6. Mai 2021

Tage im Bruch



Wer einen weiteren journalistischen Meilenstein aus der Feder jenes Joseph Mitchells erwartet, der unter anderem Joe Gould, „der die Möwensprache beherrschte“, porträtierte, wird im neuen Band Street Life, bei Diaphanes erschienen, etwas anderes erleben. Zu weit fort ist Mitchell von dem, was sein eigentliches, ihn bekannt gemachtes Schreiben ausgemacht hat: kristallklare Empathie, gepaart mit Witz über genaueste In-situ-Recherche gelegt. In Street Life ist er selber zum Objekt seiner Ermittlungen geworden – und scheitert, sich selbst ein unlösbares journalistisches Problem.


Die drei kurzen Texte, die letzten, die Mitchell verfasste, während er sich bereits auf dem Weg in eine aus Depression, Burn-out und Weltabkehr gefärbte Schreibblockade befand, die von ca. Mitte der 60er Jahre bis an sein Lebensende 1996 anhielt, sind auf eine andere Art zu lesen. Was geschah mit dem Menschen, Flaneur und alerten Kamera-Joseph-Mitchell, der jeden Tag weiterhin ins Büro des New Yorker ging, um nichts zu produzieren, außer tonnenweise Papier „in der Tonne“, wie es in der Nachbemerkung der Übersetzerin Sabine Schulz heißt. Sie vermutet ein absichtliches Nicht-mehr-mitkommen-Wollen Mitchells mit dem New York, das er wie kein zweiter kannte, dessen Veränderungen seit den 30er, 40er Jahren (den fruchtbaren Zeiten des damals äußerst produktiven Reporters) ihn in einen immer tieferen Zustand der Verinselung getrieben hatten. „You better start swimmin or you sink like a stone“, sang Bob Dylan, für Mitchell hieß dies nach hoher Popularität in einem von ihm selbst mit gegründeten Genre, den Aufbruch zu wagen, in eine neue Literarizität, konkret: den großen Flaneur-Ulysses New Yorks zu konzipieren, wie Schulz anmerkt. Festgehalten in Erinnerungen, Tagebüchern, Gesprächsfetzen hätte in einem einzigen Tag jener Joseph Mitchell, mäandernd zwischen North Carolina und der City, das transiente Street Life einzufangen versucht.


Die drei kurzen, dichten Texte sind die einzigen Überlebenden jenes Projekts, die sich wie Ruinen von angerissener Landschaft begehen lassen. Sie sind tonal kein bisschen ironisch, ihre Empathien laufen über die in ihnen abgebildeten Gegenstände, die verschwindenden Dachböden, Bretter, die Ornamente alter kohlengezeichneter Gebäude, die Friedhöfe, Flüsse, Ebenen und ihre Tiere. Sie stocken, sie brechen abrupt ab, in allen dreien schleicht sich ein fatalistischer „Höllen-Unterton“. Statt wie bei Mitchell gewohnt etwas über ihren einfokussierten Gegenstand zu erzählen, erzählen sie über ihren Schöpfer, der seiner eigenen Gabe müde geworden ist und eine zweite nicht findet. Ein menschlich interessanter Abschluss der Diaphanes-Reihe um die perfekten Texte von Joseph Mitchell (über andere).

Jonis Hartmann

Joseph Mitchell: Street Life, Diaphanes, Zürich 2021

https://www.diaphanes.net/titel/street-life-6859