9. September 2020

Timo Schröder

Das Ausharren Siegfried Kracauers. Passivität als Initialmoment der Kritik

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Die Weimarer Republik, irgendwann in den 1920er Jahren. Ein steuerloser Kahn treibt unruhig auf den Wellen umher, wird in die eine, dann in die andere Richtung gestoßen. Georg sitzt in diesem Kahn, der eigentlich der Salon von Frau Heinisch ist. Die Diskussionen der anwesenden Gäste – der aktuelle Streik, Pazifismus, Zinnsoldaten, Klassikerliteratur – stellen die aufgeregte Wasseroberfläche dar, den Wellengang, der das kleine Boot nicht zur Ruhe kommen lässt (vgl. diese Szene bei Kracauer 1977e, 7 ff.). Die sozialistische Revolutionsstimmung, die sich im Raum langsam ausbreitet, packt auch Georg. Er sehnt sich nach Öffentlichkeit und Haltung, danach, mitzureden und zu handeln. Doch dieses Bedürfnis steht auch vor dem Hintergrund großer Skepsis:

„Schon die ganze Zeit über hatte er ein Unbehagen gespürt, das er sich nun daraus erklärte, daß diese Menschen alle Dinge, die ihm bisher unverbrüchlich fest gestanden hatten, im Handumdrehen abändern wollten. Man konnte doch nicht einfach die Welt in ein Paradies verwandeln. Außerdem mochte er gar nicht ins Paradies. Die Klassiker verstümmeln – nur freilich, er traute dem eigenen Widerstand nicht mehr ganz, denn vielleicht war er selbst in seinen Gewohnheiten verhärtet und sträubte sich zu Unrecht gegen eine bessere Wirklichkeit…“ (Ebd., 16)

Georg ist der Protagonist im gleichnamigen, stark autobiografisch geprägten Roman des Journalisten, Schriftstellers, Kulturphilosophen und Soziologen Siegfried Kracauer, den dieser in Teilen ab 1929 veröffentlicht. Ganz wie Georg empfindet auch Kracauer selbst ein Unbehagen gegenüber den in der Weimarer Republik so vielfältigen, vorschnellen Versuchen, in politische, religiöse und gesellschaftliche Paradiese aufbrechen und die schlechte Wirklichkeit sofort und unmittelbar hinter sich lassen zu wollen. Die Sorge vor einem möglicherweise kurzsichtigen Aktionismus verbindet sich in Kracauers feuilletonistischer Arbeit schon ab den 1920er Jahren mit der wachen Kritik an der Negativität der Wirklichkeit und erscheint so schließlich als eine Art Zwischenposition, als eine zögernde, vorsichtige und auf den ersten Blick passive Haltung.

Diese Konstellation aus Passivität einerseits und der radikalen Kritik des Negativen andererseits muss zunächst kontraintuitiv wirken. Gerade in jenen Momenten, in denen eine Situation bewusst als ein Nichtseinsollendes erkannt und reflektiert wird, werden das Primat der Aktivität und der Imperativ der Handlung in besonderem Maße evident. Die Erfahrung der unmittelbaren oder historischen Wirklichkeit als ein Falsches, das mit Leid verbunden ist, drängt intuitiv dazu, produktiv zu werden. Die tätige Negation des Negativen, die Aufhebung der Widersprüche, die es konstituieren und auch die Flucht vor dem Falschen in ein möglicherweise Richtiges, stellen Verhaltensweisen dar, die sich durch ihre Aktivität auszeichnen. Sie materialisieren sich individuell in Versuchen, die persönlichen Lebensumstände zu verbessern, sowie kollektiv in Reform, Revolution oder Reaktion. Während dieser aktive Umgang, ausgehend etwa vom Begriff des homo faber oder der Vorstellung einer vita activa, durchaus nachvollziehbar erscheint, sind Forderungen zur Passivierung, die angesichts eines Negativen erhoben werden, mit Ohnmacht konnotiert und werden pessimistisch oder fatalistisch gedeutet. Dabei finden sich in der Geschichte immer wieder auch Reaktionen des Innehaltens, Forderungen zum Aushalten und zum bewussten Ausharren. Joseph Vogl spricht 2007 etwa vom Zaudern als einem „ruinösen Gegenspieler“ (Vogl 2018, 30), der das Handeln wie ein Schatten begleitet, und diese Aussage lässt sich auf weitere Formen der Passivität übertragen, die überall dort auftreten, wo das Aktive bereits am Werk ist.

Kracauers intellektueller Habitus steht für eine solche Figur der vermeintlichen Passivität, für ein Ausharren im Negativen. Er benennt die ihn umgebende Wirklichkeit konsequent als ein Falsches und plädiert dennoch für das vorläufige Aushalten der Widersprüche. Diese Haltung wird in der Lektüre seiner Weimarer Arbeiten und in dem methodischen Verfahren seiner Kritik offenbar. Walter Benjamin beschreibt Kracauer 1930 als einen „Lumpensammler“ (Walter Benjamin 1991, 225), um eben diese Methode greifbar zu machen. Früh im Morgengrauen, auf den noch menschenleeren Straßen, untersucht Kracauer mit mikroskopischem Blick die metaphorischen Lumpen, die ihm als die weggeworfenen, vergessenen und nur beiläufig gebrauchten Phänomene und Objekte der Kultur erscheinen. Ihm geht es um eine kritische Verknüpfung des vermeintlich Oberflächlichen und jener Gesellschaft, die sich darunter verbirgt. Für diesen Ansatz einer erkenntnistheoretischen Aufwertung marginalisierter Phänomene des Alltags, wie auch für das Leben Kracauers im Allgemeinen, ist die beschriebene Figur des passiven Ausharrens zentral. Sie hält Methode und Theorie des Lumpensammlers, eine marxistisch orientierte Form der Gesellschaftskritik sowie die Skepsis gegenüber vorschneller Praxis und allzu leicht über die Lippen gehender Glaubensbekenntnisse zusammen. Im Folgenden soll der Blick auf diesen Umgang Kracauers mit dem Negativen gerichtet werden, auf jene Haltung also, die er früh als ein Warten im entleerten Raum bezeichnet hat. So kann ein Zugang zu seinem Werk eröffnet werden, durch den die Passivität und die vorsichtige Haltung, die ihm später den Vorwurf des Konservatismus einbrachten, stattdessen als Initialmomente einer emphatischen Kritik der Wirklichkeit erkennbar werden.

