2. November 2020

Dialektik und Dialogik

 

Johannes Heinrichs, Dialektik jenseits von Hegel und Corona. Integrale Strukturlogik als Hegels Auftrag für eine Philosophie der Zukunft, Academia, Baden-Baden 2020, 227 Seiten.

Mit diesem ersten Band seines Zwillingswerks zu Dialektik und Dialogik bringt Johannes Heinrichs in überraschender Weise eine persönliche Forschungs- und Denkgeschichte zu einem gewissen Abschluss: Die „Dialektik“ führt zunächst den 45-jährigen Ansatz durch, den Heinrichs zuerst 1975 in seinen Vorlesungen zur Sozialphilosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main entwickelt hat, den Ansatz bei vier den „Sinnelementen“ Ich – Es – Du – Wir, letzteres auch „Sinnmedium“ genannt. Diesen vier Sinnelementen – ein Ausdruck, den Heinrichs seiner vorhergehenden Beschäftigung mit Paul Tillich entlehnt hat, den er allerdings in einem bedeutend umfassenderen Sinn verwendet als Tillich, der damit ursprünglich nur die Dualität von Vollzug und Gehalt kennzeichnete. Den genannten vier Sinnelementen entsprechen bei Heinrichs die vier Reflexionsstufen des interpersonalen Verhältnisses: 1. Die objektivierende Relation auf den Anderen als Objekt, wie auf etwas sachlich Anderes, 2. die einfach reflektierte („strategische“) Relation auf den Anderen als selbst aktiv Sehenden und Agierenden, 3. die doppelte und gegenseitige („kommunikative“) Relation mit dem Anderen, das Einschwingen in die Gegenseitigkeit mit ihm, 4.  die metakommunikative Stellungnahme zu allen vorhergehenden Stufen, worin Verabredungen, Normen, gesetzt bzw. modifiziert werden.  Mit dieser reflexiven Stufenlogik – einer Konkretisierung der Weberschen Definition des sozialen Handelns als „Orientierung am Verhalten anderer“ – gelingt Heinrichs die damals gesuchte (und in der Diskussion zwischen Luhmann und Habermas nicht gefundene) Vermittlung von Handlung und System durch die Reflexivität des Handelns:  die gelebte soziale Reflexion ist es, die von Einzelhandlungen zu sozialen Systemen führt. Dadurch wird Heinrichs` eigener, ganz früher Ansatz einer „transzendentalen Dialogik“ als Vermittlung von Buberscher Dialogik mit der transzendentalphilosophischen Linie von Kant bis Hegel (dokumentiert in seinem Aufsatz „Sinn und Intersubjektivität. Zur Vermittlung von transzendentalphilosophischem und dialogischem Denken in einer transzendentalen Dialogik“ von 1970)  zur Reflexions-Systemtheorie (so der Untertitel des 1976 erschienenen Buches „Reflexion als soziales System“, das später – leider unter verändertem Titel – als „Logik des Sozialen“ (2005) neu aufgelegt wurde und dann 2003/2014 als „Revolution der Demokratie“ in einer fulminanten, konstruktiv-kritischen Demokratietheorie eine politisch höchst aktuelle Fortsetzung erlebte.

