15. Dezember 2020

BRÜCKENSCHLAG


Von Leon Ospald


Am Brett neben dem Büro hing die Anzeige: „Schauspieler gesucht!“ Für drei Tage auf einem Stadtfest sollte es hundertfünfzig Euro geben. Welche Rolle man zu spielen hatte, stand nicht dabei. Nur noch der Aufruf: „Seid offen – seid spontan – kommt zahlreich!“ Damit hatten sie uns. Offen und spontan wollten wir sein, schon um unserem Berufsbild etwas mehr zu entsprechen, und Geld brauchten wir sowieso immer. Also pilgerten wir Samstag früh los und kamen wie vereinbart um zehn Uhr in der Osakaallee an.
Es war heiß. Das Licht sprang zwischen den Fenstern der Neubauten und den Steinplatten der Kais hin und her und schnitt mir in die Augen. Die HafenCity präsentierte sich wie ein Fingerzeig auf eine entleerte und trostlose Zukunft: kein Riss, keine Pflanze, kein Merkmal machte ein Angebot, sich mit dem Ort zu verbinden. Die Botschaft, die von den Häusern ausging, war deutlich: Hier lebt, wer einem unsteten Leben entkommen ist. Hier herrscht Wohlstand neben Gesundheit und Schönheit über den Alltag. Nach der Fahrt über die Elbe aus dem Süden der Stadt, wo ich in einem Viertel mit Menschen aus allen Ländern der Welt lebte, wo Straßen mehr waren als die Möglichkeit, einen Weg zurückzulegen, wo der Verfall der Gebäude erlebbar war, erschlugen mich die Blöcke aus Backstein, Stahl und Glas der HafenCity, in ihrer Ästhetik aus Glattheit und Unpersönlichkeit. Neben einem Pavillon mit einer Kaffeebar warteten wir auf unsere Anweiserin. Aus irgendeinem Grund waren wir alle aufgekratzt. Wir erwarteten eine schauspielerische Herausforderung und hatten keine Ahnung, was es für uns auf dem 1. HafenCity-Geburtstag 2012, dem 1. Stadtfest im Viertel der Neureichen, zu tun geben würde. Also alberten wir herum. Wie immer, wenn wir als Schauspielklasse unterwegs waren. Jeder hatte etwas zu erzählen oder eine Szene aus dem Unterricht nachzuspielen oder sich sonst wie in den Vordergrund zu drängen.
Eine Frau in einem weißen Hemd und dunkler Hose schoss auf uns zu, an ihrem Gürtel hing ein Walkie-Talkie und ein Headset über den Perlenohrringen, machte deutlich, dass sie etwas zu sagen hatte. Ohne Begrüßung fragte sie unsere Namen ab und ritzte Häkchen auf ihr Klemmbrett.
„Ihr seid die Arbeitsgruppe ,studentisches Leben‘. Euer Platz ist da drüben.“ Mit lackierten Nägeln schnitt sie eine Linie in die Luft und zeigte auf einen Platz am Ende des Kais: Weiße Bodenplatten, Sitzbänke aus Stahl, einjährige Bäume in Karrees aus Stein und außen herum viel Leere.
„Da haltet ihr euch auf.“
„Und was machen wir da“, fragte jemand aus unserer Gruppe.
„Gebt euch studentisch.“
Ah ja. Wir nickten uns zu. Studentisch. Klare Anweisung. Das können wir spielen.
„Ihr bekommt eine paar Utensilien.“
Requisiten. Klasse.
„Frisbeescheiben, Volleyball, etwas in der Art. Bitte bleibt an eurem Platz. Und am wichtigsten: Habt Spaß!“
Wir tigerten los. Voller Tatendrang, unsere Rollen als Studenten auszufüllen.
„Noch etwas“, rief sie uns nach, „kein Alkohol, bitte!“
„Also sollen wir ernsthafte Studenten spielen?“, fragte Mio, ohne eine Spur Ironie in seinen Hundeaugen. Aber unsere Klassensprecherin rannte bereits weiter und brüllte dabei in ihr Headset.
Um unsere Bühne waren zwei Pavillons aufgebaut. Eines für Cocktails und eines für Krabbenbrötchen. Zum Wasser hin begrenzte ein Geländer die Spielfläche. Ein Gehilfe der Klassensprecherin, ebenfalls in weißem Hemd und mit Headset, brachte eine Kiste. Volleyball, Federball, Frisbeescheibe, Hacky-Sack – das wars also, was wir spielen sollten. In der nächsten Stunde verausgabten wir uns. Die Sonne knallte, und wir sprühten Spielfreude und Schweiß über die Steinplatten. Zuschauer hatten wir keine. Am Kai der Osakaallee waren ebenfalls Pavillons aufgebaut. Für Getränke, Kaffeebars, Grillspieße: Überall warteten Leute hinter den Verkaufstheken auf Besucher.
