kann sie mir nicht mehr anhören, ich will es nicht mehr, verstehst du das? Es genügt, es genügt! Wenn du so weiter machst, puste ich mir einfach den Schädel weg, direkt hier, vor deinen mich stets niederdrückenden Augen.“ Ich stehe schwungvoll auf und pendele im Raum.

„Du besitzt bestimmt kein notwendiges Instrumentarium dafür“, wirft sie seelenruhig diesen eisernen Fakt in den Raum und schaut mich herausfordernd an.

„Es gibt abertausende Möglichkeiten, um in das Reich der Schatten hinabzusteigen. Willst du es sehen, willst du es miterleben, wie dein einziger Sohn, der ohnehin schon nur noch Haut und Knochen ist, von der Bühne des Lebens abtritt? Wenn ja, dann bist du auf dem richtigen Pfad. Schau mich an, sieh endlich, merk endlich, wie ich aussehe, ich bin eine wandelnde Leiche, ich, dein Ein und Alles, wie du es mir manchmal ohne jegliche Überzeugung vor die Füße wirfst, ist dem Tode so nah wie noch nie, ich trage den Sensenmann huckepack, seine knochigen Beine meine Lenden fest umschlungen, haucht er mir seinen fauligen Atem in den Nacken, sodass mir die Haare zu Berge stehen.“ An der Stelle hole ich tief Luft. „Mir ist ständig schwindlig. Die Heizung ist auf volle Pulle aufgedreht, aber ich friere. Selbst wenn ich in einer kochend heißen Badewanne liege, zittere ich in allen Gliedern. Mir ist andauernd übel. Ich habe keine Kraft, keine Lust mehr. Lebensfreude ist ein Wort, über das ich nur verbissen spötteln kann. Und da kommst du mit deinen Liebeleien.“ Ich gehe schnellen Schrittes auf sie zu und halte dicht vor ihr an. Sie bleibt unbeeindruckt. „Wann siehst du eigentlich ein, dass du schon zu alt für diesen Mist bist? Wann begreifst du, dass es nicht meine Lebensaufgabe ist, dein persönlicher Beziehungsberater zu sein?“

Als Kind und Jugendlicher musste ich in ihrem Auftrag Männer stalken, mir Sachen notieren, ihre vermeintlichen Nebenbuhlerinnen auf der Straße maskiert überfallen, ihnen ihre Droh- und Schmähbriefe übermitteln, sie mit verstellt rauer Stimme anrufen und beleidigen, einige Fensterscheiben einwerfen, um den unerwünschten Koitus zu unterbrechen, Autoreifen aufschlitzen, um ein spätabendliches Rendezvous zu vereiteln. Lauter Sachen, von denen ich schneidende Bauchschmerzen bekam, bis es so schlimm wurde, dass ich eines Tages, mit gerade mal sechzehn, entschied, mein Heim zu verlassen.

Erst vor drei Jahren habe ich wieder angefangen, mit ihr Kontakt zu pflegen. Dieses Mal beschränkte es sich nur noch darauf, dass sie mir von ihren Liaisons erzählte, und ich musste ihr einen Rat geben, oder sie trösten, sie bemuttern. Aber jetzt, wo ich selbst eine unerträgliche Liebeskrankheit durchlebe, von der sie nichts ahnt, ist das Fass übergelaufen.

Mein Herz rast, ich habe Atemnot. Ihr Gesicht wieder eine steinerne Maske, ihre Augen zwei stechende Kugeln voller Bosheit. Sie schmiedet einen Plan, aber ich bin zu müde, um mir deswegen Sorgen zu machen. Ausgelaugt strecke ich mich auf dem Teppichboden aus und stöhne auf.

Sie geht wortlos. Nur die Tür wird doll zugeschlagen. Ein Wunder, dass das ganze Haus nicht einstürzt. Vielleicht sehe ich sie nie wieder, oder erst in ein paar Jahren, beides ist mir recht. Rettender Schlaf nimmt mich in seine fürsorglichen Fittiche, wie er es schon immer nach den Stresssituationen gemacht hat.