 

– 2 –

Anfang der 1920er Jahre beginnt Kracauer seine Arbeit als Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Zeitung. 1922 erscheint dort der Text Die Wartenden, der sowohl die Zeitdiagnose eines historischen und metaphysischen Nichtseinsollenden als auch die Kritik an einer Vielzahl gesellschaftlicher und philosophischer Reaktionen darauf enthält. Der Aufsatz beginnt mit einer inkludierenden Ansprache. Als Feuilletonist richtet sich Kracauer nicht ausschließlich an ein Fachpublikum, sondern an eine breite bürgerliche Schicht, die „Gelehrt[e], Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte, Studenten und Intellektuell[e] aller Art“ (Kracauer 1977c, 106) explizit einschließt. Was sie miteinander verbinde, sei eine „tiefe Traurigkeit, die dem Wissen um ihr Eingebanntsein in eine bestimmte geistige Situation entwächst […]“ (ebd.). Diese geistige Situation ist, was zunächst als das Negative bei Kracauer bezeichnet werden kann: „Es ist das metaphysische Leiden an dem Mangel eines hohen Sinnes in der Welt, an ihrem Dasein im leeren Raum, das diese Menschen zu Schicksalsgefährten macht.“ (Ebd.)

Auf einer historischen Ebene beschreibt Kracauer dieses Negative des Sinnverlusts zunächst als ein Resultat des „Jahrhunderte währenden Prozeß[es] […], in dessen Verlauf das Ich sich losreißt von seiner Gebundenheit an Gott und die Gotteswelt […]“ (ebd.). Aufklärung und Säkularisierung erscheinen Kracauer als Bewegungen, die den Menschen zwar einerseits in eine emanzipierte Stellung der Autonomie befördern, ihn aber andererseits aus der sicheren Stabilität der kirchlichen Glaubensgemeinschaft und ihrer, die Wirklichkeit überspannenden, Dogmen herausreißen würden (vgl. Mülder 1985, 19 f.). Das Individuum transformiere sich im Laufe der Geschichte, werde in der Aufklärung zum „zeitlosen Vernunft-Ich“, in der Romantik zur „weit ausladenden Persönlichkeit“ (beide Zitate Kracauer 1977c, 107) und vereinzele schließlich unter kapitalistischen Produktionsbedingungen.

Wesenhaft für das Negative sei im Besonderen auch die seelische Lage der Menschen. Der historische Abriss des Säkularisierungsprozesses wird bei Kracauer durch die metaphysische Beschreibung einer radikalen Entfremdung vom Absoluten ergänzt. In dieser Rede wird die Nähe der Diagnose zu Georg Lukács deutlich. 1916 hatte dieser in seiner Theorie des Romans den Begriff der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Lukács 1984, 32) geprägt. Auch er hatte damit die Entfremdung des Menschen vom Absoluten in der Moderne bezeichnen wollen, den Verlust eines durch Sinn erfüllten Ganzen (vgl. Jung 2001, 16). Kracauers Negatives schließt nicht nur in der inhaltlichen Feststellung an die transzendentale Obdachlosigkeit an, sondern auch in der räumlichen Umschreibung. Was bei Lukács der Verlust des Obdachs ist, erscheint bei Kracauer in ähnlicher Formulierung, als eine „Entleerung des […] Raumes“ (Kracauer 1977c, 106), als das Gefühl „überall und nirgends zu Hause“ (ebd., 108) zu sein, als „Vertriebensein aus der religiösen Sphäre […].“ (Ebd., 107) In seiner Rezension der Theorie des Romans beschreibt er zusammenfassend ein „unnennbare[s] Heimweh nach dem entschwundenen Sinn“, welches jeden Menschen beseelen würde, „der sich seines Aufenthaltes in unserer gottverlassenen Welt als eine Verbannung bewußt geworden ist“ (Kracauer 2011b, 288).

Das hier beschriebene Negative stellt im Werk Kracauers eine Konstante dar, die sich zumindest durch die ersten Phasen des Schaffens stringent hindurchzieht und ebenso den Initialmoment seiner Philosophie markiert (vgl. Stalder 2003, 120). Mülder betont, dass insbesondere die frühen Schriften sämtlich die Folgen der Säkularisierung verhandeln und dabei auch deutlich eine persönlich-emotionale Position einnehmen, die von der romantischen Verklärung einer vermeintlich verloren gegangenen Glaubensgemeinschaft durchzogen und von der privaten Situation des Schreibenden beeinflusst ist (vgl. Mülder 1985, 19). Der gemeinhin positiv assoziierte Begriff der in der Aufklärung eintretenden Verweltlichung erscheine Kracauer eher als ein „Verlust an Welt“ (ebd.). Zwischen dem Individuum und der Wirklichkeit entstehe ein Riss. Letztere stelle sich ohne den Bezug zum Absoluten nicht mehr als eine „sinnvolle Lebensganzheit“, sondern als „sinnentleerte Mannigfaltigkeit von Dingen“ (beide Zitate ebd., 22) dar. Schröter hat dieses Gefühl der Fragmentierung und des Weltzerfalls als charakteristisch für das Denken Kracauers bezeichnet. Sowohl die Wirklichkeit als auch das Individuum werden in der rückblickenden Idealisierung der religiösen Gemeinschaft als einst abgerundete und vollständig interpretierte Ganzheiten vorgestellt, die in der von Säkularisierung und kapitalistischer Arbeitsteilung geprägten Gesellschaft zerfallen (vgl. Schröter 1980, 20 f.).