Ich spielte den Ball mit einem langen Schlag an Mio zurück, er verpasste ihn und lief dem Ball nach. Ich schaute mich um. Die Sonne stand über uns. Wolken gab es keine, und von überall reflektierte das Licht und schoss zwischen Planen, Steinplatten, Stahl, Glas und den Wellen der Elbe hin und her. Sebbo und Chris spielten Hacky-Sack, engagiert, aber ohne Talent. Jedes Mal wenn der Stoffball ihnen runterfiel, lachten sie oder beschimpften sich oder drehten sich im Kreis, auf der Suche nach Zuschauern. Aber da war niemand. Nur die Verkäufer im Cocktailpavillon und hinter den Krabbenbrötchen auf Eis, starrten zu uns rüber und sogen an ihren Zigaretten. Mio kam mit unserem Ball zurückgerannt. Den runden Schatz vor der Brust, die Augen aufgerissen, bereit zum Monolog im Rampenlicht. Ich winkte ab. Mir war nicht mehr nach Ballspielen. Statt zu mir schlug er den Ball zu Mira. Sie verpasste das Zuspiel und rannte wie eben Mio. Das Spiel ging weiter. Ich ging vom Platz. Das Stadtfest war leer. Wenige Leute liefen an den Pavillons vorbei, aber sie blieben nicht stehen. Sie kamen aus den Häusern, an denen ich bisher rätselnd vorbeigelaufen war und mich gefragt hatte, wer darin wohnte. Sie kamen aus den Häusern und verließen die HafenCity in Richtung Speicherstadt. Ich starrte ihnen jedes Mal nach, wenn die Tür eines Bunkers sich öffnete, ein Mensch, auf zwei Beinen, in heller oder dunkler Kleidung, mit Haaren auf dem Kopf herauskam, eine Sonnenbrille aufsetzte, die Pavillons beäugte, den Kopf schüttelte und dann davonging. Sie waren der Beweis: Hier lebten Menschen! Irgendwie. Eine Frau auf Rollschuhen raste die leere Promenade entlang. Sie trug quietschige Farben. Alles in Neon, auch die Bänder im Haar. Sie drehte sich in voller Fahrt immer wieder um sich selbst. Die AG Unterhaltung dachte ich mir, als sie mit blitzenden Zähnen an mir vorbeischoss. Ich taufte sie Knallbonbon.
Am Ende der Promenade, wenn nur noch die Elbe und mit ihr Containerschiffe den Blick auf sich ziehen, war eine Bühne aufgebaut. Keine richtige Bühne. Bloß ein Viereck, auf dem eine Plane ausgebreitet war. Lautsprecher und Scheinwerfer auf Stativen an allen vier Ecken und in der Mitte eine Gruppe Tänzer, die in der Sonne lagen und dösten. AG Show, dachte ich mir.
„Was machst du hier?“ Die Klassensprecherin hatte mich entdeckt.
„Ich suche Zuschauer“, sagte ich ihr und schwenkte die Arme, als ob ich sie aus der Luft fischen wollte. „Ich kann aber keine finden.“
„Das ist auch ein Stadtfest und kein Theaterstück.“ Ihre Augenbrauen trafen sich in einer scharfen Falte über der Nase.
„Aber wenn niemand da ist, wer feiert denn hier was?“
„Mach du doch deinen Job, und der Rest findet sich. AG Studentisches Leben warst du, ja?“
„Ja.“
„Na dann ... “
Ihr Blick steckte mir wie eine Lanze zwischen den Schulterblättern, als ich die Promenade zurücktrottete. Knallbonbon fuhr auf ihren Rollschuhe auf mich zu, drehte zwei, drei irrwitzig schnelle Kreise, blitzte mit ihren Zähnen, gillfte einmal und raste weiter.
Auf unserem Platz hatte sich die gleiche Ödnis ausgebreitet, die das gesamte Stadtfest bisher beherrschte. Meine Kommilitonen lagen in der Sonne. Als ich näher kam, waberte der Geruch von Gras in meine Nase.
„Studenten!“, schrie ich und gab den Hitler. „Was soll bloß aus euch werden? Faulenzer, Drückeberger. Schwaches Fleisch. Die Zukunft der Nation liegt am Boden und kifft!“
Keine Reaktion. Nur Mio hob den Kopf von irgendjemandes Bein.
„Komm, Addi. Gib a Ruh und leg di ab.“
Ich tat‘s genauso wie Mio im schönsten Bayerisch befohlen hatte. Und Ruhe war’s.
Die Hitze vertrieb uns bald aus der Sonne. Wir legten uns in den Schatten des Cocktailpavillons, rauchten, warfen den Ball lasch zwischen uns her und warteten.
Ein Pärchen, ein Mann und eine Frau, kamen Hand in Hand über unsere Spielfläche auf uns zu. Beide trugen Stoffsachen in Braun und Grün und waren auf den ersten Blick beide sehr haarig.
„Seid ihr die AG Studentisches Leben?“, fragte der Mann über sein Ziegenbärtchen hinweg.
„Wer wuis wissen?“ Mios Kopf schnellte hoch.
„Wir.“ Sagte die Frau.
„Und wer seids ihr? Gebts euch zu erkennen!“
„Wir sind die AG Reisen.“
„Aha. Wo gehts hin?“
„Was sollt ihr machen?“ Fragte Chris und schlug Mio auf den Bauch.
„Geschichten von unserer Reise durch Afrika erzählen“
„Dann fangts an!“ Chris haute Mio noch mal und der kippte schreiend zurück und wurde stumm.
„Wir hängen hier schon länger rum“, versuchte Chris als Entschuldigung für Mio.
