23. Oktober 2021

MORGENGESTOLPER


 
1.
Er steht auf. Vielmehr kippt er aus dem Bett in den Morgen. Er lädt sich ab, als wäre das Bett eine Baggerschaufel. Deshalb liegt er auch noch eine Weile auf dem Boden. Aufstehen ist für ihn mehr ein Aufliegen.
Er liegt also auf. Streckt sich. Herrlich, so ein Morgen. Seitlich könnten Sonnenstrahlen strömen, wenn es noch nicht zu früh wäre. So sickert Dunkelheit, die er mit dem Deckenlicht so weit flutet, dass nichts mehr von ihr übrig bleibt.
Nach einer halben Stunde zieht er sich an der Kommode hoch. Er zerrt sich ins Senkrechte, bis er schließlich seine zwei Füße spürt. Der aufrechte Gang ist über ihn gekommen. Wenn auch langsam.
Er schlappt hinüber in die Küche und gähnt. Letzte Schlafrückstände müssen aus dem Körper gepresst werden. Er schreit sie mit einem leicht debil klingenden Geräusch in die Welt. Für einen Moment sieht er wie dieses berühmte Gemälde von Munch aus. Nur ohne Brücke.
Er tappt wie ein Zombie zur Kaffeemaschine hin, zum Antrieb, zum Motor, der ihn in Gang bringen soll. Der Motor muss mit Treibstoff gefüllt werden. Also hinein mit dem Kaffeepulver, dem Wasser. Eine explosive Mischung. Er betätigt den Schalter und schon röchelt der Motor vor sich hin. Er klingt so alt, wie er sich fühlt.
Drei Schritte hin zum Küchenstuhl. Er plumpst hin. Gerettet. Länger kann in diesem Zustand kein Mensch am Stück um diese Uhrzeit stehen.
Und nun wartet und kuckt er, wie der Motor das Schmieröl produziert, das er in seinen Tank füllen wird, um in den Tag hineinzurasen. Rasen nicht. Er ist ein Gefährt mit wenigen PS.
Die Augen halb offen, stolpert sein Blick in der Küche umher, bis er schließlich fällt. Er ist eingeschlafen. Zu viel Stress um solch unheilige Zeit.
 
2.
Er steht im Jogginganzug vor dem Haus. Bereit für den Morgenspaziergang. Der Anzug soll ihm einreden, er sei sportlich. Dabei hasst er es. Aber das Laufen gaukelt ihm vor, er könne vor dem Tod davonlaufen. Es redet ihm ein, er habe etwas getan. Also bereitet er einen ersten Schritt vor. Immer in Bewegung bleiben. Nicht stagnieren. Agil bleiben. Der erste Schritt ist noch nicht ausgeführt, da kommen ihm Zweifel. Was, wenn es kontraproduktiv ist? Wenn dies genau hier und jetzt zu einem Herzinfarkt führt? Er verharrt. Wird zu einem grünen Ampelmännchen. Zeigt an, ihr könnt alle gehen. Ich bleibe. Er überprüft sich. Horcht in sich hinein. Ist das nicht ein Stolpern? Ein Herz, das aus dem Takt geraten ist?
Er nimmt den Schritt langsam zurück. Langsam. Ganz langsam. Keine unachtsame Bewegung mehr. Er zieht sich an die Tür zurück, schließt auf, taumelt in den Flur.
Das ist ja noch einmal gut gegangen, denkt er. Und atmet erleichtert auf, bis ihm einfällt, dass er noch 16 Stufen hinauf zur Wohnung bewältigen muss.
Wie soll er das denn schaffen? Er muss warten, bis wer kommt, der ihm hilft.

Guido Rohm