Es ist der Umgang mit der Konstante dieses Negativen, der im Werk Kracauers einem Wandel unterliegt. Der Text Die Wartenden kann in dieser Hinsicht zunächst als ein Wendepunkt verstanden werden, der eine Phase der religiösen Verklärung und der starken Anlehnung an die Soziologie und Phänomenologie Georg Simmels und Max Schelers von einer Phase der materialistisch und marxistisch fundierten Wirklichkeitskritik abgrenzt. Vor 1922 sieht Kracauer vor allem in den Theorien seines Lehrers Simmel einen Ansatz, mit dem Negativen umzugehen und eine neue Form des Sinns in der Wirklichkeit zu entdecken. In einem Text von 1920, der Georg Simmel überschrieben ist und die Einleitung einer unveröffentlichten Monografie darstellt, beschreibt Kracauer anerkennend das Grundprinzip von dessen Philosophie: „Alle Äußerungen geistigen Lebens […] stehen in unnennbar vielen Beziehungen zueinander, keine ist herauslösbar aus den Zusammenhängen, in denen sie sich mit anderen befindet.“ (Kracauer 1977d, 218) Wurde das Negative als Weltzerfall, Vereinzelung und Zersplitterung beschrieben, so findet Kracauer hier zunächst eine neue sinnstiftende Perspektive auf die moderne Wirklichkeit. Sie erhält bei Simmel die Konnotation eines Gespinsts der Verflechtungen und in dieser Form einen Sinn, der für Kracauer zwar kein neues Absolutes darstellt, aber doch auf die Diagnose der Vereinzelung und des Zerfalls der Welt zu antworten vermag (vgl. Stalder 2003, 122). Denn kein Phänomen, so Kracauer, lasse sich bei Simmel einzeln herausstellen und für sich erklären, ohne dabei auf die vielfältigen Verbindungen zu anderen Erscheinungen der Wirklichkeit zu verweisen und „Beziehungen zwischen scheinbar Getrenntem“ (Kracauer 1977d, 219) zu betonen.

Dass die Bezugnahme auf Simmel dennoch maßgeblich von Ambivalenz geprägt ist, liegt vor allem an dessen Hinwendung zur Lebensphilosophie und damit auch am Verhältnis zum Negativen. Bereits in dem, zumeist anerkennenden, Aufsatz von 1920 bemerkt Kracauer, dass Simmel sich darum bemühe, die erkannte Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit nicht nur in ihren Verbindungen, sondern auch in ihrer Gesamtheit als ein Absolutes zu begreifen. Dieser Weg führe ihn „zu einer Metaphysik des Lebens, zu einem groß angelegten Versuch, das Erscheinende aus einem absoluten Prinzip heraus zu verstehen“ (ebd., 226). Das Prinzip des Lebens werde von Simmel, so schreibt Kracauer, als ein Konzept mit allumfassender Machtsphäre gedacht, das sowohl die manifesten als auch latenten und in Bewegung begriffenen Erscheinungen der Wirklichkeit durchströme (vgl. ebd., 226 f.). Alle Phänomene, Gefühle, Ideen und Wahrheiten seien bei Simmel so in letzter Instanz vom Urprinzip des Lebens bedingt. Für Kracauer kann diese Form eines vermeintlichen Absoluten keine Aufhebung der Erfahrung des Negativen bedeuten. Simmels Versuch, ein Prinzip zu ergründen, das die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit in Gänze überspannt, sei „der letzte Erfolg versagt geblieben […]“ (ebd., 227).

Zwei Jahre später wiederholt Kracauer diese Kritik in den Wartenden und spitzt sie noch konkreter auf das Problem eines Umgangs mit dem Negativen zu. Simmel erscheint ihm dann zunächst als Typus eines „auf die Spitze getriebenen Relativismus“ (Kracauer 1977c, 108), der sich einerseits in die Phänomene der Wirklichkeit versenken und andererseits nirgends eine Erkenntnis finden würde, die das Phänomen selbst auf einer höheren Ebene übersteigt und zur Allgemeinheit wird. Die Wendung zur Lebensphilosophie sei eine Reaktion auf diesen Umstand, sei „eine Verzweiflungstat des Relativismus, der auf der Suche nach einem festen Grunde schließlich an das grund- und wurzellose Leben geriet […]“ (ebd., 109). Die Tendenz zur Lebensphilosophie erscheint aus Kracauers Perspektive so als eine Art philosophische Kapitulation vor dem Nichtseinsollenden, ausgelöst durch den „Schrecken vor der Leere […]“ (ebd.).