Das Paar erzählte uns dann ihre Reise. Sie erzählten, wie sie von Marokko aus ihre Reise angefangen hatte. Nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln waren sie unterwegs gewesen, um einen authentischen Eindruck zu bekommen. Sie erzählten von Durchfall im Zug, von Sonnenuntergängen, von Dafur, von Dhakar, von Partys am Strand. Irgendwo zwischen ethnischen Konflikten und Lebensfreude musste ich eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte, lag das Paar mit uns im Schatten, und der Mann mit Ziegenbart stopfte Hasch in seine Pfeife.
„Ich glaube, da kommt Ärger.“ Mira zeigte mit langem Arm in Richtung der Promenade. Der Gehilfe unserer Klassensprecherin, der gleiche, der uns Spielsachen gebracht hatte, lief auf uns zu und redete wild in sein Walkie-Talkie.
„Auf, Auf, spielts!“ Mio schoss hoch. Wir sprangen ihm nach. Wie aufgezogen warfen wir uns wieder Bälle zu, lachten laut, machten Witze und aus irgendeinem Grund konnte ich nicht aufhören, wie Hitler zu reden. Das Afrika-Pärchen saß voreinander in der Sonne und erzählte sich gegenseitig ihre Reise noch mal von vorn.
Die Belegschaften standen weiter wie ihre eigenen Silhouetten in den Pavillons. Nur der Rauch ihrer Zigaretten verriet, dass sie noch atmeten. Der Gehilfe kam bei uns an. Er schwitzte unter dem gestärkten Stoff seines Hemds. Ich stellte mich zu ihm.
„Was wird hier eigentlich gefeiert?“
Er zuckte zusammen, als ich in ansprach.
„Stadtfest. Wir feiern ein Stadtfest.“
„Und? Kommt noch jemand zum Feiern?“
„Die sind alle in der Altstadt. Da ist auch Stadtfest. 150 Jahre Stadtfest Hamburg. Daher unser Name: Brückenschlag. Wir schlagen eine Brücke zu Altstadt.“ Er redete ohne Atem, ohne Melodie, auf einer Tonlage ratterte er durch die Sätze.
„Dann ist ja richtig blöd, dass keiner kommt.“
Er packte mich am Arm.
„Wir haben den Auftrag, das Image zu verändern. Lebendig, lebensfroh – das soll die HafenCity sein. Die kommen noch, die kommen alle noch.“ Mit diesem Mantra ließ er mich los und dreht ab. Schlurfte zurück zu seiner Chefin für einen Bericht.
Nachdem er weg war, verpuffte unsere Spielfreude ziemlich schnell. Keine zehn Minuten später lagen wir wieder im Schatten. Die Zeit tropfte an uns ab. Nur die Schatten wanderten und wir schauten ihnen dabei zu.
Einer der Verkäufer kam aus dem Pavillon und sagte, dass er zum Supermarkt gehen würde – ob er etwas mitbringen solle. Mio und Lena gingen mit ihm, wir anderen spielten wieder, denn es waren Besucher angekommen. Woher sie gekommen waren, hatte niemand mitbekommen. Vielleicht aus den Bunkern, vielleicht vom Stadtfest in der Altstadt. Sie waren jedenfalls da. In Gruppen schlenderten sie über die Promenade. In leichte Stoffe gekleidet, von der Gelassenheit des Wohlstands umgeben, mit Sektgläsern in den Händen. Sie kamen auch zu uns. Stellten sich an die Pavillons, tranken und aßen Krabben. Die Reise-AG wagte eine Annäherung. Sie erzählte wieder von Durchfall im Zug und von ethnischen Konflikten. Die Krabben wurden dabei weiter verdrückt, die Cocktails durch Strohhalme geschlürft. Jetzt waberten auch die Bässe der Tänzer zu uns herüber und immer wieder blitzten die Neon-Farben von Knallbonons Kostüm auf.
Wir spielten weiter studentisches Leben, lagen in der Sonne, aßen Frikadellen von Netto und tranken Weißwein aus Tetra-Paks. Das Stadtfest war gegen Spätnachmittag gut besucht, ohne jemals die Atmosphäre eines Festes zu erreichen. Kinder waren nicht da. Gelacht wurde wenig, die Gespräche leise, an der Grenze zur Unhörbarkeit geführt. Das Fest hatte eher den Charakter einer Ausstellung, und die Besucher bewerteten die Objekte, die man ihnen präsentierte. Um acht Uhr war alles vorbei: die Wände der Pavillons runtergelassen und verschlossen, unsere Utensilien zurück in der Plastikbox und die Bühne der Tänzer eingerollt und verstaut. Wir bekamen fünfzig Euro in bar und mussten versprechen, am nächsten Tag unsere Performance zu steigern. Denn: „Morgen wirds hier krachen!“, versicherte die Klassensprecherin, bevor sie ins Taxi stieg. Knallbonbon flitzte dem Taxi hinterher und winkte mir zum Abschied.
Ich glaube, sie war den ganzen Tag ununterbrochen die Promenade auf- und abgefahren, hatte gewunken, gegillft, mit den Zähnen geblitzt und Pirouetten gedreht. Ich war völlig erledigt. Die Hitze hatte mich ausgelaugt. Im Gesicht fühlte ich einen Sonnenbrand. Die Haut spannte bereits, und mein Puls puckerte hinter meinen Augen. Der Wein und das Gras hatten das ihre getan. Ich fühlte mich schwindelig, und mir war übel. Morgen also wieder für zehn Stunden Student, dachte ich, als ich an der Steinstraße in die U1 stolperte.