Das jetzige Dialektik-Buch ist indessen nicht speziell der Sozialtheorie gewidmet, sondern ganz allgemein den dialektischen Verhältnissen, die sich aus jenem Ansatz bei den genannten vier Sinnelementen ergeben. Und dies in Anknüpfung und Auseinandersetzung mit Hegel als dem großen Lehrmeister der modernen Dialektik, die als Reflexionslogik, als Logik reflexiver Verhältnisse, verstanden wird. Der Ansatz bei den gleichursprünglichen Sinnelementen ist ein dialektischer, „wenn Dialektik allgemein eine Einheit von Gegensätzen und das Umgehen mit solchen Gegensatz-Einheiten bedeuten soll“ (28). Untrennbar mit Dialektik verbunden sei der für Hegel zentrale Begriff der Vermittlung, der relationalen Wechselbestimmung unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Bestimmungen. Indem Heinrichs mit Hegel von einem Gefüge von Elementen ansetzt, wird von vornherein die Ableitung aus einem Einzigen ausgeschlossen. Transzendentalphilosophie und Reflexionstheorie dürfen nicht als bloße Subjektphilosophie verstanden werden. Es wird weder vom „Ich als Prinzip der Philosophie“ (Schellings Schrift von 1795) allein ausgegangen noch von einem isolierten Absoluten, wie man Hegel missverstehen konnte. Auch Hegels Ausgang von einem „Sein“ zu Beginn der „Wissenschaft der Logik“ wird von Heinrichs als gegenstandstheoretischer Rest im Widerspruch zu Hegels tieferen Absichten und Einsichten verstanden: „Im Bedürfnisse, entweder mit einem schlechthin Gewissen, d.i. der Gewissheit seiner selbst, oder mit einer Definition oder Anschauung des absoluten Wahren anzufangen, können diese und andere dergleichen Form dafür angesehen werden, daß sie die ersten sein müssen. Aber indem innerhalb jeder dieser Formen bereits Vermittlung ist, so sind sie nicht wahrhaft die ersten; die Vermittlung ist ein Hinausgegangensein aus einem Ersten zu einem Zweiten und Hervorgehen aus Unterschiedenen“ (Enzyklopädie, § 86; zit. S.28). Heinrichs hält sich in seiner Systematik an diese eigene Grundintuition Hegels von einem Vermittlungsgefüge der gleichursprünglichen Sinnelemente. Er lehnt Hegels Wissenschaft der Logik als gescheitert sowie unverständlich ab, weil sie entgegen dem Zitierten von dem Einen Gedanken eines gegenständlichen „Seins“ ausgeht, weiß sich dagegen in der Herausarbeitung der dialektischen Relationen im Vermittlungsgefüge der Sinnelemente mit ihm einig.

Heinrichs` Vorgehen besteht „einfach“ darin, die Beziehungen zwischen den Sinnelementen bzw. diese selbst als dialektische Gegensatz-Einheiten zu interpretieren, angefangen vom Selbstbewusstsein als impliziter Selbstreflexion – seine alte Kontroverse mit der Henrich-Schule, welche die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins zu Unrecht als zirkelhaft ablehne. Vielmehr bedeute diese schon von Thomas von Aquin implizit vertretene Theorie die spezifisch moderne Anerkennung einer inneren Differenz (Jacques Derrida: différance) als konstitutiv für Selbstbewusstsein. Die Subjekt-Objekt-Relation wird in grundsätzlichem Unterschied zur Subjekt-Subjekt-Relation gekennzeichnet – das Thema, das im folgenden Band „Dialogik“ eigens ausgebreitet wird – aber auch zur Leib-Seele-Relation sowie vor allem zur „partizipativen“ Relation des Ich zum Sinnmedium. Insgesamt unterscheidet Heinrichs mit seiner Methode einer rekonstruktiven Phänomenologie 16 Hauptrelationen: als unterschiedliche „Quell-Typen“ von Dialektik. In dieser neuartigen Typologie von Dialektik-Formen, die in einer mandala-artigen Skizze (Figur 11, S. 166) anschaulich zusammengefasst werden, sehe ich einen sensationellen Fortschritt in unserem Denken über Dialektik. M.E. wird kein künftiges Reden über Dialektik an diesen ebenso genialen wie präzisen Unterscheidungen vorbeikommen, die sich mit eherner Konsequenz aus dem 45 Jahre alten Ansatz bei dem Gefüge der Sinnelemente ergeben! Wenn es grundsätzlich neue Schritte in der Philosophie der Gegenwart gibt – hier kann der aufmerksame Leser sie erleben, nicht aufgrund von modischer Marktanpassung, sondern in der konzentrierten Vertiefung in reflexionslogische Zusammenhänge.

Ausgespart wird vom Autor einzig die innerobjektive Naturdialektik (gezählt als Typ 12 von Dialektik), die er klugerweise einer eigenen naturphilosophischen Betrachtung auf naturwissenschaftlichen, das heißt heute insbesondere: auf quantenphysikalischen Grundlagen überlassen will. Bemerkenswert ist in naturphilosophischer Hinsicht, dass er Hegel im Gefolge von Spinoza als „dialektischen Materialisten“ wie zugleich „dialektischen Idealisten“ interpretiert, während der sogenannte dialektische Materialismus des 20. Jahrhunderts gar kein dialektischer gewesen sei, weil er aus der für Hegels Denken kennzeichnenden Einheit von Ideellem und Materiellem herausgefallen sei, die allein die Kennzeichnung „dialektisch“ in ontologischer Hinsicht verdiene. Allerdings gibt er den Hegelschülern und -kritikern Feuerbach und Marx darin Recht, dass dialektische Logik keine bloße Denklogik sein dürfe, dass Logik vielmehr sowohl den nicht-denkerischen Erkenntnisvermögen (Wahrnehmung, Gefühl, Intuition) wie die semiotischen Stufen (Handlung – Sprache – Kunst – Mystik)  und darin zugleich der Leibnatur des Menschen denkend Rechnung tragen müsse. Darin liegt für ihn die tiefste Dialektik des Denkens: dass es den menschlichen Bezügen denkend gerecht werden muss, die nicht bloß Denken sind!

