26. Oktober 2020

„Wir lieben jedes Publikum!“ Autochrom, RGB

 

Rot, grün und blau eingefärbte Kartoffelstärkekörnchen waren die Farbträger beim Autochromverfahren, einer frühen Technik zur Fertigung farbiger Photographien – eine aus dem Jahr 1903 stammende Erfindung der Brüder Lumière (dieselben, die mit ihrem Cinématographe die Bilder zum Laufen brachten). „Die Körnchen waren so gemischt, dass keine der drei Farben hervortrat [...].“1

Autochrom heißt das Trio von Luise Volkmann, Altsaxophon, Athina Kontou, Kontrabass, und Max Santner, Schlagzeug („Athina Kontou ist Grün, Max Santner Blau, ich Rot“2). RGB ist die erste Platte der „Band“ (Autochrom über Autochrom), als deren ideeller Pate Albert Kahn genannt wird, der, in Vorahnung der Verheerungen des Ersten Weltkriegs, junge Photographen in die Welt entsandte. Diese sollten „die Schönheit der unterschiedlichen Kulturen“ einfangen, „um Rassismus und Intoleranz zu bekämpfen.“3 Mit Blick auf diesen liberalen Geist und das Gespür für Schönheit bei gleichzeitiger politischer Wachheit – brauchen wir alles! – kann einem auch die jüngst verstorbene Ruth Bader Ginsberg („RBG“) in den Sinn kommen.

Im Kontrast zu Été Large – Luise Volkmanns 12-, inzwischen 13-köpfiges Ensemble, das beim diesjährigen Jazzfestival Moers zu erleben war [Video leider nur verfügbar bis zum 5.12.2020: https://www.arte.tv/de/videos/097995-014-A/ete-large/ ] –, die kleinstmögliche Gruppe, und doch groß genug, um eine aufregende stilistische Bandbreite zu entfalten, in der das New Thing der 60er Jahre ebenso Widerhall findet wie Rock und Punk.

Im Informationstext zur Startnext-Kampagne, mit der die CD teilweise finanziert wurde, wird Autochroms Ansatz mit einer „Dreifachbelichtung“ verglichen: „Die Band spielt mit Unschärfe und mit bizarren Überlagerungen. […] Luise wollte Kompositionen entwickeln, die ein Trio auf ganz neue Art zum klingen bringen, vielleicht wie eine große Band.“ 

 

„Blauer Rost“ setzt den grüblerischen Anfang. Doch nicht dem Schlagzeug (Blau) gehören die ersten Takte, sondern dem voluminös und charaktervoll klingenden Bass, der auch das Thema vorstellt. Becken- und Trommelfellklänge mischen sich ein, Jazzbesen-Tupfer, Schellenrasseln, Bimmeln, das Geräusch von Saxophonklappen. Das Saxophon tritt nun mehr in den Vordergrund, weich, samtig, auch mit perkussiven Elementen, der Bass spielt eine ruhige auf- und wieder absteigende Figur, das Schlagzeug rührt maßvoll auf, Bridge, darauf ein schöner melodischer Bogen, atmende Weite, dann Klimax und Ausklang. Ein guter Opener, aber auch unabhängig von dieser Starterrolle gelungen.

Introspektion und Extravertiertheit, wie im nachfolgenden Stück, sind die Pole, zwischen denen sich das musikalische Geschehen bewegt, abwechslungsreich und immer überraschend.

„Jadetänzer“ – schrillende Alarmtöne über klöppelndem Schlagzeug, ein agiler, rockiger Bass und ein spannungsreiches Saxophon-Solo. In diesem RGB-Farbraum dominiert das Rot. Das hochpulsige Stück vermittelt den Eindruck von Kompaktheit bei hoher Ereignisdichte.

Auch das durch Athina Kontous col legno-Spiel geprägte „Punkte“ hat diese Prägnanz. Klangalchimie, Liedhaftigkeit, Tänzerisches lösen einander ab, ehe eine kurze, aber nervenaufreibende Jam-Einlage des Kollektivs einsetzt, harsch wie Kreidefingernägel auf der Tafel. Reprise des Themas und eine anmutige Schleife zum Schluss.

„Nr. 2“ beginnt als dicht stampfender Rhythmus auf der Bass Drum, darüber zimbelhell ein aufgeregtes Glockenspiel, und ein von Saxophon und Bass synchron gespieltes Riff. Luise Volkmanns energetisches Solo (auch eine schalmeienhafte, 'östliche' Sequenz kommt darin vor) ist eine mitreißende, zu ihrem Ende hin halsbrecherisch sich überschlagende Rede, die dann wegkippt in ein dichtes, sehr beschäftigtes Triospiel, das die vorige sprudelnde Energie erst abfängt, dann aufnimmt und weiterträgt, aber wie ins Negativ gekehrt – bis in den letzten Takten die ursprünglichen Farbwerte wieder reingedreht werden und das Stück farbsatt endet.