Ähnliche Formen der vorschnellen, eskapistischen Resignation vor dem Negativen erkennt Kracauer nicht nur bei Simmel, sondern auch in so unterschiedlichen und heterogenen gesellschaftlichen und theoretischen Bewegungen wie der Anthroposophie Rudolf Steiners, dem kommunistischen Messianismus seines Freundes Ernst Bloch oder in der „Wiedererweckung der alten Menschheitslehren“ (Kracauer 1977c, 111). Kracauer kritisiert den erneuten Eintritt in die positiven Religionen ebenso wie den rechtsintellektuellen George-Kreis, welcher von ihm als eine Gruppe erkannt wird, die gegen die Leere und Zufälligkeit des Negativen „das heilige Gesetz als erhaltendes Gemeinschaftsprinzip“ (ebd.) verehren würde. Die deutliche Kritik an diesen äußerst diversen Reaktionen lässt sich in einem Gedanken zusammenfassen, den Kracauer drei Jahre später im Text Gestalt und Zerfall formuliert. Hier spricht er zunächst erneut von dem verständlichen „Wunsch, aus dem Chaos herauszufinden“ (Kracauer 2011c, 284). Nachdem das Negative erfahren und erkannt worden sei, so schreibt er, „tauchen, begreiflich genug, wie Luftspiegelungen in der Wüste die Gegenbilder zauberisch auf“ (ebd., 285). Kracauer wendet sich vehement gegen eine Orientierung an diesen Fata Morganen, gegen ein „zu schnelles Beschreiten dieses Weges“ (ebd., 286), denn er sieht die Gefahr, „daß jene Versuche ein Überspringen bedeuten, daß sie beim eigentlichen Ansatzpunkt gar nicht anheben, sondern lediglich ihn verdecken“ (ebd.). Diese Form einer aktiven Bewegung, die sich mit ihrer Wirklichkeit und ihrem eigentlichen Standpunkt nicht ernsthaft auseinandersetzt, steht im Zentrum von Kracauers Kritiken am gesellschaftlichen Umgang mit dem Negativen.

Eine ehrlichere Haltung, so könnte man sagen, findet er dagegen im Typus des „prinzipiellen Skeptikers“ (Kracauer 1977c, 113), welcher den Selbstbetrug verneint. Der Skeptiker reflektiert das Negative und entschließt sich gegen die Flucht und für das passive Verweilen. Seine Haltung lässt sich zusammenfassen als gleichzeitiges bewusstes Erkennen des Nichtseinsollenden und der pessimistischen Überzeugung, eine Besserung dessen sei unmöglich. Max Weber, der von Kracauer als Beispiel dieses Typus genannt wird, drehe der Vorstellung des Absoluten den Rücken zu und verwandele das Nicht-glauben-Können proaktiv in ein positives Nicht-glauben-Wollen, das sich letztlich, so Kracauer, auch in seinem durchaus positiven Verständnis einer Entzauberung der Welt niederschlage (vgl. ebd.). Trotz dieses Pessimismus, dem sich Kracauer nicht anzuschließen gewillt ist, erscheint ihm das ausharrende Verhalten des prinzipiellen Skeptikers als eine Form der Tapferkeit, die er in die Formulierung seiner eigenen Position übernimmt.

 

– 3 –

Der Text Die Wartenden markiert in Kracauers Werkzusammenhang auch gerade deshalb eine Wende, da er sich nicht mehr in der Diagnose des Negativen und der Kritik an den Reaktionen darauf erschöpft. Auf den letzten Seiten des Aufsatzes reflektiert Kracauer den Typus der Wartenden, der auch als eine Beschreibung seines eigenen intellektuellen Habitus verstanden werden kann (vgl. Schröter 1980, 22). Es ist der Versuch, eine Position zu begründen, die sich sowohl gegen den radikalen Pessimismus des prinzipiellen Skeptikers als auch gegen den eskapistischen Selbstbetrug stellt und die stattdessen Formen der Hoffnung und der Kritik in das Ausharren im Negativen einbringt. Kracauers Beschreibung bleibt dabei vage und durchaus widerspruchsvoll. Das Warten wird von ihm zunächst als ein „zögerndes Geöffnetsein in einem allerdings schwer zu erläuternden Sinne“ (Kracauer 1977c, 116) umrissen. Wie der prinzipielle Skeptiker, zeichnet sich auch der Wartende durch die Tapferkeit im „Ausharren-Können“ (ebd., 117) aus, das hier jedoch nicht mit dem gleichen Pessimismus einhergeht. Stattdessen strebt der Wartende immer noch nach dem Absoluten, ohne es sich dabei jedoch in einer Weise leicht zu machen, wie jene Strömungen, die Kracauer zuvor kritisiert hatte. Eine neue sinnerfüllte Beziehung zum Absoluten könne erst dann erfolgen, „wenn wirklich das Gesamtwesen die Beziehung eingeht“ (ebd.). Das von Kracauer als fragmentiert diagnostizierte Individuum der kapitalistischen und verdinglichten Moderne ist dazu nicht in der Lage.

Ohne die objektiven Bedingungen für ein neues Absolutes erscheint das Warten also zunächst als eine Form der Passivierung und des Aushaltens der Leiderfahrung. Diese Passivierung geht für Kracauer jedoch nicht mit Entspannung einher. Er spricht stattdessen von „angespannte[r] Aktivität“, vom „tätige[n] Sichbereiten“ und schließlich vom in die Verbundenheit der Menschen führenden „Sprung, zu dem man weit ausholen muß […]“ (alle Zitate ebd., 117 f.). Dieses Bild des Sprungs, der aus der Verzweiflung in ein neues Positives führt, mag an Karl Japsers oder an Søren Kierkegaard erinnern, auf den sich Kracauer in seinem Frühwerk öfters, etwa in der Schrift zum Detektivroman, bezieht (vgl. dazu etwa Mülder 1985, 39 ff.). Der Wartende jedoch springt nicht. Er holt aus, er bereitet sich vor, er spannt seinen Körper an – er wartet. Seine Bewegung ist eine, die bei sich bleibt, die nur in der Nahsicht zu erkennen ist. Von Weitem aus betrachtet scheint der Wartende still zu stehen, sich nicht von der Stelle zu bewegen. In diesem Bild ist angedeutet, dass Kracauers Ausharren weder völlige Passivität noch Aktivität beschreiben will. Im Warten wird eine Zwischenstellung eingenommen, die sich widersprüchlich gibt, um auf die Widersprüche des Negativen zu antworten. Ein Versuch, den eigentlichen Gegensatz zwischen Aktivität und Passivität aufzuheben, zu ent-setzen und die paradoxe Position einer Handlung in der Nicht-Handlung zu denken.