Heinrichs sichert den höchst ungewöhnlichen Gedankengang dieses Buches durch positiven Bezug auf drei Hegel-Kenner ab (Theodor W. Adorno, Vittoria Hösle, Thomas Sören Hoffmann; 177–186), anfangs (14 ff.) auch durch das (freilich rein programmatisch bleibende) Dialektik-Konzept in einem Lexikon-Beitrag  von Pirmin Stekeler-Weithofer ab. Doch sein Verständnis von Dialektik als strukturale Denkform gipfelt in einem anspruchsvollen Zitat des einst unbequemen DDR-Philosophen Peter Ruben: „Angesichts des Stands der internationalen Hegel-Rezeption darf man behaupten, daß das Verständnis Hegels erst wirklich gelungen sein wird, wenn seine Philosophie systematisch aufgehoben worden ist.“  Die Schlusskapitel über „Grundsätze einer Philosophie der Zukunft“ sowie „Über mangelndes politisches Dialektikbewusstsein an Beispielen“, worin Heinrichs zuletzt sein leider noch wenig beachtetes Konzept einer Wertstufendemokratie auf reflexionslogischen Grundlagen umreißt, verdeutlichen die weittragende praktische Relevanz dieser Auseinandersetzung mit dem Dialektiker Hegel. Im Klappentext des Buches heißt es: „Das Ziel ist kein geringeres als eine folgenreiche systematische ‚Aufhebung‘ (Aneignung wie ehrenvolle Überwindung) Hegels, aus Anlass seines 250. Geburtstags.“ Meines Erachtens hat der Autor dieses hochgesteckte Ziel tatsächlich erreicht, und das ist das überraschend Bedeutsame an diesem relativ schmalen Bändchen.

 

Johannes Heinrichs, Dialogik. Kann denn Liebe logisch sein? Academia, Baden-Baden 2020, 236 Seiten.

Das Projekt „Dialektik und Dialogik“ ist für den Autor noch älter als das Ausgehen von den vier Sinnelementen, nämlich gut 50 Jahre alt. Er bringt hier etwas zu einem (relativen) Abschluss, was 1969 seine Zielsetzung war, als er von der Philosophischen Hochschule der Jesuiten in Pullach (heute in München) ans Hegel-Archiv nach Bochum zog, um anhand von Hegels Phänomenologie des Geistes das Verhältnis beider Begriffe zu untersuchen und darüber zu promovieren. Zwar wandelte sich die Aufgabenstellung der Dissertation insofern ab, als er zunächst vollauf genug beschäftigt war mit der „Logik der ‚Phänomenologie des Geistes‘“ – so der Titel der 1972 von der Universität Bonn angenommenen und 1973 mit dem Preis der Freunde und Förderer der Universität prämierten  Dissertation. Darin klang nur im Schlussabschnitt die ursprüngliche Fragestellung nach dem Verhältnis von sachhafter und personaler Andersheit, von Objekten und anderen Subjekten, in Hegels Gedankengang an. Doch holte der Autor im Laufe der nächsten Jahre das Fehlende zum Verhältnis von Dialektik und Dialogik nach Kräften nach. Der Teil I des vorliegenden Bandes, überschrieben „Vorbereitung in früheren Beiträgen“, enthält denn auch die wichtigsten seiner Arbeiten zur „Dialogik“: den umfangreichen Artikel „Dialogik. Philosophisch“ aus der Philosophischen Realenzyklopädie (TRE), Bd. 8, Berlin 1981, worin zwei vorherige kleinere Lexikoneinträge des Autors (in W. Bruggers Philosophischem Wörterbuch sowie im Historischen Wörterbuch der Philosophie) eingearbeitet sind. Der besagte Artikel in der TRE berichtet zunächst über die dialogische Denkströmung, die seit dem 18. Jahrhundert (F.H. Jacobi, F.D. Schleiermacher) die aufkommende Transzendentalphilosophie und Subjekt-Objekt-Dialektik von Kant bis Hegel begleitet hat, im 19. Jahrhundert besonders repräsentiert durch Feuerbach und Marx, die dann aber im 20. Jahrhundert in Martin Buber, Ferdinand Ebner, Franz Rosenzweig ihre entschiedensten Vertreter fand. Heinrichs Dialogik-Artikel überbrückt in seinem systematischen Teil diese beiden historischen Strömungen von relationalem Denken durch die Vierheit der gleichursprünglichen Sinnelemente, von denen er seit 1975 ausging: Ich, Es, Du, das Sinn-Medium des Wir.

