2. Mai 2021

Tristesse im Siegerland


von Jörn Birkholz


Meine Lesung im Seniorenzentrum ist zu Ende. Es wird viel geklatscht und viel gehustet. Eine ältere Dame im Rollstuhl erwacht und schreit auf. Darauf kommt die Betreuerin zu ihr und fragt nach ihrem Befinden.

»Ich will sterben«, ist die direkte Antwort.

»Aber Margarethe, nicht so pessimistisch, das war doch ein toller Vormittag heute, oder? Der nette Mann (sie weist auf mich) hat doch so schöne lustige Geschichten vorgelesen.«

Margarethe blickt mich mit feuchten, apathischen Augen an und wiederholt:

»Ich will sterben.«

»Na, Margarethe, dann bring ich dich mal lieber wieder auf dein Zimmer.«
Ich beginne meine Sachen, sprich meine Bücher, in den Rucksack zu packen. Sie zum Verkauf anzubieten halte ich für aussichtslos. Eine Seniorin kommt direkt an meinen Tisch geschwebt. Mit glasigen Augen strahlt sie mich an.

»Danke«, ruft sie pathetisch, »danke, dass Sie mit Ihren schönen Geschichten unsere Herzen erheitert haben, wo wir doch alle in so dunklen Zeiten leben.«

»Ja, immer wieder gerne.«

»Es gibt so viel Leid auf der Welt, und wenn Gott uns Freude schenkt, dann sollte man sie auch empfangen und dankbar und demütig sein, denken Sie nicht?«

»Unbedingt.«

»Ich war Lehrerin und hab da viel Elend gesehen, Kinder, die vom Vater und der Mutter geschändet wurden. Nur Gott zeigt uns den Weg aus dem Schmutz und der Schmach.«

»Natürlich, wer, wenn nicht der.«

»Sehen Sie, und ich wünsche Ihnen auch ganz viel Kraft in dieser unbarmherzigen Welt.«

»Ja, danke, Ihnen auch.«

Ihre religiös verseuchten Augen strahlen mich weiterhin an. Dann geht sie. Ich nehme meinen Rucksack und gehe ebenfalls. Obwohl etliche Zuhörer schon vor Minuten den Raum verlassen hatten, laufen einige jetzt mit ihren Gehhilfen und Rollstühlen in den schmalen Gängen zeitlupenartig vor mir. Was bleibt mir übrig, als mich in Geduld zu üben. Ich höre, wie die eine Gehhilfe zum Rollstuhl sagt:

»Na, das war doch schön heute oder, was, Elisabeth?«

»Ja«, antwortet Elisabeth. Ein Huster folgt.

»Wo war denn der Heinz heute?«, fragt die Gehhilfe.

»Der ist tot«, antwortet Elisabeth. Ein weiterer Huster.

Vorm Eingang laufe ich der Dame vom sozialen Dienst in die Arme.

»Also, dann Danke noch mal, Herr Birkholz. Ich glaube, unseren Bewohnern haben Ihre amüsanten Geschichten sehr gefallen.«

»Das freut mich.«

»Das sollten wir bald mal wiederholen, was, Herr Birkholz?«

»Ja von meiner Seite gerne. Wie wäre es nächste oder übernächste Woche?«

»Oh nein, Herr Birkholz, ich habe da eher an die Adventszeit gedacht, so kurz vor Weihnachten.«

»Äh, wir haben April.«

»Ja genau, der Frühling kommt. Aber in den grauen Herbst und Wintermonaten wäre das doch mal wieder eine schöne Idee, was meinen Sie?«

»Bestimmt.«

Draußen kommt mir eine ältere Dame entgegen und fragt mich:

»Haben Sie meinen Bruder gesehen?«

Ich verneine.

»Sind Sie mein Bruder?«

Ich verneine noch mal, schwinge mich auf mein rostiges Fahrrad und mache mich auf den Weg zur nächsten Seniorenresidenz.