Trotz der Schwierigkeit, zu erfassen, was das Warten nun positiv auszeichnet, wird Kracauer in den letzten Zeilen des Textes deutlicher und schildert zumindest in Umrissen, was man als methodische Orientierung seines Schreibens der darauffolgenden Jahre verstehen kann:

„Sagbar ist allenfalls u.a., daß es sich für die hier gemeinten Menschen [die Wartenden, TS] um den Versuch handelt, […] aus der atomisierten unwirklichen Welt der gestaltlosen Kräfte und der des Sinnes baren Größen einzukehren in die Welt der Wirklichkeit und der von ihr umschlossenen Sphären. Infolge der Überspannung des theoretischen Denkens sind wir dieser Wirklichkeit, die von leibhaftigen Dingen und Menschen erfüllt ist und deshalb konkret gesehen zu werden verlangt, in einem entsetzenerregenden Maße ferngerückt.“ (Kracauer 1977c, 118)

Was das Warten auszeichnet, ist vor allem diese aktive und kritische Hinwendung zur Wirklichkeit. Ein Begriff, der in Kracauers Werk durchgehend eine zentrale Rolle einnimmt, dessen Konnotation sich jedoch wandelt (vgl. Schröter 1980, 22). Hier bezeichnet er in einem emphatischen Sinne die Mannigfaltigkeit der Dinge und Menschen, die den vermeintlich leeren Raum erfüllen. Es ist die Konkretheit, sowohl in der Wahl der Anschauungsobjekte innerhalb dieser Wirklichkeit als auch in ihrer Erfahrung und Analyse selbst, die Kracauers Methode ab 1922 auszeichnet. Sie stellt den Versuch dar, sowohl die abstrakte, rein theoretisch-begriffliche, als auch die bloß empirische Erfassung der Wirklichkeit zu überwinden und eine Synthese zu ermöglichen, die von der konkreten Erfahrung ausgeht, ohne diese zu verabsolutieren. Ein Mittelweg, so Stalder, der „weder auf einer Negation des theoretischen Denkens noch auf der ohnmächtigen Anrufung des Absoluten beruht“ (Stalder 2003, 134).

Kracauers Hoffnung ist dabei nichtsdestotrotz weiterhin auf ein mögliches neues Absolutes gerichtet und auf einen Sinn in der Wirklichkeit, der durch die konkrete Betrachtung und Kritik dieser erkennbar wird. Das Warten ist dabei jedoch kein aktives Herbeiführen, sondern lediglich „Vorbereitung des Nichterzwingbaren […]“ (Kracauer 1977c, 118). „An welchem Punkte diese Wandlung nun eintritt und ob sie überhaupt eintritt, das steht nicht in Frage und darf auch die Sich-Mühenden nicht kümmern.“ (Ebd., 119) In diesem Kontext stellt sich das Warten als ein Prozess der Kontingenzbetonung und Öffnung dar, dem bewusst kein teleologisches Ziel, kein Ende gegeben wird und der in dieser Offenheit eine deutliche messianische Färbung aufweist. Der Wartende bereitet sich fortwährend auf den Sprung vor, ohne zu wissen, wann dieser erfolgen kann. Wachter spricht dahingehend von einer „messianischen Latenz“ (Wachter 2013, 181), die einerseits den Möglichkeitsraum, den Ort der Kontingenz, für eine noch nicht bekannte Zukunft öffnet und andererseits das Noch-nicht dieser Zukunft betont, mit dem sich einer inhaltlichen und zeitlichen Festlegung entzogen wird.

Die hier beschriebene Hinwendung des Wartenden zur Wirklichkeit steht dabei 1922 noch eindeutig in einem Kontext des Frühwerks, der von der persönlichen Erfahrung des Sinnverlusts, der Unmöglichkeit des Glaubens und dem Gefühl der Vertreibung aus einer höheren, romantisch verklärten Wesenssphäre geprägt ist. Ab Mitte der 1920er Jahre geht diese Hinwendung jedoch auch mit einer generellen Veränderung des Standpunkts einher, die sich etwa in Kracauers programmatischen Aussagen „Denn der Zugang zur Wahrheit ist jetzt im Profanen“ (Kracauer 1977b, 186) von 1926 und „Ökonomie statt expliziter Theologie!“ (Kracauer 2011f, 180 f.) von 1929 niederschlägt. Die Theologie und der Wunsch nach einer Möglichkeit des Glaubens werden nie gänzlich aufgegeben, sie werden jedoch nur noch implizit mitgedacht. In den Vordergrund rücken eine materialistische Herangehensweise an die profanen Erscheinungen der Wirklichkeit und eine unorthodoxe und undogmatische Aneignung bestimmter marxistischer Theoreme. In dem bereits zitierten Aufsatz Gestalt und Zerfall von 1925 und in dem Text Die Bibel auf Deutsch von 1926 wird diese neue Ausrichtung explizit:

„Das rationale, unmenschliche Wesen des heutigen Wirtschaftssystems und, damit zusammenhängend, die rationale Struktur des gegenwärtigen Denkens überhaupt […] – kurz, das Maschinenhafte unserer Existenz […] sind etwa die Merkmale der Realität, die immer noch ist.“ (Kracauer 2011c, 285)

„Als faktisches Hindernis des rechten Miteinanders aber sind die wirtschaftlichen und sozialen Machtverhältnisse erkannt, die bis in die letzten Verzweigungen hinein die geistige Struktur der heutigen Gesellschaft bedingen. […] Denn sind an der Eigenmacht der materiellen Faktoren die mit ihnen verkoppelten kulturellen Gebilde zuschanden geworden, so kann nicht anders eine Ordnung erzielt werden als durch die Veränderung dieser Faktoren, die wiederum ihr nacktes Hervortreten aus allen sie bergenden und verbergenden Hüllen zur Voraussetzung hat.“ (Kracauer 1977b, 177 f.)