Der 2. Beitrag in diesem I. Teil des Buches stellt die nachgeholte ausdrückliche Auseinandersetzung mit Hegel unter dem Titel „Dialektik und Dialogik“ dar, die in einer Sonderausgabe der Zeitschrift für philosophische Forschung 1981 zu Hegels 150. Todestag erschien. Zentrales Argument ist, dass Hegel die beiden Arten von Andersheit (Es und Du) nicht grundsätzlich unterscheide, sondern das Du als eine höher entwickelte Art von Es behandle, so dass Feuerbach mit seinem berühmten Diktum, die wahre Dialektik sei  kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sondern ein Dialogik zwischen Ich und Du, Recht behalte (Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 62). Allerdings habe Feuerbach Hegel nicht auf dessen logischem Niveau begegnen können.  Genau dies ist Heinrichs` Intention, welcher er, nach weiteren, stärker populären, doch umso phänomennäheren Beiträgen aus dem Buch Die Liebe buchstabieren (1987/1994) zu „Liebe und Leidenschaft“ und „Eifersucht“, dann in Teil II des Buches in systematischerer Kapitelabfolge nachgeht.

Dieser II. Teil trägt die Überschrift „Dialogische Dialektik/Dialektische Dialogik“, was besagen will, dass beides sachlich gleichbedeutend ist, allerdings einmal mit Betonung der Methode (Dialektik), einmal mit Betonung des spezifischen Inhalts (Dialogik). Dieses spezifisch Dialogische wird in Kapitel 6 nochmals, wie schon im früheren Beitrag „Liebe und Leidenschaft“, aber meditativer und im Hinblick auf die jeweils waltende Dialektik, anhand der Reflexionsstufen der Liebe durchgespielt. In Sexualität, Eros, Philia (Freundes- und Verwandtenliebe) sowie in Agape (spirituelle Liebe) spielen je verschiedene Arten von Dialektik. Ein höchst dialektischer Aspekt von Liebe zeigt sich exemplarisch noch auf der höchsten Stufe: „Wo man einander nicht mehr braucht, um materiell und psychisch, gerade da fängt das zweckfreie Umsonst der Liebe richtig an. Und gerade diese Zweckfreiheit braucht der Mensch am meisten. Wie sollen wir diese Dialektik der Liebe nennen? Dialektik des Umsonst der Gegenseitigkeit. Für den Einzelnen kann man auch von der Dialektik der Unbedürftigkeit sprechen. Das Dialektische an der Unbedürftigkeit des umsonst Liebenden liegt darin, dass er dieser Unbedürftigkeit höchst bedürftig ist“ (144). Wir gelangen da in gedankliche und emotionale Regionen, die nur noch ganz behutsam in Worte zu bringen sind.  In Kapitel 7 setzt Heinrichs sich mit der eher traditionalistischen, einseitig am Altruismus orientierten „Theorie“ einer einheitlichen Liebesenergie des russisch-amerikanischen Soziologen Pitirim A. Sorokin (The Ways and Power of Love) kritisch auseinander und zeigt auf, dass die Liebe – ebenso wie „das“ Unbewusste – drei verschiedene Quellgründe habe: den physischen, den individuell-psychischen sowie den überindividuell-spirituellen und dass „die“ Liebe stets als eine Durchdringung der Liebesenergien verschiedenen Ursprungs zu betrachten sei (zusammenfassende Grafik S. 157). Das 8. Kapitel bringt eine Zusammenfassung der dialogischen Natur der Sprache und somit der Sprachpragmatik, die der Autor im 3. Band seiner Sprachtheorie ausführlich entfaltet hat. Das 9. Kapitel ist einem „integral-dialogischen Wahrheitsbegriff“ gewidmet, dessen komplexe logische Differenzierungen in einem Abschnitt „Zu Spiritualität und Ethik des dialogischen Wahrheitsbegriffs“ (189 ff) zum Glück wieder einfach und „lebbar“ werden.  „Das zentral Dialogische“ wird in Kapitel 10 unter den Stichworten Verstehen – Antworten – Vertrauen – Gemeinschaft reflexionstheoretisch zusammengefasst. Das abschließende 11. Kapitel gilt der in einem sehr dialektischen Sinne scherzhaften Frage: „Kann denn Liebe logisch sein?“ Bei diesem unüberhörbaren Anklang an „Kann denn Liebe Sünde sein?“ unternimmt der Autor den kühnen Versuch, anhand der im „Dialektik“-Buch herausgearbeiteten Quell-Typen von Dialektik das Hochlogische wie zugleich das alle Strukturlogik der Liebe jeweils Transzendierende zusammenzufassen. Es wäre vergeblich, die ebenso dichten wie behutsamen Antwortversuche hier nochmals auf eine Formel bringen zu wollen. Zum Schluss kommt der Autor in Zusammenhang mit seiner Lehre von den semiotischen Ebenen auf Hölderlins Ideal einer Einheit von Dichtung und Philosophie zu sprechen. Ist doch Hölderlin dieser Band gewidmet (obwohl sein Name paradoxerweise im Namensverzeichnis vergessen wurde!), wie der erste Band, die Dialektik, dem Jugendfreund und Jahrgangsgenossen Hegel gewidmet war. 