Der nächste Tag machte gleich morgens klar, dass er genauso heiß und windstill wie der davor werden würde. Mit rotem Kopf saß ich kurz nach zehn wieder auf dem Platz am Kai. Ich hatte mir ein Brötchen zum Frühstück mitgenommen. Die Jungs aus dem Krabbenzelt nickten mir zu. Für Feuer kam einer zu mir rüber. Wir verabredeten, mittags wieder gemeinsam bei Netto einzukaufen.
„Vor allem Wasser“, schlug er vor, „die geben uns hier nichts zu trinken. Euch?“
Ich schüttelte den Kopf. Mir gefiel diese Nähe zu den anderen, die hier ihre seltsamen Jobs machten, und gerade Mirko, der jetzt vor mir stand, mochte ich. Aber mir war noch nicht nach reden. Vielleicht, weil der Sonnenbrand auch meine Lippen erwischt hatte und ich bei jeder Bewegung Angst hatte, sie würden platzen.
Eigentlich war es schön auf dem Platz: wenn man sich nur auf den Blick vom Kai aus, den Kanal entlang, bis auf die Elbe konzentrierte und die Häuser, die weißen Steinplatten, das ganze Viertel ausklammerte, war es ein wirklich schöner Platz.
Überall kamen jetzt meine Kollegen an. Von der Bühne auf der anderen Seite des Kais hörte ich wieder die Bässe – wohl ein Testlauf, zum Aufwärmen.
Die Klassensprecherin hatte ihre Gehilfen um sich versammelt. Sie standen am Pavillon mit der Kaffeebar, und jeder hielt einen winzigen Pappbecher in der Hand. Die Firma spendiert einen Espresso, dachte ich und beobachtete, wie Head-Sets, Klemmbretter und Walkie-Talkies unter den Weißhemden verteilt wurden.
Eine Möwe landete vor mir und pickte nach den Krümeln meines Brötchens. Sie plusterte sich auf und kam näher. Über mir kreisten noch mehr Möwen. Die Luft schmeckte nach Salz und Brackwasser. Ich wollte mich zurücklehnen und die Augen schließen. Nur für Minuten noch mal abtauchen und vergessen, dass ich mich heute weiter verbrennen und auf einem Stadtfest rumhängen würde, auf dem niemand feiern wollte. Aber heute sollte es ja krachen, hatte die Klassensprecherin versprochen. Heute würden die Anwohner ihre Lofts verlassen und ihre Nachbarschaft und ihre Gemeinschaft feiern. Wozu brauchen die uns eigentlich, fragte ich mich und kickte nach der Möwe. Sie krächzte mich an und suchte neben meinen Schuhen weiter nach Futter.
Knallbonbon war wieder da. Sie schoss die Promenade entlang, drehte Pirouetten und lächelte so breit, dass ich es bis zu meinem Platz strahlen sehen konnte. Sie winkte und wirkte glücklich, während sie sich drehte und die Neon-Bänder um sie herumflatterten. Die Tänzer probten eine erste Choreografie, die Musik wurde lauter, und ich sah sie lachen, während sie sich gegenseitig die Schritte zeigten, und plötzlich verstand ich, wofür sie wirklich bezahlt wurden: Sie machten einfach das, was sie gerne taten. Rollschuhfahren oder Tanzen. Sie würden es auch ohne Stadtfest, ohne Bezahlung, ohne einen Anlass tun.
Das Stadtfest dagegen ist nicht einfach nur so: Das Label soll geändert werden, Lebensfreude reinbringen – so hatte es mir der Gehilfe der Klassensprecherin, ihre rechte Hand, dieser unmusikalische Final-Satz Mensch erklärt. Wir machen das Stadtfest, um Lebensfreude zu verbreiten. Aber nicht für die Anwohner, sondern um das Image, die Außenwahrnehmung des Viertels, aufzupeppen. Um den neuen Stadtteil noch attraktiver zu machen. Wir verbreiten gute Stimmung, um mehr Wohnungen zu verkaufen. Nicht wir verkauften die Wohnung, aber … Mich traf etwas am Hinterkopf.
„Ey, Adolf. Bereit für mehr Langeweile?“ Es war Mio. Der Volleyball rollte an mir vorbei.
Wieder mit Hitlers Stimme schrie ich: „Jawoll, wir sind bereit“ und sprang von meiner Bank auf. Mio starrte mir erst ins Gesicht und lachte los, bevor er mir als Hitler 2 antwortete.
„Lieber Herr Kollege, die Sonne hat sie wohl ungeschützt erwischt.“
„Ja Herr Kollege, bin nicht gemacht für diese Hitze.“
„Richtig. Man wird faul.“
„Das Fleisch kocht.“
„Das Hirn auch.“
„Schon ist die weisse Haut kaputt.“
„Wir sollten sie vernichten, diese schreckliche Sonne.“
So hätten wir wahrscheinlich unendlich weitergemacht, aber die Klassensprecherin kam und unterbrach uns. Sie baute sich vor uns auf, musterte meinen Sonnenbrand nur flüchtig und hielt dann eine Ansprache, als wollte sie ein Eishockey-Team für das letzte Drittel motivieren.
„Gestern habt ihr euch eingewöhnt. Das geht in Ordnung. Ihr habt Pausen gemacht. Auch in Ordnung. Heute muss da mehr kommen. Mehr von dem, was ihr verkörpern sollt. Ihr seid AG Studentisches Leben und das will ich heute spüren, klar? Wer seid ihr?“
„Äh…“, machte Mio und schaute über die Schulter nach hinten, ob da nicht doch ein Team von zwanzig Leuten stand. Aber wir waren bloß zu zweit.