In diesen Ausführungen sind die zentralen Aspekte der zumindest vorsichtigen Annäherung Kracauers an den Marxismus aufgehoben: das Benennen der falschen und getrübten Rationalität der kapitalistischen Produktionsweise und des verdinglichenden Denkens; eine vage Orientierung am Basis-Überbau-Schema; der Wille zur Entbergung der gesellschaftlich-ökonomischen Grundlagen und schließlich die tendenzielle Bejahung der Revolution. Trotz seiner Haltung des passiven Wartens und der Skepsis gegenüber vorschneller Praxis ist Kracauers Position keine der Reaktion, die sich gegen die Transformation der Gesellschaft wendet: „Es ist, wie gesagt, nicht die Absicht dieser kleinen Besinnung […] den starken Willen zu einer Neugestaltung des Daseins auch nur im geringsten zu lähmen. Im Gegenteil, sie möchte ihn behüten davor, daß er […] in der Erzeugung scheinwirklicher Gebilde vorzeitig sich erschöpfe.“ (Kracauer 2011c, 288)

Die hier beschriebene Entwicklung, vom vorherrschenden Wunsch nach einer Beziehung zum Absoluten, von der Theologie oder der Soziologie Simmels hin zu einem marxistisch geprägten Materialismus der konkreten Wirklichkeit, lässt sich auch anhand der verwendeten Sprachbilder und der damit einhergehenden Verschiebung der intellektuellen Perspektive nachzeichnen. In seiner frühen Werkphase ging es Kracauer noch um die verloren gegangenen höheren, übergeordneten Bereiche des Absoluten und auch 1922 hieß es noch, der Wartende würde sich in seiner Erfahrung der Wirklichkeit „emportasten in vormals ihm unzulängliche Bezirke […]“ (Kracauer 1977c, 118). Mit der fortschreitenden Wende zum Materialismus und in der Figur des Ausharrens wird nun auf „jede Art idealistischen Höhenrauschs“ (Kracauer 2011a, 371) verzichtet und Kracauers Blick richtet sich nach unten. Der Wartende nimmt das erfahrene Negative selbst, die konkrete, ihn umgebende Wirklichkeit in den Blick. Das Kleine, Profane und Marginalisierte, das von der großen Philosophie Übersehene wird von ihm in seiner Bedeutung aufgewertet und ausgehend von der Stillstellung der Bewegung betrachtet. Phänomene, so Kracauer rückblickend in den 1960er Jahren, „die eines Namens noch ermangeln und folglich übersehen oder falsch beurteilt werden […]“ (Kracauer 1973, 16). Für ihn stellen diese Phänomene die „unbewussten Oberflächenäußerungen“ (Kracauer 1977a, 50) einer Epoche dar. Hier verortet er etwa Tanz, Film, Musik, Reisen, Kolportagen oder profane Gegenstände und Objekte. Unbewusst sind diese Phänomene nicht im psychoanalytischen Sinne einer traumatischen Verdrängung, sondern schlicht aufgrund der Unaufmerksamkeit und Beiläufigkeit, mit der die Gesellschaft ihnen begegnet (vgl. Mülder 1985, 88).

Der Begriff der Ober-Fläche, den Kracauer etwa an prominenter Stelle in einem seiner bekanntesten Essays, dem Ornament der Masse von 1927, verwendet, impliziert dabei gleichzeitig eine darunterliegende Tiefenstruktur. Kracauers Methode könnte man in diesem Sinne als eine senkrechte Denkbewegung verstehen, die an der unbewussten Oberfläche, verstanden als gesellschaftliche und historische „terra incognita“ (Kracauer 1973, 16), ansetzt. Das zu kritisierende Phänomen wird von ihm substanziell und konkret durchdrungen, um sich so auch in tiefer liegende Schichten, ins „feinstoffliche Gewebe“ (Stalder 2003, 166) einzusenken und schließlich zum „Kern des Gegebenen“ (Kracauer 1971, 109) vorzustoßen. Der „Grundgehalt des Bestehenden“ (Kracauer 1977a, 50), der am Ende dieser Bewegung aufgetan wird, kann im Sinne von Kracauers marxistischer Wende durchaus als die ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft benannt werden.

Inspiriert ist dieses Denken einer Tiefenstruktur, die von der Oberfläche her zu durchdringen ist, eindeutig von Simmels Methode und dessen Sprachbild des Senkbleis. Sowohl in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben als auch in der Selbstanzeige zur Philosophie des Geldes heißt es, dass an der gleichgültigsten Oberfläche des Daseins ein Senkblei in die Tiefe geschickt werden müsse, um so eine Einzelheit mit der Ganzheit zu verknüpfen (vgl. Simmel 1991, 719 sowie Simmel 1995, 120). Dieses methodische Verfahren greift Kracauer positiv in seinem Text über Simmel auf:

„Von der Oberfläche der Dinge dringt er [Simmel, TS] allenthalben mit Hilfe eines Netzes von Beziehungen der Analogie und der Wesenszusammengehörigkeit zu ihren geistigen Unter-gründen vor und zeigt, daß jene Oberfläche Symbolcharakter besitzt […].“ (Kracauer 1977d, 242)

