8. Februar 2021

KEIN SOLCHER SIEGERTYP



Von Wolfgang W. Timmler

BÄRBEL SITZT ZWISCHEN UMZUGKARTONS AUF EINEM HOCKER UND SCHAUT IHRER SCHWESTER ZU, DIE TOPFBLUMEN AUF DER FENSTERBANK GIESST. IHRE SCHWESTER IST HEUTE UMGEZOGEN.

ANDREA    Und? Alles klar bei dir?
BÄRBEL    Ja.
ANDREA    Bist du sicher?
BÄRBEL    Ja. Alles bestens. Mir geht's gut.
ANDREA    Was macht Ben? Wie geht's ihm?
BÄRBEL    Schlecht.
ANDREA    Warum das?
BÄRBEL    Er ist ohne Arbeit.
ANDREA    Das tut mir leid.
BÄRBEL    Ach, was! Du hast ihn doch noch nie leiden können.
ANDREA    Warum?
BÄRBEL    Warum was?
ANDREA    Warum ist er ohne Arbeit?
BÄRBEL    Darum.
ANDREA    Lass mich raten: Nichteignung.
BÄRBEL    Hör' mal! In der Politik geht es am Ende doch immer nur darum, wen du kennst und was er für dich tun kann.
ANDREA    Beruhige dich! So habe ich das doch nicht gemeint.
BÄRBEL    Ich denke, es ist wichtig, dass dir die Arbeit auch Spaß macht. Sonst wachst du jeden Morgen auf mit dem Gefühl, du gehst heute wieder deinen Beruf schwänzen. (SIE SCHLUCHZT.)
ANDREA    He! Was ist los?
BÄRBEL    Nichts.
ANDREA    Ich habe es wirklich nicht so gemeint.
BÄRBEL    Ja, ich weiß. (SIE SCHLUCHZT HEFTIG.) Das ist auch nur deswegen, weil ich kein solcher Siegertyp bin wie Cäcilie Hofmeister.
ANDREA    Wer ist Cäcilie Hofmeister?
BÄRBEL    Bens Geliebte.
ANDREA    Ben betrügt dich?
BÄRBEL    Aber für Ben ist sie Anna Niehm.
ANDREA    Anna Niehm?
BÄRBEL    Ja.
ANDREA    Was wird das jetzt? So ein Doctor-Jekyll-und-Mister-Hyde-Ding?
BÄRBEL    Nein, viel schlimmer. (SIE SCHLUCHZT.) Amor-Chat.
ANDREA    Du kennst diese Cäcilie Hofmeister?
BÄRBEL    Nicht persönlich.
ANDREA    Diese Cäcilie Hofmeister gibt es aber wirklich?
BÄRBEL    Ja.
ANDREA    Sicher?
BÄRBEL    Ich bitte dich! Ich bin doch nicht verrückt!
ANDREA    Bist du sicher?
BÄRBEL    Es ist alles so verzwickt, weißt du. Sie ist seine Chefin gewesen.
ANDREA    Du liebe Güte! Er betrügt dich mit seiner Chefin?
BÄRBEL    Ex-Chefin, genau gesagt. Jetzt ist sie ja nicht mehr seine Chefin.
ANDREA    Wieso?
BÄRBEL    Sie hat die Wahl verloren und sitzt nicht mehr im Bundestag.
ANDREA    Das geschieht ihr recht!
BÄRBEL    Sie hat allen ihren Mitarbeitern gekündigt.
ANDREA    Typisch!
BÄRBEL    In der Politik hat Ben einfach kein Glück.
ANDREA    Ich wußte, der Kerl ist ein Versager. Das hab' ich dir gleich gesagt, als ich ihn das erste Mal gesehen habe.
BÄRBEL    Ich weiß. (MIT EINEM TASCHENTUCH WISCHT SIE SICH DIE TRÄNEN AB.)
ANDREA    Wie lange geht das schon zwischen den beiden?
BÄRBEL    Seit Ben für sie gearbeitet hat, denke ich.
ANDREA    So ein Schwein!
BÄRBEL    Sie ist aber auch nicht viel besser.
ANDREA    Immerhin hat sie ihn abserviert.
BÄRBEL    Ich dachte zuerst auch, sie hätten sich getrennt, aber wie sich jetzt herausstellt, schreiben sie sich.
ANDREA    Ich verstehe, sie treffen sich im Netz.
BÄRBEL    Schön wär's! Ich habe gehört, wie er sich am Telefon mit ihr verabredet.
ANDREA    Und?
BÄRBEL    Was und?
ANDREA    Hast du ihn zur Rede gestellt?
BÄRBEL    Nein.
ANDREA    Du lässt dir das gefallen? Wieso?
BÄRBEL    I. L. I.
ANDREA    I. L. I.?
BÄRBEL    I. L. I.
ANDREA    I. L. I.! I. L. I.! Das kann doch nicht dein Ernst sein?
BÄRBEL    Er weiß ja nicht, dass ich weiß, dass er sich mit ihr trifft.
ANDREA    Du liebe Güte! Geht's dir noch gut?
BÄRBEL    Nein, das siehst du doch. Mir geht's nicht gut.
ANDREA    Und warum schaffst du dir dann das Problem nicht vom Hals?
BÄRBEL    Du meinst Ben?
ANDREA    Ja, Ben! Wen sonst?
BÄRBEL    Ja, Ben ist ein Problem. (SIE STEHT AUF.)
ANDREA    Wo willst du hin?
BÄRBEL    Mich ertränken. Wo ist bei dir das Bad?
ANDREA    Die letzte Tür links.

BÄRBEL VERLÄSST DAS ZIMMER, UND IHRE SCHWESTER KÜMMERT SICH WEITER UM DIE BLUMEN.



Illustration: Wolfgang Timmler