„Äh…“, machte Mio wieder.
„Ihr seid AG Studentisches Leben. Noch mal. Wer seid ihr?“
„AG Studentisches Leben“, antworteten wir lasch.
„Das geht noch besser. Wer seid ihr?“
„AG Studentisches Leben“, riefen wir.
„Gut – wo ist der Rest von euch?“
„Noch nicht vor Ort …“ Ich glaubte, ich hörte einen leisen Hitlerschen Einschlag in Mios Stimme.
„Wir werden sie antreiben, wenn sie eintreffen“, sagte ich und passte mich Mio an.
„Viel Spaß heute.“
„Jawoll“, riefen wir gleichzeitig und salutierten. Während sie umkehrte und wieder in ihr Head-Set sprach, standen wir weiter stramm, mit den Fingern an den Schläfen.
„Und jetzt“, fragte Mio leise.
„Sollen wir einen rauchen?“
„Nee, ich schlaf sonst gleich weg. Lass erst mal ne Runde zocken. Kiffen tun wir heute noch genug.“
Wir zockten also. Schlugen den Volleyball zwischen uns hin und her. Übten Aufschlag und Annahme, spielten immer längere Pässe und wurden dabei schneller. Die Aufschläge kamen härter und immer öfter schrieen wir uns Anweisungen für den nächsten Pass oder Schlag zu. Wir spielten bestimmt eine Stunde. Es tat gut sich auszupowern. Das viele Liegen in der Sonne, die Trägheit aus den Knochen zu bekommen. Während wir spielten kamen die anderen auch an. Die Klassensprecherin hatte Recht gehabt: das Stadtfest war schon Vormittags besser besucht als gestern. Die Atmosphäre einer Ausstellung blieb trotzdem.
Mittags, gegen eins, ging eine Gruppe los und kaufte bei „Netto“ ein. Nach der Pause lagen wir mit Wein, Trauben und Keksen im Schatten. Niemand mochte sich bewegen.
Aus den Kanälen kroch faulige Luft über den Platz. Seit Tagen wartete man auf den Wind, der die Stadt sonst immer lüftete. Unter der Glocke aus Abgasen und Hitze staute sich alles, was eine Stadt so ausdünstete.
Wir verkrochen uns in den Schatten und wollten ihn nicht mehr verlassen. Nur wenige Besucher standen an den Pavillons oder schlenderten zwischen ihnen umher. Die Weißhemden hatten sich ins Info-Zelt verzogen und offenbar spendierte die Firma neben Espresso auch Eis, denn sie leckten alle an der gleichen gelben Sorte herum. Die Tänzer mussten sich auch verzogen haben. Ich konnte sie nirgends sehen. Sie hatten die Musik angelassen, aber selbst die Bässe schienen nur träge durch die Luft zu kommen. Die Krabben im Pavillon hinter uns lagen zwar auf Eis, aber auch von dort kamen immer wieder Fahnen gammliger Gerüche. Die Langeweile war unerträglich. Es wurde still. Noch stiller, als das Stadtfest ohnehin war. Die Sonne kochte jede Energie aus den Muskeln. Ich döste weg.
Ein Knall, wie von einer Fehlzündung weckte mich auf. Die Gruppe schlafender Körper um mich herum schreckte hoch. Der Knall war von der anderen Seite des Platzes gekommen. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich verstand, was da auf uns zukam: ein Berg aus Stoff und einer roten Perücke sprang in winzigen Bögen auf dem Platz herum. Bei jedem Hüpfer knallte es und der Mann schrie unter der Perücke hervor. Es war ein Clown. Ein enorm fetter Clown, auf so etwas wie einem Presslufthammer. Der Hüpf-Stick auf dem er ritt war aus einem Baumstumpf gezimmert und wuchtete sich bei jedem Stoß aus einem Luftdruckbehälter mit einem Knall ein paar Fingerbreit in die Höhe und nach vorne. Der Clown schrie dazu und wackelte den Kopf, bei seinem Rodeo über den Platz. Wir starrten, ohne uns zu bewegen. Der Clown kam auf uns zu. Fixierte uns mit riesigen Augen und brüllte, dass die Show sofort anfangen würde, wir sollten endlich unsere Ärsche zu ihm bewegen, sein Esel sei müde und er hätte auch nicht ewig Zeit. Wir gehorchten. In einem Halbkreis setzten wir uns um ihn auf den Boden. Er baute sich mit dem Rücken zur Elbe auf, hüpfte noch ein paar Mal auf der Stelle und brüllte dann ein großes Hallo, feuerte Konfetti aus einer Pistole und fing mit der Show an.
