8. Oktober 2021

Drehbuch

C. Böhmler: Rot (links) aktiviert Grün (rechts). [1974].
Drehbuch, Edition suhrkamp 1091, Neue Folge Band 91, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1982
Claus Böhmler – Smart Artist, Hg. Michael Glasmeier, Naho Kawabe, Nora Sdun, 120 Seiten, 4-farbig, Hardcover, 297 mm x 210 mm, Querformat, zahlreiche Abbildungen, (mit QR-Codes für Videos und Bewegtbilder), 35 Euro, ISBN 978-3-86485-179-7, Textem Verlag, Hamburg 2019
Drawing room. Hamburg, 17. August – 29. Oktober 2021, Claus Böhmler, TYPOGRAMME – Schreibmaschine

 

Claus Böhmler war ein Durchlauferhitzer im Dauereinsatz. Montag, Dienstag und Mittwoch war Sprechstunde. Dabei ist Stunde untertrieben, er konnte bis zu 8 Stunden am Stück sprechen. Man schickte Wort, Klang und Bild in den Ideen-Boiler, der sie erhitzt wieder abgab. Kaleidoskopisch bewegte er sich über sämtliche Assoziationsplateaus springend. Die Anzahl synaptischer Verbindungen begeisterte ihn. Sentimentale Empfindlichkeiten spielten keine Rolle. Wort, Bild, Sound, Metapher, Tages- und Politikgeschehen, alles wurde vom uferlosen Malstrom seiner Findungen mitgerissen. Nie kam er zum Stillstand, nie kam es zur Marktreife, nie zu einem hohen Wiedererkennungswert. Jetzt ist es Zeit, dies als Wert wiederzuerkennen. Er liebte die kleine Form, an ihr verschwendete er sich, in langen Monologen, zeichnerisch, oft indem ihm sein Gegenüber nur als Stichwortgeber diente. Ein echter Überforderungskünstler, aber immer mit Mehrwert. Das macht den 1939 geboren, 2017 verstorbenen, von 1975 bis 2005 langjährigen Hamburger Hochschulprofessor bis heute interessant. Mann muss ihn wiederentdecken, wie man ihn zu Lebzeiten immer wieder neu entdecken musste. Er war kein „erfolgreich gescheiterter“ Prof., der den Zenit seiner Beachtung überschritten, nur noch als öffentlich-rechtlich Person wirkte. Er war, in gewisser Weise, ein begnadeter Selbstverhinderer, der es nie zur „Produktreife“ brachte. Er war ein Meister der kleinen Form; der Skizze und des Environements, offener Enden und loser Anfänge. Die kleinen Alltagsformen erhöhte er zu sinnbildhaften Ideen. Der Beuys-Schüler war ein Verzettelungskünstler. Seine Assoziationsketten liefen über das Wort als Bild, Schrift als Bild, Bild als Bewegung und Wort als Sound. Schlüsselworte waren: Drehbuch (als sich drehendes Buch), Bewegtbild, Lichtbild, Schriftbild, Sprach- und Klangbild sowie Zeichenschrift und Schriftzeichen. Als man ihn fragte, wie er denn seinen Fachbereich nennen würde, sagte er: Medienpoesie. Poesie im Proust’schen Sinne („Für mache war es die einzige poetische Handlung in ihrem Leben, ihre Haushälterin zu heiraten“) als etwas Unerwartetes. Er wäre diesem Fachbereich würdig. Als Poet, verheiratet mit allen Medien – bis auf die Blackbox getriebenen. Analytisch, konkret, poetisch, humorvoll, politisch – nie rein, selten vollendet. Er fordert einem zum Weiterdenken. So, wenn er aus der Hüfte schießt, einen Tesa-Film dreht, Fraßbildner findet, das Automobil dekonstruiert oder die Farbenlehre, Rot aktiviert Grün, versinnbildlicht, wenn er einen Polizist, der einen Demonstranten tritt, in eben diesen Farben zeigt.

Heute sammeln Kunststudenten Seminarsteinchen, aus denen dann eine Mauer gebaut wird. Auf Böhmlers weiten Sinn-Bild-Wortsteinchenfeld gab keine Mauern, hier durfte jeder spielen. Er verschenkte und verlegte sie. Verlegen im Wortsinn, denn in Büchern haben viele seiner Arbeiten eine feste Form bekommen. Sein „Drehbuch“ bekommt man heute für unter 2 Euro bei Amazon. Wer den Spaß vertiefen will, ist mit dem wunderbar meisterhaften von ihm mitgestalteten Über- und Einsichtsband mit QR-Codes, Sound- und Video-Beispielen aus dem Textem Verlag bestens bedient.

Ich begegnete Claus Böhmler Ende der 80er als Student in der Hamburger Kunsthochschule, 10 Jahre zuvor standen wir zusammen am Siebdruckautomaten, ich als Lehrling. Die Studenten vor mir glitten einfach aus der Hochschule in die Gesellschaft, denn es gab keine Abschlüsse. Ich hab gelernt, dass eine gute Kunsthochschule aus einem möglichst breiten Spektrum verschiedener Lebensentwürfe des Lehrkörpers besteht. Kai Sudeck, den heute keiner mehr kennt, fragte, wie man Kunst und Leben verband. Franz Erhard Walther stärkte den Glauben, dass man Kunst lernen kann, bevor er milde wurde. Bei Böhmler musste man rechtzeitig gehen, um nicht rammdösig zu werden, und bei Vlado Kristl länger bleiben, um zu merken, wie reichhaltig er dachte. Es gab Seminare bei Böhmler, in denen er jeden Mittwoch denselben Film zeigte, aber jedes Mal den Fernseher auf eine andere Seite kippte. Anschließend wurde diskutiert. Das war, bevor die Hochschule zunehmend verschulte. Auch in diesem Sinne war Claus Böhmler als freier Denker, der die Wahrnehmungsbedingungen handwerklich befragte, wichtig. Seine Arbeiten müssen heute wieder neu entdeckt werden, auf allen Plateaus und Rhizomen.

Christoph Bannat

 

Ein Nachlass-Archiv pflegt heute seine Arbeiten. Einblicke unter:

www.clausboehmler.de

 

Claus Böhmler, Smart Artist
Hg. Michael Glasmeier, Naho Kawabe, Nora Sdun
120 Seiten, 35,00 Euro
Design: Christoph Steinegger
ISBN: 978-3-86485-179-7
Hamburg 2019

https://www.textem-verlag.de/textem/kunst/271