„Dass sie, die Dichtung, auch einmal der Philosophischen ‚Zergliederung‘ Genüge tun oder dass umgekehrt die Philosophie wieder einmal im Gewand der Schönheit, also dichterisch, auftreten könnte – das ist derzeit bloße Zukunftsmusik bzw. Wunsch an eine Philosophie der Zukunft (…) Die ‚Liebe zur Weisheit‘ wird dann zugleich auch als Liebe zu den konkreten Menschen praktiziert und sichtbar werden“ (232).

Ein Wunsch bleibt dem Bewunderer dieses überaus reichhaltigen Buches bzw. des zukunftsträchtigen Zwillingspaars von „Dialektik“ und „Dialogik“ indessen noch unerfüllt: Während Heinrichs in der Mitte der Raute der Sinnelemente den Seinsbegriff ausdrücklich, wenn auch gewagt, im Sinne von Hölderlins „Sein in der einzigen Bedeutung des Wortes“ ansetzt (bes. Dialektik, 146 f), vermisst man bisher eine ausdrückliche Inbezugsetzung seines originären und für fast all seine Schriften charakteristischen „Sinnmediums“ mit Hegels „Geist“. Vielleicht ist es nur die Verschiedenheit der Einführung dieser Begriffe, was sie voneinander trennt? Oder eine Unentschiedenheit Hegels und tiefe Fragwürdigkeit bei dieser Einführung in der Phänomenologie des Geistes (unmittelbar vor dem Abschnitt „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußseins; Herrschaft und Knechtschaft“): „Hiermit ist schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden. Was für das Bewußtsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein, die Einheit derselben ist: Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.“ Dieser Geist wäre wohl identisch mit dem Sinnmedium – wenn er nicht als dialektisch übergreifende Substanz, sondern als dialogisches, mediales Zwischen gedacht wäre, oder? In dieser Frage nach der Selbigkeit von Hegels „Geist“ und Heinrichs` „Sinnmedium“ blitzt also noch einmal die ganze abgründige Problematik von Dialektik und Dialogik auf, die in diesen beiden Büchern so bewältigt wurde wie nirgends sonst.

Daniel Bigalke

 


Johannes Heinrichs Dialektik jenseits von Hegel und Corona. Integrale Strukturlogik als Hegels Auftrag für eine Philosophie der Zukunft
Academia,  2020, 227 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-89665-914-9 29,00 € inkl. MwSt.


Johannes Heinrichs Dialogik. Kann denn Liebe logisch sein? 
Academia,  2020, 236 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-89665-918-7 39,00 € inkl. MwSt.

 

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