***

Die wöchentlichen Treffen der Phobiker fanden immer in verschiedenen Lokalen statt. Ich hatte sie alle über ein Forum für Menschen mit Angststörungen gefunden, und nach langem Chatten hatten manche von uns entschieden, uns persönlich kennenzulernen. Es gab hin und wieder Neulinge, die sich uns anschlossen, aber nach ein paar Zusammenkünften verschwanden sie oder blieben mit uns nur über die Plattform in Verbindung. Wahrscheinlich war es nicht jedermanns Sache, sich so direkt mit Problemen anderer zu beschäftigen, denn so was kann einen stark runterziehen. Zu wissen, dass ich nicht der Einzige bin, der wegen seiner Phobie kein normales, geregeltes Leben führen kann, baute mich hingegen auf. Ich war einer der vielen, also kein richtiger Freak. Diese Erkenntnis beruhigte mich und half mir durch die Tage voller Scham, Selbstzweifel und Trostlosigkeit hindurch. Meistens waren wir aber dieselben fünf Personen, die wilde Bande der manifestierten Angst, wie wir uns halb im Scherz nannten. Außer mir, der an Emetophobie – Angst vor Erbrechen, leidet, waren ein  Trypophobiker – Angst vor einer Anhäufung unregelmäßig angeordneter Löcher, eine Autophobikerin – Angst vor dem Alleinsein, ein Melissophobiker – übersteigerte Furcht vor Bienen oder bienenartigen Insekten, wie Wespen, Bremsen und Hummeln, und ein Sozialphobiker – den es eine fast übermenschliche Überwindung kostete, sich mit uns zu treffen, dabei.

Es gab auch Phobien, über die wir uns lustig machten, wie zum Beispiel Sesquipedalophobie, nicht ohne Ironie auch Hippopotomonstrosesquippedaliophobie genannt – Angst vor langen Wörtern, oder Erythrophobie – Angst vor Erröten, dessen Träger meistens mit einem Pavianarsch im Gesicht herumliefen.

Eine, die sich mit uns nur im Hellen und Freien traf, hatte gleich drei Phobien: Akrophobie – Höhenangst, Klaustrophobie - Angst vor geschlossenen Räumen, und Achluophobie - Angst vor Dunkelheit. Wir neckten sie, dass sie besonders habgierig und rücksichtslos gewesen sein musste, als diese schweren Gaben vom Himmel herabfielen.

Unser letztes Treffen war vor zwei Monaten. Ich kreuzte danach nicht mehr auf, weil Lisa mich bald darauf verließ, und ich niemanden mehr sehen wollte. Aber mich an meine Freunde in der Not zu erinnern, erfüllte mich mit einer Schwermut. Wir ergänzten uns, wie es zwei emotional unvollständige Liebende tun, nur mit einem Unterschied, dass wir eine größere Zahl der Unvollkommenen bildeten.

An dem Tag war Lenz, der Soziophobiker und freischaffender Dichter, ungewohnt gut aufgelegt. Er hatte sich in letzter Zeit im Internet dutzende Videos angeschaut, wie junge Männer attraktive und absolut unbekannte Passantinnen mitten auf der Straße ansprachen und sie schließlich ins Bett kriegten. Es inspirierte ihn und gab ihm den Mut. Er war hoch aufgeschossen, schlank und sah mit seiner Schmachtlocke gar nicht so schlecht aus, und er wusste ganz genau, dass sein größtes Hindernis er selbst war. Jetzt wollte er unbedingt eine hübsche, rehäugige Brünette anmachen. Sie saß mit ihren Freundinnen ein paar Tische von uns entfernt, unterhielt sich fröhlich und lachte ab und an reizend. Man merkte, dass in Lenz ein brutaler Zweikampf stattfand, den wir alle gebannt und lautlos beobachteten.

Mein Magen knurrte vor Hunger, aber da ich ungern auswärts aß, verkniff ich es mir, einen simplen Salat zu bestellen, denn man wusste ja nie, ob und mit welchen Händen er geputzt, gewaschen und angerichtet wurde. Stattdessen trank ich mehr Mineralwasser.

„Wisst ihr was? Ich werde jetzt aufstehen, zu dem Tisch gehen und einfach Hallo sagen“, teilte Lenz uns mit, ohne jeglichen sichtbaren Impuls, sich in Bewegung zu setzen. Er war fahl im Gesicht, Schweißperlen traten auf seine Stirn, sein Mund war komplett ausgedörrt, sodass er kaum und sehr laut schluckte. Er leerte sein Glas Mojito, aber es half nicht.