Der Clown war schlecht. Er erzählte irgendeine Geschichte einer Reise. Immer wieder packte er dabei seinen Koffer um, spielte Ukulele und ritt auf seinem Esel, dem Presslufthammer. Dann brüllte er herum und sprang bei jedem Knall ein paar Zentimeter durch die Luft. Das machte er jedes Mal, wenn ihm beim jonglieren ein Ball runterfiel, er sich verspielte oder wir nicht lachen wollten. Der Clown machte so viele Fehler, dass er fast jede Minute knallen und brüllen musste, um irgendeinen Effekt zu erzielen. Uns war das egal. Wir hingen blöde auf dem Boden herum und lachten umso mehr, je schlechter die Gags wurden. Die Jungs aus dem Krabbenpavillon kamen dazu. Sie brachten einige Brötchen mit und vor allem: gezapftes Bier in Plastikbechern. Der Platz hinter uns war leergefegt. Die letzten Besucher waren abgehauen, als der fette Clown knallend hier aufgetaucht war. Die Show dauerte länger und länger. Irgendwie wollte der Clown nicht aufhören, schlechte Einlagen aneinanderzureihen: er hatte die Geschichte einer Reise völlig verloren und ballerte bloß noch Konfetti aus seiner Pistole, massenhaft Konfetti, oder er spielte auf seiner Ukulele und erschoss sie nach dem Lied mit der Konfettipistole, oder er balancierte auf dem Presslufthammer und wenn die Nummern nicht klappten, erschoss er auch die Konstruktion aus Holz und Stahlfedern und Rohren mit Konfetti Munition. Er schoss fast nur noch Konfetti in die Luft.
Die Tänzer waren auch gekommen. Knallbonbon hatte sich zu uns gesetzt und ihre Rollschuhe ausgezogen. Sie hieß Mareike und hatte schon im Zirkus gearbeitet. Sie erzählte mir, sie wäre seit gestern auf MDMA. Nur so würde sie solche Jobs überstehen. Sie lachte nicht mehr, sondern trank nur hastig ein Bier und legte sich dann lang auf die Steinplatten. Ich glaube, sie war sofort eingeschlafen.
Die Weißhemden standen im Info-Zelt und beobachteten uns aus dem Schatten heraus. Sie hatten nichts zu tun: das Stadtfest hatte keine Besucher mehr. Sie kamen aber auch nicht zu uns. Sie blieben die Aufpasser und Kontrolleure, als die sie bezahlt wurden.
Endlich hatte der Clown die letzte Ladung Konfetti verballert und versuchte eine Verbeugung. Wir klatschten und pfiffen.
Für die letzten Stunden, bis wir offiziell gehen durften, blieben wir auf dem Platz zusammen. Wir tranken das Bierfass aus dem Krabbenpavillon leer und wurden in der Nachmittagssonne alle zusammen schön betrunken.
Der fette Clown stand irgendwann neben mir. Er trug eine Cordhose und sah ohne Perücke aus wie ein Zimmermann auf seiner verspäteten Walz. Er drehte sich eine Zigarette.
„Man“, sagte er und blies mir Rauch entgegen „so einen schlimmen Auftritt hatte ich noch nie.“
Ich nickte und versuchte dabei mitfühlend auszusehen und ihn nicht bloß zu bestätigen.
„Was ist das hier?“
„Ein Stadtfest.“
„Ich weiß, aber wo sind die Kinder, die Familien? Wie soll ich denn eine Show machen, wenn niemand kommt? Ich bin froh, dass wenigstens ihr da wart.“
Ich biss mir auf die Lippe und sagte dann doch, was ich mir schon die ganze Zeit über gedacht hatte.
„Tut mir leid, aber wir werden bezahlt dafür. Hier rumzuhängen und Stimmung zu machen.“
Am Abend fiel ich betäubt ins Bett: wieder ein Tag in der Sonne, wieder nur Zeit verstreichen lassen. Kurz bevor ich in den Schlaf kippte, schoss mir noch ein Gedanke quer: wir sollten nichts tun und gute Laune verbreiten. Wir sollten vorleben, wie wir genießen, dass wir nichts tun. Nicht etwas planen oder performen oder auf etwas hinarbeiten, sondern nur authentisch nichts tun. Und das Nichts-tun auch dann zu genießen, wenn bei Aufträgen wie diesem, das Überleben zu einem Kampf wurde.
Am nächsten Morgen stand ich vor dem Spiegel und zog Hautfahnen von meiner Stirn. Ich hatte mich eingecremt und konnte jetzt die obersten Hautschichten in Fetzen ablösen. Besonders leicht ließ sich die Nase pellen. An die Unterlippe traute ich mich nicht: sie kam mir zu dick vor und ich fürchtete, sie würde aufplatzen, wenn ich an den Hautstücken zupfen würde.
In der U-Bahn setzte sich Mareike zu mir. Sie trug die Rollschuhe in einem Beutel auf dem Rücken. Ich sah keine Neon-Bänder. Ihr Gesicht war grau.
„Hast du auf ner Herdplatte geschlafen?“
„Und du? Hast du überhaupt geschlafen?“
Wir kannten uns kaum und gifteten uns an, als wären wir Familie.
„Ich hätte auf einem Festival auftreten können“, erzählte sie weiter. „Ein Festival für Artisten.“ Sie knibbelte Nagellack von ihren Fingernägeln. Neongelb wie mir auffiel. „Aber das geht fünf Tage und die können da nicht in Vorauskasse gehen. Ich konnte mir die Anreise nicht leisten. Da hätte ich mich zeigen können, da hätte ich Jobs bekommen, richtige Jobs, als Artistin. Und du?“
Ich wiegelte die Frage ab: ich sagte bloß, dass es bei mir ähnlich sei. Verschwieg aber, dass ich der einzige aus meiner Gruppe war, der in letzter Zeit keine richtigen Schauspielerjobs abbekommen hatte.
Bis wir ausstiegen, sagten wir kein Wort. Auch als wir durch die Speicherstadt gingen, redeten wir kaum.
