19. März 2021

Abschaffung der Identität


Essay von Marcus Quent

Kürzen wir ein wenig ab: Die Abschaffung der eigenen Identität, nicht ihre Erhaltung, ist der Umschlagpunkt von radikaler Politik. Diese Bestimmung ist freilich weder ganz neu noch leistet sie eine umfassende Definition von Politik. Sie sich in den aktuellen identitätspolitischen Auseinandersetzungen dennoch in Erinnerung zu rufen, ja, sich ihre seltsame Abwesenheit vor Augen zu führen, dürfte hilfreich sein, um ein wenig über das aufgeheizte Schattenboxen hinauszukommen, das momentan [immer noch], insbesondere im deutschsprachigen Raum, die Debatten um Identitätspolitik beherrscht.

Der Umstand, dass die Idee einer Abschaffung der eigenen Identität heute, sofern man sie nicht einfach belächelt, in identitätspolitischen Zusammenhängen als anstößig und störend, als demütigend und verletzend empfunden wird, ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass wir uns in einer Zeit der Restauration befinden. Das Freiheitsversprechen, das die Idee einer solchen Abschaffung in sich trägt, droht auch in progressiven Kreisen unverständlich zu werden. Politisches Denken, das den Fluchtpunkt einer Abschaffung der Identität jedoch aus den Augen verliert, ordnet sich zwangsläufig den restaurativen Tendenzen der Gegenwart unter. Im Zuge dieser Unterordnung kommt es zu einer regelrechten Verselbstständigung identitätspolitischer Mittel. Die politischen Ziele, zu deren Umsetzung sie einstmals die adäquaten Mittel sein sollten, verflüchtigen sich. Das kann man unter anderem daran erkennen, dass es gegenwärtig eine Art des kritischen Diskurses gibt, bei dem immer von Emanzipation die Rede ist, letztlich aber nichts anderes als die umfassendere Integration in den Kapitalismus anvisiert wird.

Radikaler Politik geht es demgegenüber immer um Formen der Außerkraftsetzung, Durchkreuzung und Überwindung von Identitäten. Deshalb ist beispielsweise eine Gleichsetzung der Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts mit heutigen Formen von Identitätspolitik irreführend. Ignoriert wird bei einer solchen Angleichung, dass der Begriff „Proletariat“ nicht einfach einen neuen Identitätsmarker ins Spiel brachte. Es handelte sich vielmehr um eine Identitätsposition, die in ihrem Auftauchen gewissermaßen das System der Identitäten sprengen sollte, in das sie eingelassen war. Sie zielte auf die Überwindung jenes Systems, das der „Identität“ des „Proletariers“ überhaupt erst Bedeutung verlieh. Der Aufruf „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ war zu keiner Zeit einer, der die Kultivierung von Verhaltensweisen propagierte oder die Etablierung von Schutzräumen zum Ziel hatte, sondern die Überwindung des Systems, das Schutzräume notwendig macht. Der heutige Blick auf die Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts, der in ihnen eine Spielart von Identitätspolitik wiedererkennt, ist Teil eines opportunistischen Aktes der Eingemeindung. Er täuscht eine historische Tiefenschärfe und Sensibilität vor, wo er in Wirklichkeit die Differenz kassiert, die eine ums Ganze ist. 

Die vergessene, verdrängte oder ignorierte Geschichte emanzipatorischer Bewegungen herauszuarbeiten, kann eine Form des Widerstands gegenüber pauschalen und undifferenzierten Angriffen gegen Identitätspolitik sein. Sie bleibt jedoch ihrerseits unzureichend, wenn die Geschichte zur Legitimation gegenwärtiger Politikformen in ihrem restaurativen Grundcharakter eingesetzt wird. Wer im Angesicht einer „großen Koalition der Anti-Identitätspolitik“[1] Differenzierung und Sensibilisierung für historische Kämpfe einfordert, darf nicht seinerseits undifferenziert alle queer-feministische Politiken der Gegenwart friedlich neben Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts oder den politischen Kämpfen der 1960er Jahre aufreihen. Wer in die Defensive geratene Politikformen durch eine bewegungsgeschichtlich informierte Analyse den Rücken stärkt, sich aber davor scheut, den radikalen, revolutionären Impuls, den man an diesen Bewegungen der Vergangenheit herausgearbeitet hat, in den gegenwärtigen identitätspolitischen Zusammenhängen zu verorten oder, falls dies nicht möglich ist, zumindest Gründe seines Fehlens in der Gegenwart näher zu beleuchten, stützt den restaurativen Charakter der Zeit.