„Ich bin jetzt etwas verwirrt...“ sagte Peter, der ehemalige Biker – mit der Angst vor Löchern. „Willst du das Möbelstück begrüßen? Denn so hat es sich angehört, oder etwa nicht?“ Er streifte uns mit seinem schelmischen Blick auf der Suche nach einer Bestätigung, die er nur von der ängstlich dreinschauenden Monik, einer Büromaus mit der Angst vor dem Alleinsein, bekam. Sie klammerte sich dabei an seinen exzessiv behaarten, muskulösen und teilweise tätowierten Unterarm, der auf dem Tisch zwischen unseren Drinks wie ein totes, aufgedunsenes Opossum lag.

„Du achte lieber auf die Serviette vor dir, die wie eine Wassermelone gemustert ist. Siehst du diese unregelmäßigen Kerne?“, setzte ich dem Witzbold zu, bevor ich mich an Lenz wandte: „Es ist nur in deinem Kopf, komm schon, du schaffst das, durchbrich diese imaginäre Barriere, die zwischen dir und deinem Glück steht. Sie ist nicht so stabil und du bist nicht so schwach, wie du glaubst. Denk daran, deine Selbstwirksamkeit hat fast keine Grenzen.“

„Ja Mann, er hat absolut recht, just do it!“, pflichtete mir Dieter, der Naturwissenschaftler – und der Ältester von uns, der etwas gegen Bienen hatte und sich gerne der Jugendsprache bediente, enthusiastisch bei. Währenddessen hatte Peter die verhasste Serviette zusammengeknüllt und sie so weit wie möglich von sich geschleudert, dabei hatte er sich von Moniks verzweifelter Umklammerung befreit, was sie in eine leise Panik versetzte, denn sie hatte ständig mit Verlustängsten zu kämpfen.

Lenz schaute mich und Dieter dankbar an und stand auf. Er sah immer noch ganz nervös aus, aber immerhin hatte er sich aufgerafft.

„Ich schaff das, die Typen von YouTube schaffen es auch.“ Er versuchte, sich zu bekräftigen, während seine Zähne hörbar klapperten.

„Und sie sind keineswegs besser als du. Wäre ich eine Tussi, hätte ich dich mir gekrallt, du Schnapper“, sagte Dieter und tätschelte ihm die Schulter, was ziemlich komisch aussah.

Lenz machte einen großen Schritt für sich, der für die Menschheit nichts bedeutete. Darauf folgten die nächsten und am Ende stand er bei dem schönen Mädchen, das ihn nicht feindlich, aber überaus spöttisch musterte.
„Er wird es vermasseln“, frohlockte Peter.

Wegen der Loungemusik, Entfernung und des hypernervösen Sprechers konnten wir die Unterhaltung nicht verfolgen, aber wir sahen Lenz’ angespannten Nacken und die leicht verstörten Gesichter der Frauen am Tisch. Dadurch kamen wir zu einer übereinstimmenden Schlussfolgerung: dass er sich schlecht schlug. Was danach geschah, ließ uns keine Zweifel an seinem Scheitern. Lenz lief schnurstracks zu den Toiletten. Unterwegs warf er einige Stühle um.

Das Mädchen und ihre Freundinnen kicherten synchron und es schien kein Ende zu nehmen. Wir hingegen saßen still, geduckt und schämten uns fremd. Gott sei Dank war kein Erythrophobiker dabei. Nur Peter schien von der peinlichen Szene unberührt.

„Er kotzt sich jetzt den Magensack frei“, war sein Kommentar, der mich wegen seiner Wortwahl unter die Gürtellinie traf. Plötzliche Übelkeit übermannte mich, aber ich konzentrierte mich auf das, was ich Lenz gleich sagen musste, um ihn irgendwie zu beruhigen. Vorausgesetzt, er hatte sich nicht durch das kleine Fenster in der Herrentoilette verdünnisiert.

„Ich schaue mal nach ihm“, sagte Dieter und warf beim Gehen einen gehässigen Blick in die Richtung der Mädels.

Bald darauf gingen sie, und unsere Kameraden kehrten zu uns zurück. Aber bis es so weit war, durfte ich Moniks aussichtslose, jämmerliche Versuche beobachten, wie sie Peter anmachte. In diesem Moment fühlte ich eine Derealisation und Depersonalisation, wie ich sie selten empfunden hatte.

