25. August 2020

Meens

 


Mainz. Ich wohne jetzt in Mainz. Mainz am Rhein. Der große Fluss ziert die Stadt, schlängelt sich an ihr vorbei. Der Fluss stinkt, es stört aber niemanden. Die Mainzer gehen gerne zum Fluss, liegen am Ufer, reich wie arm. Reich trinkt Sekt und lacht laut; arm verhält sich unauffälliger und brutzelt sich mit selbst gebauten Grills abseits, an weniger einladenden Uferabschnitten, sein Aldi-Fleisch und trinkt aus der Flasche. Arm schläft dort unter einer Eisenbahnbrücke direkt am stinkenden Fluss; reich schläft auch am Fluss, der stinkt, in überteuerten neu erschaffenen Luxusdomizilen mit Blick aufs Wasser und auf das Mainzer Traditionsunternehmen Erdal, dessen immer rauchender Schornstein majestätisch in die Höhe ragt. Auch die Mainzer Luft stinkt. Es riecht wahlweise nach verbrannten Reifen oder verbranntem Toast. Dies animiert den Mainzer zum Joggen mit Schrittzähler am Arm oder Bein. Verschwitzt keuchend schnaufen sie an einem vorbei und schauen verkniffen entlang am Ufer des Flusses, der stinkt, nach Algen oder Tod. Gestorben wird oft im Rhein. Menschen ertrinken, weil sie getrunken haben. Sie werden übermütig, weil sie schwimmen wollen, sie unterschätzen die Strömung, gehen unter und kommen erst viel später an einer ganz anderen Stelle wieder hoch. Dann werden sie von der Wasserwacht aus dem Wasser gezogen, während andere Mainzer mit flotten kleinen Motorjachten eine kurze Strecke über den Rhein brettern, vorbei an Ausflugsschiffen oder Schleppern, um dann an einer Strandbar (Rheinstrand) ein paar überteuerte Weinschorlen hinunterzukippen und dann gleich wieder zurück zum gemieteten Anlegeplatz zu rasen. Dickbäuchig und rotgebrannt gehen sie von Bord, um vielleicht schwimmen zu gehen. Der Kreislauf der Sinnlosigkeit.

Die Brötchen in Mainz schmecken schlecht, aber die Mainzer sind stolz auf ihre Brötchen, so stolz, dass sie ihnen sogar einen Namen gegeben haben. Sie heißen Meenzer, benennen sie nach sich selbst. Sie stolzieren in die zahlreichen Backstuben der Stadt, grüßen mit „Morsche“, was so was wie „Guten Morgen“ heißen soll, und verlangen zwei bis zwanzig Meenzer. Die Verkäuferin befördert die Meenzer geschwind in eine Papiertüte. Komme ich an die Reihe und bestelle drei Brötchen, werde ich mit diesem Blick gemustert der besagt: „Aha, kein Meenzer, der da ist nicht von hier, der weiß nicht Bescheid, sagt auch nicht Morsche, wenn er den Laden betritt, sondern nur so ein abfälliges Guten Morgen. Ihm schnell unsere leckeren Meenzer in die Tüte geben, die er sicher nicht mal zu schätzen weiß, schnell abkassieren und raus mit dem Fremden.“ Amüsant ist es, wenn man den Laden mit einem trockenen „Moin“ betritt. Die Begrüßungserwiderung ist knapp (das „Morsche“ klingt dann eher wie das Zähneknirschen eines Neunzigjährigen) oder bleibt direkt aus. Zu Hause die Meenzer auf den Frühstückstisch gestellt. Meine Frau schaut angewidert, mag keine Meenzer, überhaupt Brötchen jeglicher Art. Brötchen wurden ihr im georgischen Bürgerkrieg verleidet. Weil die Brötchen in ihrer Jugend in Georgien oft, anstatt wie in Deutschland, mit Rosinen oder Schokostückchen, mit Schrauben oder Rattenkot gefüllt waren. Ihr Bürgerkrieg tobte parallel zum Bosnienkrieg in Europa und dem wurde in den Medien deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Ungebildet und politisch desinteressiert, wie ich damals als Heranwachsender nun mal war, bekam ich von der georgischen Bürgerkriegsthematik überhaupt nichts mit. Meine Frau und ich sind jetzt beinahe gleich alt. Doch während sie Anfang der neunziger Jahre Angeschossene von der Straße in einen Hausflur ziehen musste, komplett unerfahren notdürftig die Schussverletzungen versorgte, tanzte ich etwa dreitausend Kilometer entfernt ausgelassen zu The Sisters of Mercy oder zu The Cure in unserer Dorfdiskothek. Während ich zu Hause Mix-Kassetten zusammenstellte, nahm meine Frau in Tiflis in zwei Minuten eine Kalaschnikow auseinander und setzte sie wieder zusammen. Die aufregendsten Abende waren es, wenn ich und mein Kumpel Mirco nachts nach dem Diskobesuch den italienischen Möchtegernschläger Sandro begegneten, der mit großem Enthusiasmus und in schöner Regelmäßigkeit Mirco mehrere Ohrfeigen verpasste. In Tiflis gab es zu dieser Zeit Ausgangssperre, wer sich dennoch draußen aufhielt, wurde erschossen. Während wir in der Disse zu „Anarchie in the UK“ pogten, herrschte die wahre Anarchie zeitgleich in den Straßen von Tiflis. Junge Frauen wurde von drei bis vierköpfigen Männergruppen in Autos gezerrt, entführt und erst wieder freigelassen, als man sie zwangsverheiratet hatte. Oder, ein junges Liebesglück konnte auch schon mal dadurch beendet werden, wenn plötzlich ein ungestümer Nebenbuhler auftauchte, um den glücklich Verliebten hinterhältig mit einem Messer in irgendeinem Hinterhof abzustechen.

Jahre später verschlug es meine Frau und mich nach Mainz, in die kleine Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz am stinkenden Fluss. Aber bei den Mainzern ticken die Uhren anders und auch die Jahreszeiten, sie haben sogar eine mehr, die fünfte. Dann ziehen sich die Mainzer lustige Kostüme, vorzugsweise Uniformen an und stolzieren majestätisch durch die Straßen und nehmen sich wichtiger als ihr trostloses Leben. Sie spielen Blasinstrumente, schmeißen Bonbons durch die Gegend und trinken bis zur Bewusstlosigkeit. Später geht’s in die Rheingoldhalle zur Prunksitzung, da zeichnet dann sogar das Fernsehen auf. So geht das seit Jahrhunderten. Ist das der Grund, dass unzählige Mainzer auch in den vier übrigen Jahreszeiten wankend und leicht vornübergebeugt durch die Einkaufspassagen dieser Stadt schlurfen. Manche Dinge sollte man lieber nicht erforschen?

Meine Frau will spazieren. Also geht’s an den Rhein (was anderes gibt’s hier ja nicht), der ewig fließt, der stinkt, mit seinen Schleppern, Ausflugsdampfern, Motorjachten und Wasserleichen, mit Blick auf den rauchenden Schornstein von Erdal.

Jörn Birholz