Die Kritik an linken wie rechten Identitätspolitiken ist in der gegenwärtigen Situation nicht mit Autoren wie Mark Lilla oder Francis Fukuyama im Gepäck zu betreiben, die einen Universalismus vertreten, der auf einer Reanimierung des bürgerlichen Bekenntnisses beruht,[2] sondern mit Autoren wie beispielsweise Asad Haider, die demgegenüber ein Universelles starkmachen, das sich in den Momenten des Aufstands, der Rebellion und des Kampfes herausbildet. In seinem Buch Mistaken Identity zeigt Haider, bezogen auf den US-amerikanischen Kontext, dass die heute etablierten Formen von Identitätspolitik oftmals „Neutralisierungen“ früherer politischer Kämpfe durch gesellschaftliche Eliten darstellen. Gewissenhaft arbeitet er heraus, wie der politische Gehalt von Bewegungen gegen rassistische Unterdrückung angeeignet, umgewendet und entkernt worden ist.[3]

Den „aufständischen Universalismus“, für den er demgegenüber am Ende seines Buches eintritt, muss man vom liberalen Universalismus des Rechts in seiner abstrakten Form unterscheiden. Beim „aufständischen Universalismus“ liegt der Akzent darauf, dass das widerständige Handeln von konkreten Subjekten weder einfach Zeichen eines Partikularismus ist noch mit dem Universalismus in der juridischen Form der Bürgerrechte in eins fällt.[4] Die juridische Form zehrt vielmehr vom „aufständischen Universellen“, dessen Sediment sie ist. Universalität, schreibt Haider, gibt es nicht in „abstrakter Form“ oder als „präskriptives Prinzip“, das man mechanisch anwenden kann. „Stets wird sie geschaffen und wiedererschaffen im Akt des Aufstands, in dem Befreiung nicht nur für diejenigen gefordert wird, die meine Identität teilen, sondern für alle.“[5]

Obgleich Aufstände immer an spezifische Orte und Umstände gebunden sind, rühren die an ihm Teilnehmenden im Akt des Aufbegehrens an einen Punkt des Unendlichen. Es ist dieses Rühren an ein letztlich unpersönliches und außerzeitliches Moment im Akt des Widerstands, das sie über die Orts- und Zeitgebundenheit ihres jeweiligen Kampfes, über dessen spezifische Umstände, Kontexte und Abstammungslinien hinausträgt. Dieses aufständische Universelle ist der blinde Fleck der gegenwärtigen Debatten um Identitätspolitik, den die bürgerlich-liberalen Kritiker und die linken Verteidiger der Identitätspolitik teilen. Während die Blindheit bei den Erstgenannten nachvollziehbar sein mag, ist sie bei den Letztgenannten umso schmerzlicher.

Selbst wenn man die Annahme vertritt, dass letztlich jede Form der Politik identitätspolitisch gerahmt, auf einen identitätspolitischen Kontext zurückgeführt werden kann, so folgt daraus nicht automatisch, dass jede Politik diesen unausweichlichen identitätspolitischen Kontext und diese potenzielle identitätspolitische Rahmung als ihren eigenen Anfangspunkt affirmieren muss. Diese falsche Schlussfolgerung ist das Missverständnis des zeitgenössischen Relativismus, der sich selbst als kritisch versteht. So wie nichts und niemand – keine Idee, keine Handlung, keine Institution – davor gefeit ist, empirischer Gegenstand einer Perspektivierung, Kontextualisierung und Relativierung zu werden, der auf seine unartikulierten Bedingungen befragt und zurückgeführt wird, so ruinös ist es zugleich, Politik auf diese kritischen Akte der Perspektivierung, Kontextualisierung und Relativierung zu beschränken, Politik einzuschließen in das reflexive Denken ihrer jeweiligen Bedingtheit, – Politik so weit zu reduzieren, dass am Ende überhaupt nichts anderes mehr denkbar ist, als die immer wieder aufs Neue affirmierte und absolut gesetzte Bedingtheit und Relativität von allem und jedem.