Wie beschrieben, distanziert sich Kracauer zwar inhaltlich deutlich von Simmel, in der Methode ist er aber weiterhin von ihm beeinflusst. Adorno beschreibt später, dass für Kracauer die Wirkung Simmels „eher die des Denkgestus als Wahlverwandtschaft mit der irrationalistischen Lebensphilosophie“ (Adorno 2003, 391 f.) bedeutet habe. In diesem Denkgestus spielt auch die sprachliche Form der Analogie eine Rolle, die Kracauer als zentral für Simmels Methode betont und die auch in seinen eigenen Schriften häufige Anwendung findet (vgl. Stalder 2003, 194 ff.). Die Methode der Oberflächenanalyse und die kritische Aneignung des Basis-Überbau-Schemas sind in diesem Kontext auch eher als Versuch zu verstehen, Erkenntnis durch die analogische und wechselseitige Verknüpfung von Tiefe und Oberfläche, von ökonomischer Bedingung und kultureller Erscheinung zu erlangen: „Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich gegenseitig.“ (Kracauer 1977a, 50) Als ein Beispiel für dieses Verfahren können etwa Kracauers Analysen der Tanzgruppen Tillergirls und Alfred-Jackson-Girls benannt werden. In den Texten Ornament der Masse sowie in Girls und Krise versucht Kracauer, die Popularität der Synchrontänzerinnen über die Produktionsbedingungen in den Fabriken herzuleiten. Er zeigt die analogische Verbindung zwischen den Beinen der Tänzerinnen und den Armen der Arbeiter*innen auf und betont in beiden Fällen die zu vergleichende Dialektik von Individuum und Masse (vgl. Kracauer 1977a sowie Kracauer 2011d).

Der Gedanke einer gegenseitigen Bestimmung von Oberfläche und Grund impliziert dabei, dass Kracauer weder der einen noch der anderen Ebene allein einen exklusiven Erkenntnisgehalt zuspricht. Eine Verabsolutierung des Basis-Überbau-Denkens, das er dem orthodoxen Marxismus vorwirft, versucht er ebenso wie einen reduktionistischen Ökonomismus oder eine, vom Konkreten wegweisende, Abstraktheit zu vermeiden (vgl. etwa Mülder 1985, 57 f. sowie Stalder 2003, 141 ff.). Vielmehr geht es ihm darum, die Verbindungen und Verflechtungen der Wirklichkeit aufzuzeigen und dabei jedem konkreten Phänomen analytische Aufmerksamkeit zu schenken. Den späteren Kulturpessimismus des Instituts für Sozialforschung teilt Kracauer nur bedingt. Zwar ist auch er ein deutlicher Kritiker der populären Zerstreuungskultur und ihrer eskapistischen Funktionen, dennoch betont er auch das Erkenntnispotenzial in ihr. Gerade durch den unbewussten, das heißt unbedachten und wenig reflektierten, Umgang der Gesellschaft mit der oberflächigen Kultur hätte die Analyse dieser mehr Aussagekraft als die Untersuchung solcher Erscheinungen, die als „Ausdruck von Zeittendenzen“ (Kracauer 1977a, 50) in der Nähe des materiellen Grunds geäußert werden – etwa politische Reden, Aussagen von Unternehmerverbänden, Funktionären etc. (vgl. Mülder 1985, 88).

 

– 4 –

Das Warten Kracauers, seine Figur der Passivität, kann an dieser Stelle als ein Versuch zusammengenfasst werden, eine Position zu begründen, die sich trotz ihrer Forderung zum Ausharren nicht ohnmächtig dem Negativen ausliefern will, die aber auch den Versuch einer vorschnellen aktivistischen Aufhebung dessen verneint. Die Aktivität in der Passivität, die hier vor allem anhand der materialistischen Oberflächenanalyse beschrieben wurde, stellt sich also vielmehr als eine spezifische Form des Denkens und weniger als tatsächliche politische Tathandlung dar. Kracauers Ausharren erscheint in diesem Sinne als Initialmoment eines emphatischen Konzepts von Kritik. Dieses Konzept bestimmt er in dem Artikel Minimalforderung an die Intellektuellen von 1931 näher. Hier beschreibt er, in Antwort an bzw. Widerspruch zu Alfred Döblin, seinen Rat an solche Intellektuelle, die den „Sozialismus wirklich fördern wollen […]“ (Kracauer 2011e, 602). Im Kern geht es ihm dabei um eine marxistisch fundierte Form der (Selbst-)Kritik, die auch sein eigenes Schreiben der Jahre zuvor und die Methode der Oberflächenanalyse auszeichnete.

„Verlangt ist: daß sie [die Intellektuellen, TS] kraft ihres Intellekts […] sämtliche vorgegebenen Positionen radikal in Zweifel ziehen. Das heißt, sie müssen ihre überkommenen Begriffe, und gerade die scheinbar unerschütterlichen, mit den Befunden der revolutionären Theorie konfrontieren und dann sich Rechenschaft darüber ablegen, welche Realität noch jenen Begriffen verbleibt. Unter Umständen keine; unter Umständen ein Grad von Realität, der zu Korrekturen der revolutionären Theorie herausfordert.“ (Ebd., 603)

Dieses kritische Denken wird von Kracauer weiter als ein „destruktives Verhalten“ (ebd., 604) bezeichnet, das die Wirklichkeit ihrer Ideologie entkleidet und den „Abbau der naturalen Mächte“ (ebd., 603) im Sinne einer menschenwürdigen, ungetrübten Vernunft vorantreibt. Eine Formulierung, die an jene Definition von Geschichte als einem fortwährenden Kampf zwischen Vernunft und Natur erinnern muss, die Kracauer 1927 im Ornament der Masse aufgestellt hatte (vgl. Kracauer 1977a, 55). Die Kritik wird hier nun also als eine wesentlich negative bestimmt, als ein „Instrument der Zerstörung aller mythischen Bestände um und in uns […]“ (Kracauer 2011e, 603). Eine Form der Destruktion, die zur Zeit der Weimarer Republik offensichtlich jener entgegensetzt ist, die von der Seite der neuen Nationalismen, etwa bei Ernst Jünger, gefordert wird und sich dort explizit im Namen des Organischen gegen die Vernunft stellt. Während Protagonisten wie Jünger die Altlasten der bürgerlichen Gesellschaft in einer „geistigen Sprengarbeit“ (Jünger 1964, 48) beseitigen wollen und in der Rede von der Destruktion durchaus auch die politische Gewalthandlung legitimieren, betont Kracauer, dass seine „Denkübungen zum Zwecke der Destruktion unserer schlecht fundierten Oberwelt nicht gleichbedeutend mit politischem Handeln“ (Kracauer 2011e, 605) seien. Sie würden jedoch dem kritischen Intellektuellen eine Möglichkeit bedeuten, sich „endlich von der Stelle zu bewegen […]“ (ebd.)

