27. Oktober 2021

Protect me from what i want

 

Sie, hinter gepflegten Koniferenmauern und trauen sich nicht raus. Der Gang zum Mülleimer, ein Tagesziel. Vom Schlafzimmer in die Küche, schlurfend, wartend, dass das Telefon oder die Haustürklingel leutet. Einer ist gestorben. Nur noch zwei Zimmer werden beheizt. Die Kinder; in der Stadt, oder bauen selbst im Nachbarort. Die Alten, seit Jahren schon aus ihren abbezahlten Traum herausgewachsen, der ihnen jetzt zu groß ist. Die Kinder froh, dem gardinenversiegelten Vorstadtgefängnis ihrer Eigenheimenjugend entkommen zu sein. Der Traum, das Einfamilienhaus im Grünen, jetzt ein Klotz am Bein. Die architektonische Familienzelle in einer kollektiven Einheit von Gleichgesinnten, gedacht als: die ideale Lösung von Nähe und Distanz. Verachtet als: Kängurusiedlungen für Leute mit kleinem Beutel, die große Sprünge machen wollen. Zersiedelt die Landschaft versiegelnd. Der Blick, von hier aus ins Zentrum, dort wo Politik fürs Land gemacht wird. Dabei sind die Vorstadt-Einfamilienhaussiedlungen selbst ein Politikum. Entstanden, ohne dass eine Stadt gegründet wurde, fehlt es ihnen an politischem Selbstbewusstsein. Die dort herrschende Langeweile, Zündstoff für Kinder und Jugendliche zur Erprobung ästhetischer Widerstandsformen; Rockmusik und Graffiti. Für die Alten wird sie zur Falle.

(K)ein Idyll – Das Einfamilienhaus, ein unaufdringliches Meisterwerk. Anschmiegsam weich liegt das Softcover gebundene Geschichtsbuch in der Hand, fallen die Seiten beim Aufschlagen angenehm aus dem Bruch. Schwebt die 11-Punkt-Schrift in überschaubar portionierten Blöcken auf den Seiten und erlaubt einen schnellen Einstieg in die 20 Kapitel der Geschichte des Einfamilienhauses bis in die Gegenwart. Das Frontcover weist den Blick durch ein blass-mintfarbenes Tor, einer Farbe, bei der man nichts falsch machen kann. Ein zartes Mint, das sich wie ein ironischer Begleitton durch – ja, was eigentlich? – zieht. Kommentiert von einem brillanten Foto-Essay von Reto Schatter, eingeschossen auf hochglänzendem Prospektpapier; Häuser vor einem reglos schweigendem Himmel. Fotos von entschieden dokumentarische Haltung und hintersinnigem Layout, offen für Interpretationen. So korrespondieren Form und Inhalt aufs Feinste miteinander.

Diese Publikation erinnert an eine intelligente Ausstellung. Chronologisch aufgebaut, verführt sie zum Nachdenken über eine „Wohnform in der Sackgasse“, wie es auf Cover- und Schmutztitel (ohne Fragezeichen!) gleich zweimal heißt, und endet mit einem autobiografischen kritischen Bericht des Autors Stefan Hartmann, selbst Einfamilienhausbesitzer, im Heute. Stefan Hartmann berichtet von den psychosozialen Schwierigkeiten, aus dieser Wohnform auszubrechen. Diesem staatlich geförderten und durch Werbung angeheizten Wohnmythos. Ein Mythos, fest im Getriebe der allgemeinen Wunschmaschine verankert. Wohl wissend, dass verschuldete Bürger immer auch brave Bürger sind. Die Einfamilien-Eigenheimversprechen begründen sich auf den richtigen Proportionen von Distanz und Nähe, Individualität und Gemeinschaft, Natur und Kultur um die Ecke. Ein Bastard entstanden aus „aus proletarischen Siedlungshaus und bürgerlicher Villa“ und dem Wunsch nach Privateigentum, deren Folgen: Zersiedelung und der Versiegelung der Landschaft. Abhängig von automobilen Zugang, ohne den diese Bauform so nicht möglich ist, als heimlicher Raumplaner. All diese Themen kommen hier vor und gipfeln in der hoffnungsvollen Aufgabe, die eigenen Wunschlinien zu durchbrechen und ein verdichtetes Wohnen, ein seinsbewusstes Wohnen jenseits reiner Besitzstandswahrung zu überdenken. Verbunden mit der Frage, ob man durch neuen Wohnformen nicht auch zu neuen Inhalten kommen kann. Das Buch kommt angenehm leicht daher, wiegt inhaltlich aber schwer.

Einmal mehr wird einem hier vorgeführt, dass Eigentum verpflichtet, zumindest zum Nachdenken. Das sollte der Generation E (E wie Erben) einmal mehr vergegenwärtigt werden. Leider bezieht sich das Buch nur auf die Schweiz. Aber es stellt die richtigen Fragen, ohne die Schwierigkeiten, die eigenen Mythen aufzugeben, zu verschweigen, und die sind europa-, wenn nicht weltweit die gleichen.

Christoph Bannat

Stefan Hartmann: (K)ein Idyll – Das Einfamilienhaus. Eine Wohnform in der Sackgasse, Triest Verlag 2020

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