Die Aussage, dass es „kein Jenseits der Identitätspolitik“[6] gibt, ist empirisch zwar unvermeidlich und richtig – aber dennoch zugleich absolut unwahr. Für die Idee von radikaler Politik ist diese Aussage desaströs, weil sie in ihrer absoluten Form Politik nicht etwa stärkt, sondern sie zum Verschwinden bringt. Ob in der Politik, in der Kunst oder in der Philosophie, bei dem kritisch-reflexiven Fingerzeig, der an die Kontextgebundenheit erinnert, handelt es sich heute um die maßgebende, am stärksten akzeptierte und eingespielte, die durch und durch konformistische Geste der Gegenwart.

Geht es heute um eine kritisch-solidarische Einschätzung aktueller identitätspolitischer Theorie- und Praxisformen, muss man sich stets fragen, ob dieses Denken, Streiten, Handeln von einem aufständischen Universalismus belebt wird, der auf den Punkt einer Selbstabschaffung der Identität zielt. Theorien und Praktiken identitätspolitischer Stoßrichtung unterhalb des Anspruchs eines aufständischen Universellen anzugreifen oder zu verteidigen, das heißt unterhalb jenes Punkts, wo der politische Kampf an eine Selbstabschaffung der Identität rührt, für oder gegen Identitätspolitik zu argumentieren, ist eine müßige Unternehmung, die den restaurativen Rahmen der Gegenwart stützt. Befreiung gibt es immer nur als Befreiung von Identität, niemals aber auf dem Weg ihrer Stärkung. Deshalb ist es nicht der Moment der Entfaltung, Ausweitung und Konservierung der Identität, der den Akt der Befreiung auszeichnet, sondern der ihrer Selbstabschaffung. Welcher von beiden Momenten jeweils dominant ist, gibt letztlich Auskunft darüber, ob eine Politik zur Restauration beiträgt – oder sie durchbricht.

[Auszug aus einem Text, der im April 2019 verfasst wurde. Als Statement vorgetragen bei der Podiumsdiskussion „Identitätspolitik und ihre Kritik“ im Institut für Zukunft Leipzig.]

[1] Silke van Dyk, „Identitätspolitik gegen ihre Kritik gelesen. Für einen rebellischen Universalismus“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 9-11/2019, 25. Februar 2019, S. 25-32.

[2] Mark Lilla, The Once and Future Liberal. After Identity Politics, New York 2017; Francis Fukuyama, Identity. The Demand for Dignity and the Politics of Resentment, London 2018.

[3] Asad Haider, Mistaken Identity. Race and Class in the Age of Trump, London / New York 2018.

[4] Auf ein „rebellisches Universelles“ kommt auch François Jullien zu sprechen. Es ist ein Universelles, „um das man kämpfen muss“, weil es „niemals vollständig ist“ und „unaufhörlich den Horizont erweitert“. Jullien stellt dieses Universelle jeder Form einer „zum Stillstand gekommenen Positivität“ gegenüber und damit einem Universalismus, der meint, „Universalität für sich beanspruchen zu können.“ Problematisch an dieser Auffassung des „rebellischen Universellen“ ist, dass es den rebellischen Charakter letztlich nicht an den Akt des Aufstands, an eine widerständige Praxis knüpft, die mit einer realen Präsentation einhergeht, sondern aus seinem Status als regulative Idee ableitet. Vgl. François Jullien, Es gibt keine kulturelle Identität, Berlin 2017, S. 30 f. In ihrer Zurückweisung der „großen Koalition der Anti-Identitätspolitik“ taucht auch am Ende von Silke van Dyks Text ein „rebellischer Universalismus“ auf. Bei ihr bleibt der Begriff jedoch leer und hat eher tentativen Charakter. Vgl. Silke van Dyk, „Identitätspolitik gegen ihre Kritik gelesen“, a.a.O., S. 32.

[5] Asad Haider, Mistaken Identity, a.a.O., S. 113.

[6] Patricia Putschert, „Es gibt kein Jenseits der Identitätspolitik. Lernen vom Combahee River Collective“, in: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, 1/2017, S. 15–22