Wieder waren alle beisammen. Ich schaute in Lenz’ eingefallenes Gesicht und nickte ihm voller Verständnis und Anteilnahme zu. Gleichzeitig quälten mich Gewissensbisse, da ich ihn zu der Eskapade animiert hatte.

„Wäre sie noch hier geblieben, hätte er sich den Lokus runtergespült“, scherzte Dieter, Lenz‘ Schulter erneut tätschelnd.

„Ich hab mich gefragt, ob du dich übergeben musstest“, hakte Peter unvermittelt nach.

„Es gab eine starke Diarrhö, wenn du es so unbedingt wissen wolltest“, konterte ihm Lenz eiskalt und wandte sich demonstrativ von ihm ab. „Die Seele sitzt im Magen“, murmelte er nach kurzem Schweigen vor sich hin. Da konnte ich ihm nur zustimmen.
„Was hast du ihnen gesagt, dass sie dich so verdutzt angestarrt haben?“, ließ Peter nicht locker, aber bekam keine Antwort. Unbeachtet bleiben schmeckte ihm bitter, aber Monik presste liebevoll seinen dicken Bizeps, damit er sich nicht ärgerte. Erstaunlich, aber es funktionierte.

„Sieh es positiv, du hast dich überwunden, bist auf sie zugegangen und hast mit ihr gesprochen. Du hast viele kleinere Siege errungen, bevor du gescheitert bist. Auf jeden Fall bist du schon weiter gekommen, als du es je für möglich gehalten hättest. Stimmt’s?“, munterte ich ihn auf. „Versuch es nächstes Mal bei einer, die alleine unterwegs ist. Eine Gruppenansprache ist anscheinend etwas für fortgeschrittene Verführer. Fange klein an und steigere dich dann langsam.“

„Melissa war ihr Name“, gab er verträumt von sich.

Alle schauten Dieter an, denn seine Phobie hieß fast gleich.

„Es ist mir natürlich nicht entgangen, dass sie süß und stachelig wie ein Bienchen war“, beantwortete er unsere Blicke. Alle mussten auflachen.

Angeblich gibt es Schamanen, die Menschen als Energiefelder wahrnehmen können. Ich stellte mir vor, wie das energetische Spektrum unserer Truppe aussehen musste. Grünlich schwarzes, kadmiumgelbes Flackern entstand vor meinem geistigen Auge.

Fast immer, wenn ich unterwegs war, führte ich eine Packung Salzcracker mit, denn es ist eines der wenigen Lebensmittel, von dem man schier unmöglich eine Vergiftung bekommen kann. An dem Tag hatte ich auch etwas in der Jackentasche dabei. Ich holte die Minipackung raus, überprüfte zweimal die Haltbarkeit und aß den Inhalt auf, ohne es jemandem anzubieten, denn ich wusste bereits, dass keiner außer mir so was Trockenes verspeisen würde.

„Ist deine Freundin eine Emetophobikerin?“, fragte mich Peter unerwartet, während ich die Krümel von meinem Pulli abstreifte.

„Nein, wieso?“

Er schaute mir tief in die Augen. „Wenn sie eine normale Frau ist, wie willst du dann mit ihr klar kommen? Ich meine, sie wird doch irgendwann schwanger werden und ein Kind bekommen wollen? Wie findest du dich dann mit so viel Erbrochenem zurecht?“ Monik fand seine Fragestellung sehr relevant. Ich konnte es ihrem begeistert-ängstlichen Gesichtsausdruck entnehmen.

„Würdest du bitte die gastralen Themen in meiner Anwesenheit lassen?“, bat ich ihn aufrichtig, woraufhin ich nur ein verständnisloses „Hä?“ bekam. Unzufrieden entzog er sich mit einer heftigen Bewegung Monik, die daraufhin wieder einen todunglücklichen Eindruck machte.

„Ich würde auch gerne etwas von dir erfahren. Ich weiß, es ist etwas klischeehaft, aber als Biker musstest du doch bestimmt öfters Billard spielen“, fragte ich Peter, der noch nicht wusste, worauf ich hinaus wollte, und mich skeptisch anschaute. „Wie bist du mit dem Einlochen klargekommen?“ Diese wichtige Frage wimmelte er sichtlich angeekelt ab.