Ausgehend von der Perspektive der Passivität des Ausharrens erscheint diese Formulierung erkenntnisreich. Die Aktivität, die Kracauer im ausharrenden Warten in Form der Kritik entwickelt, wird von ihm nicht als explizite Handlung verstanden. Sie stellt nicht zwangsläufig ein tatsächliches Voranschreiten im Sinne der revolutionären Tat oder im Namen der Geschichte dar und ist deutlich weniger teleologisch zweckgebunden. Dennoch bedeutet die Kritik eine Art aktivistischen Überschuss, der über das rein Passive und die damit verbundene Ohnmacht hinausgeht. Die Kritik ist hier eine Form der Aktivität, die der Wartende im Negativen und gegen das Negative entwickelt. Weder Eskapismus noch Aktivismus erscheinen aus Kracauers Perspektive als Haltungen, die die Kritik und die Hoffnung in diesem Sinne gleichermaßen ermöglichen. Das Konzept der Kritik, das im Warten aufgehoben ist, stellt, mit anderen Worten, eine Konkretion jener angespannten Aktivität dar, die Kracauer 1922 eingefordert hatte. Sie ermöglicht es dem Intellektuellen, sich, wie er schreibt, von der Stelle zu bewegen, ohne das Negative seines Standpunkts dabei aus dem Blick zu verlieren, ohne davor zu fliehen oder es positiv zu affirmieren und zu überspringen. An dieser Stelle erscheint abschließend der enge Zusammenhang zwischen der Passivität des Ausharrens im Negativen und der Kritik selbst. Kracauer fordert die Passivierung weder aus einer fatalistischen Resignation noch aus einem reaktionären Konservatismus heraus, sondern weil er in ihr die Möglichkeit erkennt, den Fokus auf die Widersprüche, auf das Nicht-Identische, das Negative des eigenen gegenwärtigen Stands zu richten und diese Gegenwart so radikal zu kritisieren. In Gestalt und Zerfall schreibt er ganz in diesem Sinne:

„Wenn die schlechte Realität nämlich gewaltig sich behauptet, so wird man zu ihrer Tilgung nicht umhin können, sich mit ihr selber zunächst einzulassen […]. Sie [die heutigen Realitäten, TS] wirkungsvoll zu begrenzen, gilt es, sie ernsthaft ins Auge zu fassen und kämpfend bei ihnen und mit ihnen auszuharren […].“ (Kracauer 2011c, 287)

 

Literatur

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Benjamin, Walter (1991): Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. Zu S. Kracauer, „Die Angestellten“, in: Gesammelte Schriften. Band 3: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 219-225.

Jung, Werner (2001): Von der Utopie zur Ontologie. Zehn Studien zu Georg Lukács, Bielefeld: Aisthesis Verlag.

Jünger, Ernst (1964): Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, in: Werke. Band 6: Essays II. Der Arbeiter, Stuttgart: Klett-Cotta.

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Kracauer, Siegfried (1973): Geschichte - Vor den letzten Dingen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

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Kracauer, Siegfried (1977c): Die Wartenden, in: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 106–119.

Kracauer, Siegfried (1977d): Georg Simmel, in: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 209–248.

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Kracauer, Siegfried (2011a): Deutscher Geist und deutsche Wirklichkeit, in: Werke. Band 5.1: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1906-1923, Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 363–372.

Kracauer, Siegfried (2011b): Georg von Lukács Romantheorie, in: Werke. Band 5.1: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1906-1923, Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 282–288.

Kracauer, Siegfried (2011c): Gestalt und Zerfall, in: Werke. Band 5.2: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1924-1927, Berlin: Suhrkamp Verlag, 283-288.

Kracauer, Siegfried (2011d): Girls und Krise, in: Werke. Band 5.3: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1928-1931, Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 531–533.

Kracauer, Siegfried (2011e): Minimalforderung an die Intellektuellen, in: Werke. Band 5.3: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1928-1931, Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 601–606.

Kracauer, Siegfried (2011f): Zwei Arten der Mitteilung, in: Werke. Band 5.3: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1928-1931, Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 180–187.

Lukács, Georg (1984): Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied: Luchterhand.

Mülder, Inka (1985): Siegfried Kracauer. Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur, Stuttgart: J.B. Metzler.

Schröter, Michael (1980): Weltzerfall und Rekonstruktion. Zur Physiognomik Siegfried Kracauers, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Siegfried Kracauer, München: Edition Text und Kritik, S. 18–40.

Simmel, Georg (1991): Philosophie des Geldes, in: Gesamtausgabe. Band 6, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Simmel, Georg (1995): Die Großstädte und das Geistesleben, in: Gesamtausgabe. Band 7.I: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 116–131.

Stalder, Helmut (2003): Siegfried Kracauer. Das journalistische Werk in der „Frankfurter Zeitung“ 1921-1933, Würzburg: Königshausen & Neumann.

Vogl, Joseph (2018): Über das Zaudern, Zürich/Berlin: Diaphanes.

Wachter, David (2013): Konstruktionen im Übergang. Krise und Utopie bei Musil, Kracauer und Benn, Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag.