1. Juni 2021

2500 Jahre Inkriminierung



Den schmalen Essay „The Hatred of Poetry“ schrieb Ben Lerner, Lyriker, Romancier und Debatteur seit Highschool-Zeiten, 2016. 2021 unter dem Titel Warum hassen wir die Lyrik? (Suhrkamp Verlag) wirkt er fast etwas überholt mit seiner Betrachtung von damaligen Inaugurationsgedichten, die schon zu Clintons Zeit harsch kritisiert wurden, nicht weil sie eben Lyrik sind, sondern, wie Lerner ausführt, weil sie angeblich heutzutage keiner mehr so schreiben könne wie „richtige Lyriker“ vom Schlage Whitmans, Keats etc.


Diese Vorverurteilerei der Kritiker:innen und Nichtleser:innen von jeglicher aktueller Lyrik, so versucht Lerner zu zeigen, liege mehrheitlich an einer peinlichen imaginären Überhöhung lyrischer Kompetenz an sich, die allerdings auch damals, besonders bei Whitman etc. nicht im Geringsten in der Lage war, „für alle zu sprechen“. Wenn Whitman von austauschbaren Ich und Du schreibe, den atomar-demokratischen Fundamenten Amerikas, so ist, wie Lerner anhand der Lyrik von z.B. Amiri Baraka oder Claudia Rankine zeigt, mitnichten ein austauschbarer Pronomenkatalog gemeint, sondern natürlich nur ein Privilegiertenpronomen weißer (meist männlicher) Ungefährdetheiten.


Unter anderem weil Lyrik per se scheitern müsse, räumt Lyriker Ben Lerner ein, selbst diese Art Superpoesie namens Lyrik zu hassen. Das rhythmische, melodische, zutiefst empfundene Menschlichkeitsohrensausen sei laut Lerner simple Verklärung. Sie wäre immer noch zu schreiben, die Lyrik, doch „es gibt keine echte Lyrik; es gibt am Ende nur und bestenfalls einen Ort dafür“. Und weiter: „das fatale Problem bei der Dichtkunst: Gedichte“.


Mit dieser skeptischen Haltung lässt Lerner viel Raum in seinem Essay, der weniger eine scharfe Grenzübertretung ist als unterhaltsam zu lesende Vorlesung über ein ewiges Für und Wider von „Die einen sagens“ und „Die anderen tuns“, gefangen in ihrer Dialektikmühle. Lerner beschließt sein zuweilen etwas wirres Parlando mit einer Bitte an alle Hasser:innen: „Bitte vervollkommnen sie Ihren Hass!“


Höhepunkt des Bändchens sind sicherlich die collagenhaften Gegenüberstellungen von Emily Dickinson mit William Topaz McGonagall, dem „anerkannt schlechtesten Dichter aller Zeiten“, und seiner lyrischen Entgleisung auf der Tay-Brücke: „I am very sorry to say...“ Auch wenn Lerner nichts weiter erläutern würde, diese beiden Dichter:innen verkörpern jene Dialektik der sogenannten Lyrik bis ins Mark. Das Lerner’sche offene Scheitern zeitgenössischen Dichtens ist nicht nur eine Mahnung zur Bescheidenheit, es ist auch als eine Genreaufhebung zu verstehen.

Jonis Hartmann


Ben Lerner: Warum hassen wir die Lyrik?, Suhrkamp 2021