Danach unterhielten wir uns über übliche Sachen wie Anwendung und Nebenwirkungen von Antidepressiva, Neuroleptika, zum Beispiel Melleril, Haldol, Imap, Tranquilizer, Tranquillantien und natürlich Benzodiazepine wie Tafil, Frisium, Valium, Rivotril, Adumbran und von Lenz’ Lieblingstabletten Praxiten.

Trotz aller Turbulenzen war es ein beruhigender Abend für mich.

***

Das monotone Telefonklingeln reißt mich aus dem sumpfigen Schlaf, dessen Rückstände an meiner Psyche haften bleiben. Ich liege immer noch auf dem Teppichboden zwischen dem Sofa und dem Sessel. Meine Stellung ist embryonal. Es ist stockdunkel. Ich kann nicht ausmachen, wie spät es ist, denn es ist mitten im Winter. Das Geklingel echot schmerzvoll in meinem benommenen Kopf, den ich kaum zu heben vermag. Aber anscheinend muss ich, sonst wird es nie aufhören. Doch. Es wurde aufgelegt. Kurze Atempause. Der Apparat fängt erneut an, mir seinen Pulsschlag mitzuteilen. ‚Wer mag es sein?‘, denke ich mir.

„Wer ist da?“, brülle ich in die Dunkelheit, die nichts preisgibt. Langsam raffe ich mich auf und torkele zur Quelle des momentanen Übels.

Der Anruf kommt aus dem staatlichen Krankenhaus. Es geht um meine Mutter. Sie schwebt in keiner Lebensgefahr mehr. Näheres werde ich vor Ort erfahren.
Für meine körperliche Verfassung ziehe ich mich relativ schnell an, schlurfe die unzähligen Treppen hinunter und winke mir ein Taxi herbei. Erst im Wagen entdecke ich, dass ich in der Eile mein Portemonnaie vergessen habe. Ich lasse es den Fahrer wissen. Er lässt mich an einer dubiosen Ecke mit flackernder Laterne aussteigen, beschert mich mit slawisch klingenden Schimpflauten und saust davon.

Es sind kaum Autos unterwegs. Die von der Kälte angehauchten Straßen sind menschenleer. Es ist anscheinend später, als ich dachte. Ich gehe zu Fuß, versuche es zumindest. Bin noch nie ein leidenschaftlicher Fuß- und Spaziergänger gewesen. Jogger halte ich für eine andere, eigenartige Spezies.

Außer Atem erreiche ich das Gebäude des Krankenhauses und bin reif für eine Mund-zu-Mund-Beatmung. Am Empfang erfahre ich, was geschehen ist und wo sich meine Gebärerin aufhält.

Unterwegs zu dem Zweibettzimmer werde ich von einer vorbeieilenden Krankenschwester mit einem Patienten verwechselt. Als Entschädigung bekomme ich ein Pardon, begleitet von einem verwunderten Achselzucken. Während ich die Nummer 44 suche, erhasche ich ein altbekanntes Gesicht. Es gehört dem Arzt, der mir vor vielen, vielen Jahren Anorexie fehldiagnostiziert hat. Ich wende rasch meinen Blick ab.

Endlich vor dem richtigen Zimmer angekommen. Die Tür steht sperrangelweit offen. Ich betrete es andächtig. Ich habe schon immer enormen Respekt vor medizinischen Einrichtungen gehabt. Das grelle Licht, der beißende Duft nach Ammoniak, der Kautschuk-Bodenbelag, der die Schrittgeräusche verschluckt und sie in etwas Geisterhaftes umwandelt, alles so steril und prämortal.

Meine Mutter liegt auf dem ersten Bett. Ihre Augen sind geschlossen. Das zweite Bett ist mit einem hellblauen Vorhang abgetrennt, aber ich verspüre eine Präsenz dahinter.
Ich setze mich leise auf den einzigen Stuhl und starre die Schlafende an. Ihre schmalen, blassen Lippen sind von einer Kruste überzogen. Nach einer Weile schaut ein korpulenter Krankenpfleger mit Vollbart vorbei.

„Sie hat den Krankenwagen selbst gerufen, sonst wäre nichts mehr zu machen“, flüstert er mir verschwörerisch zu. Dann gleitet er in die Tiefe des Zimmers und erkundigt sich bei der unsichtbaren Person hinter dem Vorhang nach ihrem Wohlergehen.

„Besser“, vernehme ich eine dünne, brüchige Stimme, die weiblich zu sein scheint.
Der Krankenpfleger geht fort. Sein Bart folgt ihm. Wieder stiere ich meine Mutter an, die pfeifend schnarcht.

