10. Oktober 2021

Sein Laster war Ampeln



Tod auf Raten hieß bislang Tod auf Kredit, was sich weniger erschlossen habe, so Neu-Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel im Nachwort. Das Leben als jeden Tag ein Stückchen Sterben, ist in Célines zweitem Roman, eine semi-fiktionale Biografie, geschildertes wie zwischen den Zeilen steckendes Programm. In einer Pariser Kindheit voller Niederträchtigkeiten wächst der Protagonist auf, gleichzeitig der Erzähler. Niemand vertraut Ferdinand, abgestempelt zum „Idioten der Familie“. Kein Job, keine Ausbildung gelingt. „Bist du also noch verdorbener, noch heimtückischer, noch widerlicher, als ich dachte, Ferdinand?“, sagt der Vater zu ihm. Er malocht, vagabundiert in Passagen, Läden, auf Märkten, bei einem Schulintermezzo in England, lernt karikaturhafte Damen und Herren kennen – und speit einen einzigen Céline-Schwall Unflätigkeiten gegen alles und jeden aus. Diese Sprache, ohne Syntax, übertrieben, gedehnt, verbogen, verlogen und hassgetränkt, ist die kontroverse Gabe Célines. Einem Sprechkünstler, dem Schmidt-Henkel eine inspiriert-skrupulöse Neuübersetzung schenkt, der als misogyner, antisemitischer Quälgeist in Erinnerung bleibt, der ohne Reue, mehrfach verurteilt fast wie ein Prototyp des zeitgenössischen Phänomens „Querdenken“ seine Raten Tod abbezahlte. (Bis heute tauchen unveröffentlichte Manuskriptstapel auf, die noch „viel antisemitischer als gedacht“, den Ruf Célines pflastern.)


Schmidt-Henkels Nachwort beleuchtet den verbrecherischen Teil des Werks, argumentiert aber auch pro Kunstfertigkeit des Ganzen. Gleichwohl ist dies kaum zu trennen. In jedem Werk Célines steckt auch Céline, mehr oder weniger offen. Es ist eine Frage der Lesenden- und Veröffentlichendenverantwortung, was daraus machen ist, welche Teile und wie zu rezipieren sind. Das Krakeelen in Tod auf Raten wirkt wie eine Vorbereitung auf alles, was noch kommt. Trotzdem gelingt es Céline, ein visionär-drastisches Bild von Paris zu zeichnen, das von apokalyptischer Unmöglichkeit hochzukommen getränkt ist.


„Damit verdienten wir unsere Brötchen, immer noch leichter, als Bahnschienen zu schottern.“ Eine Smogwelt aus Sperma, Dreck, Resten belegt den Stadtraum. Sie reproduziert sich in der Sprache der Beteiligten, ist wie das Weltbild ihres Autoren selten von kurzen Blitzern Helligkeit, Humor oder Wärme gestreift. „Magie herrschte in unserer Butze.“ Die Kapitel des langen Romans rhythmisieren sich wie matschige, besudelte Fotos in einem dunklen Album. Über Ferdinands Vater im Verhältnis zu dessen Schwester, Tante Hélène, heißt es: „Keinerlei Festigkeit gab es an ihr. Alles war Fleisch, Sinnlichkeit, Musik. Vater brauchte nur an sie zu denken, schon musste er kotzen.“


Tod auf Raten ist frisch und zugleich noch immer/für immer schwierig in der neuen Übersetzung. Ein trauriges, illusionsloses Werk Skatophilie voller seltsamer, doch durchdringender Bilder.


„In vorderster Reihe an unseren Fenstern entstand vor den Scheiben eine Art Großmuttergewühle! Ah! das war hübsch! ... Sie klebten an den Fensterläden, wahrscheinlich mindestens fünfzig ... Und quakten lauter als der ganze Rest zusammen ... Sie zogen einander ihre Regenschirme über den Kopf!“

Jonis Hartmann


Louis-Ferdinand Céline: Tod auf Raten, Rowohlt, Reinbek 2021

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