29. Februar 2004

Schützer und Spieler

 

Von dem französischen Schriftsteller Philippe Sollers hieß es vor einiger Zeit im Zusammenhang mit der Diskussion um die „neuen Reaktionären“, zu denen er gehören soll, er drehe sich schneller als sein eigener Schatten. Für eine Person, die von sich selbst sagt, sie spiele 24 Stunden am Tag „Philippe Sollers“, ist dieser Vorwurf so tödlich wie Lucky Lukes Schuss auf seinen eigenen Schatten. Souverän ist, wer über sein mediales Schattenbild entscheidet. Aber derjenige, der da souverän genannt wird, spielt im Grunde neben all seinen Simulakren keine Rolle mehr.

Carl Schmitt spricht am Ende seiner Broschüre über die „aktuelle Bedeutung“ (fürs Jahr 1922) der von ihm behandelten Gegenrevolutionäre (also Reaktionäre) de Maistre, de Bonald und Donoso Cortes. Sie liege „in der Konsequenz, mit der sie sich entscheiden.“ Für was? Für die Entscheidung. Der notorische Debattierclub der Demokraten, das Parlament, bringe in dieser Hinsicht überhaupt nichts, sondern nur das „ewige Gespräch“, politisch das Desaster schlechthin, jedenfalls für Schmitt. Aber noch mal: was für eine Entscheidung?

Alle drei oben genannten bösen Buben gehen von einer göttlichen Ordnung aus, die irdisch gestört ist. Ganz grundsätzlich ist da die Erbsünde zu nennen; der Mensch ist böse, er muss geführt werden, wenn nicht von Gott, dann von seinem irdischen Stellvertreter, dem Papst oder dem König. Wenn auch der König verschwindet, und damit der Gedanke der Legitimität, dann heißt für Cortes das Gegenmittel nicht Revolution und Emanzipation des Menschen, sondern Autorität durch Diktatur. Und Diktatoren diskutieren bekanntlich nicht, schon gar nicht im Parlament, sondern geben Befehle, entscheiden also.

Ende 1933, als Schmitt das Vorwort zur zweiten Auflage schrieb, war aus der „aktuellen Bedeutung“ Realität geworden, und der Jurist und Staatstheoretiker Schmitt konnte befriedigt vermelden, dass das liberale „Staatsrecht“ tatsächlich „hier“ aufhörte, nämlich im Ausnahmezustand, für den sich das Dritte Reich entschieden hatte, als Souverän, den verfassungsrechtlich zu diskutieren die liberalen Staatsrechtler sich immer geweigert oder den sie stets verdrängt hatten. Die unpersönliche Norm der liberalen Verfassung gegen die „anspruchsvolle“ moralische Entscheidung (etwa eines spanischen Großinquisitors oder eines deutschen Diktators) – wer würde da nicht gegen blinde Anonymität votieren wollen?

Heute, nachdem sich das Politische systemtheoretisch wieder auf seinen bescheidenen und nicht mehr alles okkupierenden Platz zurückgezogen hat, ist das alles kein Thema mehr. Oder was soll man von dem sowohl körperlichen wie geistigen „Ruck“ halten, der vor einiger Zeit durch die deutsche Gesellschaft gehen sollte, von dem aber natürlich überhaupt nicht klar war, von wem dieser Ruck auszugehen hatte, denn auch ein Herzog ist kein König mehr. Zwar sind auch die Franzosen mit Sollers, Debray, Finkielkraut, Houellebecq etc. eifrig am rütteln, Antiamerikanismus ist mehr als latent, aber verzweifelt stellen sie fest, dass, nachdem auch das Volk als ernsthafter und anspruchsvoller Souverän um 68 herum ausgedient hat, es niemanden mehr gibt, der über den „Ausnahmezustand“ entscheiden könnte. Der Dezisionismus ist tot, die Immanenz absolut, und das ist für den guten Reaktionär natürlich nicht schön. Bleiben die Inszenierungen, und dafür ist es allemal lohnend, schneller als sein Schatten zu sein.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1922</typohead>