Ich sitze vor etwa vierzig Rollstühlen, und der Text kommt an. Mal wird gelacht, mal gehustet, mal wird dazwischengerufen, also im Großen und Ganzen eine gelungene Veranstaltung. Am Ende gibt’s durchwachsenen Applaus, wie es sich gehört. Ich schicke mich an zu gehen, für heute ist Feierabend.

»Wer hat das Buch denn geschrieben?«, ertönt plötzlich die Frage. Von wem sie kam, hatte ich nicht mitbekommen.

»Äh, von mir.«

»Ja, ja.« Kollektive Empörung macht sich breit.

»Jetzt aber nicht mit fremden Federn schmücken, junger Mann«, zischt ein dicklicher Glatzkopf.

Ich schaue in die Runde. Ungläubigkeit blickt mich nahezu aus allen Gesichtern an.

»Äh, ja. Ich hatte Ihnen doch erzählt, dass die Brokkoli-Geschichte im Gemüsegeschäft autobiografisch ist.«

»Ja, ja, Sie können uns ja viel erzählen.«

Allgemeine Zustimmung. Etwas hilflos blicke ich zu der Betreuerin.

»Doch, doch, Herr Birkholz hat das alles selbst erlebt, was er geschrieben hat«, versucht sie mir beizustehen. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass auch sie mir nicht ganz glaubt.

»Na ja«, werfe ich ein, »also alles jetzt nicht. Das meiste ist schon fiktiv.«

»Was«, rufen zwei ältere Damen mit Rollator.

»Ich meine ausgedacht.«

»Ja, und von wem ist das Buch jetzt ausgedacht?«, geht die Fragestunde weiter.

»Ja, also noch mal, von mir. Ehrenwort. Hier vorne steht ja auch mein Name.«
Ich halte mein Buch in die Höhe.

»Wir können nichts sehen.«

Wieder eilt mir die Betreuerin zu Hilfe, nimmt mein Buch an sich und zeigt es in die Runde. Einige Herrschaften setzen ihre Lesehilfen auf.

»Auf dem Buchrücken ist auch noch mein Bild«, fällt es mir endlich ein.

»Sie haben’s mit dem Rücken, Sie sind doch noch jung?«, fragt mich eine zerknitterte Dame mit eingefallenem Gesicht von der Seite. Ich bin überfordert und ignoriere sie.

»Das sind Sie ja gar nicht«, beschwert sich jetzt ein älterer Herr mit beneidenswert vollem grauen Haar.

»Doch, das bin ich, wer sonst … okay, das Bild ist schon etwa zehn Jahre alt, das Buch ja auch …«

»Schon so lange lesen Sie aus einem fremden Buch vor? Dann müssen Sie es ja mittlerweile schon fast auswendig können.«

»Äh …«

»So, dann bedanken wir uns jetzt alle noch mal ganz kräftig bei Herrn Birkholz für die schöne Lesung«, versucht die Betreuerin das Thema endlich abzuschließen, und stimmt erneuten Applaus ein, der noch deutlich unmotivierter ausfällt als der vorangegangene.

»Schreiben Sie doch selbst mal ein Buch«, ergänzt das Vollhaar.

»Werde ich mal machen«, gebe ich es auf und packe meinen Kram zusammen. Meine Verkaufsexemplare lasse ich gleich im Rucksack.

»Nächstes Mal bringen Sie dann lieber Ihr eigenes Buch mit, Herr Birkholz, oder?«, verabschiedet sich die Betreuerin von mir, nachdem sie mir die neunzig Euro für die Lesung (hundert war der Heimleitung zu viel) mit Quittung überreicht hatte.

»Ja, werde ich machen«, antworte ich, nehme schnell das Geld, schwinge mich auf mein Rad und mache, dass ich verschwinde.

Zu Hause streiche ich diese Seniorenresidenz von meiner Liste und fange an, ein neues Buch zu schreiben. Es handelt von einem Autor, der in einem Seniorenheim aus einem Buch vorliest, das er nicht selbst geschrieben hat.