Wir kamen in der HafenCity an und der Anblick erschlug mich stärker als am ersten Tag: von jedem Fenster strahlte das Sonnenlicht unerbittlich hell zurück, zersetzte Menschen, Bäume und Pavillons in Striche und Silhouetten, auf dem weißem Untergrund der Steinplatten. Ich bewegte mich in einem Scherenschnitt, zwischen Linien und Kanten, in einem Plan, bei dessen Umsetzung eine Idee verloren gegangen war. Man musste die Augen zusammenkneifen, dann konnte man gegen das Licht, Gesichter und Körper aus den Formen herausschälen. Es war Sonntag. Vor dem Krabbenpavillon stand ein Paar an einem Stehtisch. Sie in beige, das Glas an den Lippen, er in hellblau, beide eingefangen wie ein Abbild ihrer selbst. Aus dem Pavillon zogen die Rauchwolken von Mirkos Zigarette. Sonst bewegte sich nichts.
Mareike zog ihre Rollschuhe an. Sie warf die Straßenschuhe hinter den Pavillon und fuhr los. Sie fuhr einfach: ohne Drehung, ohne Manöver, so wie jemand fährt, der eigentlich ganz woanders ist und sich nur mal draußen bewegt, um Gedanken loszuwerden. Weil ich nicht wusste wohin, setzte ich mich da, wo ich gerade stand: mit dem Rücken zu dem „Stehpärchen, mit Sekt in beige und hellblau“, mit dem Gesicht zur Elbe, eben an der Stelle, an der gestern der fette Clown kiloweise Konfetti verschossen hatte. Die Steinplatten waren weiss. Die farbigen Papierschnipsel wieder verschwunden.
Von meiner AG kamen in der nächsten Stunde bloß Mio, Chris und Lena. Der Rest hatte offenbar genug. Allerdings war die AG-Reisen wieder dabei. Anders als am Tag zuvor, drehten wir sofort einen Joint und lagen flach auf den Steinplatten. Es war nicht mehr so heiß und man spürte einen Wind im Gesicht. Das Stadtfest blieb auch am letzten Tag schlecht besucht. Nur manchmal standen Leute wie aus Versehen an einem Pavillon. Sie tranken dann meist etwas und verschwanden dann wieder in den Häusern. Die AG Tanz kam wieder zu uns. Sie bauten einen Lautsprecher auf und probten zu old-school Beats eine Choreographie. Aber nur, weil sie die Zeit nutzen wollten. Mareike kam auch wieder, rauchte und schlief im Schatten. Mirko versorgte uns aus dem Pavillon heraus weiter mit Bier und gegen Mittag war ich dicht. Mein Kopf war leer, ich vermisste nichts und wollte auch überhaupt nichts ändern. Ich lag einfach da und schaute den Tänzern zu.
Plötzlich klatschte neben mir etwas nass auf. Es war der fette Clown. Völlig durchgeschwitzt. Schminke lief in Tropfen durch sein Gesicht, sein Kostüm – gestreiftes Hemd, weite Latzhose – war voller Flecken und roch nach Keller.
„Das wars“, murmelte er und befingerte seine Perücke. „Das ist eine Katastrophe.“
Er meinte nicht mich und wahrscheinlich auch sonst niemanden. Ich fragte trotzdem:
„Was ist eine Katastrophe?“
„Das Konfetti. Sie verbieten mir, Konfetti in meinem Auftritt zu benutzen. Das färbt die Steinplatten, sagen wie.“
„Oh.“ Mehr fiel dem Brei in meinem Kopf nicht ein, „oh, Scheisse“.
„Ja! Ohne Konfetti ist die Nummer …“
„Ein Witz?“
„Sie ist auf Konfetti aufgebaut. Es gibt keine Nummer ohne Konfetti.“
„Was machst du jetzt?“
„Sie sagen, wenn ich nicht auftrete, ist das ein Vertragsbruch und sie müssten mich nicht bezahlen. Auch für gestern nicht.“
„Also spielst du?“
„Ja. Ja, ich werde spielen. Jetzt sofort. Und danach bin ich weg.“ Er sprang auf und schrie die Tänzer an, ihre Musik auszumachen. Dann legte er los. Ohne das Konfetti und ohne seinen Hüpfapparat improvisierte er gezwungenermaßen – und war viel besser. Fast eine halbe Stunde hangelte er sich durch den Auftritt. Alles war noch viel sinnloser als am Tag zuvor, aber er war gut: auf einmal hatte er einen Rhythmus gefunden und wir lachten über die kleinsten Dinge. Gestern war das Stolpern einfach nur dämlich gewesen, heute konnten wir nicht genug davon bekommen. Also tat er uns den Gefallen und fiel immerzu über seine Füße. Und das auf wenigstens zehn verschiedene Weisen. Zum Schluß fiel er einfach nur noch hin und kam gar nicht mehr zum Stehen. Wir tobten als er sich verbeugte und die Perücke lupfte.
Schon während der Clownsnummer, war mir ein Mann aufgefallen. Er stand in einem Hauseingang. Ich weiss nicht, ob es an der Kleidung lag – heller Stoffanzug – oder an der Art wie er im Türrahmen lehnte, aber mir war klar, dass er hier wohnte. In einer Eigentumswohnung, wahrscheinlich in dem Haus, in dessen Eingang er stand. Ich beobachtete ihn eine Weile und stellte fest, dass er mich auch ansah. Er nickte mir zu, setzte eine Sonnenbrille auf und kam näher, wobei er sich immer nach hinten umsah. Ich stand auf und und ging auf ihn zu. Am Rand des Platzes gab er mir die Hand und sah sich gleich wieder um. Ich ahnte worauf die Begegnung hinauslaufen würde.