Plötzlich öffnet sie ihre Augen. Ich fahre zusammen, aber will es mir nicht anmerken lassen.

„Bist du schon lange hier?“ Ihre Stimme klingt kratziger als gewöhnlich.

Ich verneine es nonverbal.

„Sie haben mir den Magen ausgespült. War nicht so spaßig, wie es sich anhört.“

Ich bekomme es mit der Übelkeit zu tun.

„Du hast mich sehr verletzt, ist dir das klar?“, fragt sie vorwurfsvoll.

Da ich annehme, dass es eine rhetorische Frage ist, schweige ich.

„Als ich die ganze Dose Tabletten geschluckt habe, wollte ich sterben, aber dann habe ich es mir anders überlegt. Ich will dir die letzte Chance geben, ein guter Sohn zu sein.“

Ich denke daran, dass die meisten Selbstmörder sich am Ende umentscheiden. Deswegen rufen viele Springer vor dem Aufschlagen panisch um Hilfe, und die, die sich aufhängen, versuchen verzweifelt, sich zu befreien.

„Ich hole mir was zu trinken. Soll ich dir auch etwas mitbringen?“, frage ich aufstehend.

Sie will nichts.

Beim Getränkeautomaten fällt mir wieder ein, dass ich kein Geld dabei habe. Zum Glück gibt es einen kostenlosen Wasserspender mit Pappbechern. Ich leere meinen Becher dreimal.

Ohne Durst kehre ich ins Zimmer 44 zurück. Meine Mutter hat ihre Lider wieder zugemacht. Die Incognita niest unterdrückt, und es kommt mir merkwürdig vertraut vor. Kurz bleibe ich noch regungslos stehen, dann schleiche ich zum Vorhang, um meine aufkeimende Neugierde zu befriedigen.

Im zweiten Bett liegt Lisa. Ihre schmalen Handgelenke sind bandagiert. Sie sieht mich an mit ihren halb geschlossenen, dunkelblauen Augen, die jetzt von schwarzen Ringen umrändert sind. Der Glanz ihres aschblonden Haars ist abhandengekommen.
„Träume ich?“, lässt sie ihre vor Schwäche piepsige Stimme vernehmen.

Das Gleiche frage ich mich auch.

„Woher hast du es erfahren?“ Ihr Anblick reines Elend. „Du bist der Letzte, den ich hier erwartet habe, aber ich freue mich, ich freue mich sehr.“ Das Satzende ist kaum hörbar, aber sie strengt sich weiter an. „Er hat mich verlassen. Jetzt weiß ich, wie du dich gefühlt hast.“ Sie sammelt ihre Kräfte. „Wie abgemagert du bist, es ist meine Schuld. Es geschieht mir recht, man darf mit Leben anderer nicht spielen.“ Ihr fallen die Augen zu. „Ich muss bisschen schlafen, danach spre...“ Sie schläft weg.

Eine Zeit lang betrachte ich ihre kantigen Gesichtszüge, deren Perfektion mich fast in den Wahnsinn getrieben hat. Selbst in diesem Zustand ist sie die Frau meines Lebens.
Ich ziehe den Trennvorhang zurück, damit meine Mutter und Lisa sich später kennenlernen können. Sie werden sich wunderprächtig verstehen. Beide wurden verlassen, beide wollten unter ihre Leben den Schlussstrich ziehen und beide machen mich todkrank.

Im Korridor bleibe ich wie angewurzelt stehen. Ein starker Drang, aus voller Kehle zu schreien, bemächtigt sich meiner. Ich gebe ihm nach, indem ich es gedanklich tue, und es befreit. Ich will an die frische Luft.

Der sirrende Aufzug bringt mich auf die Dachterrasse, wo ich den bärtigen Krankenpfleger mit einer rauchenden Ärztin Mitte fünfzig in einer dunklen Ecke flirten erwische. Ahnungslos stelle ich mich ans Geländer und lasse meinen Blick über die frostige Stadt schweifen. Die zwei hinter mir gehen, erst sie, kurz darauf er. Jetzt bin ich allein. Dann schaue ich hinunter in die dunkle Tiefe, deren verlockender Schlund sich vor mir gähnend auftut. Gut, dass ich keine Höhenangst habe.


Giorgi Ghambashidze (2020)