Kaum zu glauben, dass diese große (und großartig performte) Oper nur sechs Minuten dauert, aber so ist es.

 

Konstitutiv für die Musik von Autochrom ist die Auflösung der individuellen Instrumentalfarben in einem kollektiven, (oft, nicht nur) 'weißen' Klangbild – charakterisiert durch zurückgenommene Dynamik, Spielen in extremen Lagen, Geräusch (Luft/Atem, Klappen, Bogen, Fell) – das im nächsten Moment wieder auseinanderfliegen kann in britzelige Farbsplitter.

„Kalim Kalim“ (in Anspielung auf die Kalimba, auf der es komponiert wurde) beginnt mit eben einer solchen 'weißen' Spur, die drei Instrumente erklingen im Pianissimobereich: mergelige, kalkige Sounds, Klangkrümel, Klangschlieren in großer Ruhe und Freiheit, bis das Saxophon eine kleine Motivlinie in dieses Weiß zeichnet, das unterdessen noch ein wenig weiterläuft und sich zu einer musikalischen Erzählung weitet und bündelt, die zum Ende hin wieder übergeht ins Überbelichtete, auch Gleißende.

„Kalim Kalim“, das, zufällig oder nicht, den Mittelpunkt von RGB bildet, spiegelt alle Qualitäten von Autochrom in exemplarischer Weise wider und ist einer der Höhepunkte der CD – dem mit „How to know this is the moment to say goodbye“ gleich ein weiteres Glanzlicht folgt (hierzu gibt es ein sehenswertes Tanzvideo, dessen Tonspur, anders als auf dem Album, eine monodische Singstimme einschließt). [Video: https://www.youtube.com/watch?v=sRb47rMjFEs]

 

„Pfeifen lernen in Kopenhagen“ addiert dann tatsächlich die Stimme hinzu, und zwar, wie der Titel vermuten lässt, pfeifenderweise. Es gibt nach oben hin verbogene Linien und rituell anmutendes Trommeln, auch das Glockenspiel ist wieder da. Max Santners Solo, wie auch das karge, präsente Klangbild, erinnern an Ed Blackwells Arbeit mit Don Cherry.

Das Stück hat etwas von einem Witz, der in einer Sprache erzählt ist, die man nicht versteht – seltsam, aber gut.

Dann der Hit „Blaue Giraffen“, mit der (einzigen) Textzeile: „Sie sterben aus! Sie sterben aus!“ – dazu, nach irreführend fröhlicher Zirkus-Intro, das Saxophon auf den Barrikaden, flammend vor Zorn. Ein Stück wie ein Punch. Die Londoner Künstlerin Sundeep Toor hat ein kongeniales Video dazu geschaffen.

[Video: https://www.youtube.com/watch?v=bxz-5Hb0nXY]

 

„Eine Eidechse zwischen drei und viertausend Euro“, der Schlusstrack, schlägt den Bogen zurück zum nachdenklichen Beginn. Etwas wie Schritte im Kies, leichtes, gleichförmiges Klirren: Prozession oder Bußgang? Ein schönes Bass-Solo, von einem, mal auf dem Grat zwischen Geräusch und Ton sich bewegenden, mal in weiche Melodik abhebenden Saxophon und Max Santners schamanistischem Schlagzeug begleitet.

Ein suggestives Stück, starker Abschluss eines starken Albums.

 

Die Spielkultur des Trios, sein zuweilen aufblitzender schräger Humor, und natürlich die Musik selbst (alle Kompositionen von Luise Volkmann) tragen zur überragenden Qualität einer Platte bei, die dem Hörer nicht schmeicheln will, und ihm doch eine besondere, widerhakige Schönheit bietet.

 

Meinolf Reul

 

 

Autochrom, RGB. nWog Records [https://nwog-records.com/], Zürich 2019 [Spielzeit 49:54]

 

1. Wikipedia, Artikel „Autochromverfahren“, zuletzt abgerufen am 24.10.2020

2. Zitiert nach: Jazzpodium 5-6/2020, s. auch Startnext [https://www.startnext.com/autochrom-release?utm-campaign=CREATIVE.+Crowdfunding.+Dein+Projekt+aus+NRW]

3. Zitiert nach: Startnext, s.o.