„Was macht ihr hier?“, fragte er, ohne seinen Namen zu sagen.
„Das ist ein Stadtfest. Wir arbeiten.“
„Sieht nicht so aus, als würdet ihr arbeiten.“ Er grinste und seine dicken Lippen zogen sich auseinander. „Das ist doch keine Arbeit.“ Sagte er, wie wenn es an ihm läge, Arbeit und Nicht – Arbeit für alle Zeiten in zwei Kategorien zu teilen.
„Dafür werden wir aber bezahlt.“
„Wofür?“
„Wir bringen ein bisschen Stimmung in euer Viertel. Hier lebt ja nichts.“
Er zog die Sonnenbrille auf die Nase und schaute mich an.
„Findest du?“
„Das ist absolut tot hier. Was wolltest du denn von mir. Du hast genickt vorhin.“
Er sah mich nicht weiter an, sondern zu den Glasfassaden und Backsteinmauern hoch, die den Platz von drei Seiten einfassten,
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte er dann.
Ich sagte ihm meinen Namen und fragte ihn nach seinem.
„Ich bin Leif. Ich wohne hier.“
„Dachte ich mir, dass du hier wohnst.“
„Du findest es nicht – schön und modern hier?“
„Nein. Bloß tot.“
„Ich habe euch beobachtet in den letzten Tagen. Von meinem Balkon.“ Er zeigte irgendwo über seiner Schulter nach oben. „Ich habe alles gesehen: echt trostlos, das Stadtfest. Du hast recht: ist öde hier.“
„Ich wollte nicht…“
„Schon gut. Ich sehs ja selbst. Weißt du, dass es kaum Parkplätze gibt? Wir parken jetzt die Altstadt voll. Da gibts schon Knatsch mit der Bezirksverwaltung. Immerhin ist hier Platz für achttausend Menschen.“
„Wenns dir nicht gefällt, wieso wohnst du hier?“
„Noch schlimmer finde ich“, fuhr er mit seiner Negativbilanz fort, als hätte er meine Frage nicht gehört, „dass es keine Läden gibt: keinen Supermarkt, keine Drogerie oder Apotheke. Wie in Schilda – du kennst die Geschichten, oder? Von den Schildbürgern, die immer die falschen Schlüsse ziehen? Und hier hat man sich gedacht: die Leute sollen wohnen, also bauen wir Wohnhäuser.“
„Aber – wieso wohnst du hier?“
„Bin drauf reingefallen. Bin nicht von hier. Dachte hier entsteht was – ist aber alles vom Reissbrett. Habe einen Job in Hamburg bekommen und meiner Gehaltsklasse bietet man eben diese Wohnungen an – weil wir so leben wollen. Oder sollen, damit das Bild stimmt: Neureich, jung und tot. Ihr habt Gras oder? Verkaufst du mir was?“
Ich hatte mir von Anfang an gedacht, dass es auf diese Frage hinauslaufen würde. Nach dem kurzen Gespräch wusste ich nicht, wie ich antworten sollte. Ich fingerte stattdessen ein kleines Päckchen aus meiner Hosentasche. Ich hielt ihm den Joint hin.
„Willst du?“, fragte ich.
Wir setzten uns auf die Kaimauer und teilten.
„Hast du mehr?“, fragte er dann und erzählte mir, dass Freunde von ihm hier wohnten und die wollte er anrufen und Fragen, ob sie Lust hätten, dazu zu kommen. Ich sagte ihm, wir hätten genug für noch mehr Leute.
Gegen sieben Uhr wurden die Pavillons und Stände von einer Logistikfirma abgebaut, verladen und abtransportiert. Innerhalb einer Stunde waren der Platz, die Strasse am Kai und die Osakaallee wieder leer und das Stadtfest vorbei. Nur: wir hatten keine Lust zu gehen. Die Freunde von Laif hatten Wein und einen Kasten Bier mitgebracht und von irgendwoher waren Decken und Kerzen gekommen.
Wir lagen fast die ganze Nacht auf unserem Platz, auf den weißen Steinplatten mit Blick, den Kanal entlang auf die Elbe. Erst als es wieder dämmerte, löste sich unser kleines Fest auf. Flaschen, Kerzen, Zigarettenstummel und alle anderen Überreste kehrten wir als Beweis für diese Nacht, als Signal für alle die hier wohnten, direkt am Wasser zusammen.
Zum Abschied drückte mich Laif fest an sich.
„Das war super. Solche Abende gibt es hier jetzt öfter.“
Ich schaute ihm und seinen Freunden noch kurz nach, als sie wieder in Richtung ihrer Apartments stromerten.
Er glaubt das wirklich, dachte ich über Laifs Abschiedsworte. Er glaubte wirklich, diese eine Ausnahme würde seine Umwelt tatsächlich umstülpen. Aber wenn er daran glaubte, nach einer Nacht mit uns eingekauften Nachbarn, war das Konzept der AG Studentisches Leben irgendwo doch aufgegangen. Oder wir hatten bloß sehr glaubhaft gespielt … .