4. August 2020

What is wrong with accepting visual noise?

 

Das mit Sicherheit am profundesten missverstandene Werk von allen Architekturpublikationen im letzten Jahrhundert war Learning from Las Vegas von Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour. Zwei Auflagen, das Original von 1972, als Ergebnis jahrelanger Yale-Studien und -Workshops mit einer bis heute genialen fortschrittlichen grafischen Argumentation, deren Layout bahnbrechend war, und einer (billigeren) Neuauflage von 1977, deren Kern, eben das sinnliche Argumentieren mit verblüffenden Collagen, griffigen Kommentaren & laufenden Dimensionsverletzungen, schlicht fehlte. Der Pudel des Missverstehens steckt im scheinbaren Manifestcharakter des Buchs, das aber kein Manifest ist und auch nie sein wollte. Es ist schlicht eine künstlerische Weiterentwicklung der Ideen Ed Ruschas von Deadpan-Fotografie der aus dem Ruder gelaufenen Schilderwälder in Las Vegas. Erweitert um den Impetus, auf die sinnliche Relevanz von kommunikativen Architekturgesten hinzuweisen. Sozusagen mit etwas Pop gegen den Funktionalismus anzugestalten. In Denise Scott Browns Worten: „A treatise on Symbolism.“ NICHT: dass alle Las Vegas nachbauen müssen!

Die bewusst offen gehaltene Mehrdeutigkeit ihres als „Wissen“ getarnten Werks macht seine ungebrochene Popularität aus. Die AutorInnen haben nie nachgelassen, von ihr Gebrauch zu machen und seither verschlossen, ambivalent und provokant aufzutreten. Damit gehört das Büro VSB, das visuell stets auf der Höhe war, zu einem der wenigen Outfits der Architektur, die sich smart bei künstlerischen Methoden bedient haben, um auf Handlungsbedarf im Feld zwischen Raum und Wahrnehmung hinzuweisen.

Als Fußnote muss stets ergänzt werden, dass sie als KritikerInnen zwar hochkompetent, als EntwerferInnen allerdings weniger schlagfertig und talentiert agierten. Die Bauten und Interventionen Venturis & Scott Browns funktionieren zwar, aber sie scheinen einfach nicht. Mitunter sind sie unnötig nervig.

Doch zurück zu ihrer stellaren Stunde, die die Herausgeber Stanislaus von Moos und Martino Stierli just einer Revision unterzogen haben, betitelt Eyes that saw – Architecture after Las Vegas. Das spannende Essaykonvolut versammelt Stimmen der Nachgeneration, die sich auf verschiedene Weise mit der Wirkung des Bestsellers auseinandersetzen, den konservativere Stimmen wie Kenneth Frampton schon 1972 scharf angriffen, es „zynisch“ nannten und damit weiter polarisierten, da sie sich mit den Kerninhalten eben nicht auseinanderzusetzen gewillt zeigten oder ihnen die bildliche Argumentation, also die Kunst, schlicht nichts sagte. Oder der heftigen späten Gegenbewegung der Cidade Limpa in Sao Paulo, die von jetzt auf gleich sämtliche Schilder in der Stadt kassierte.

Interessant sind die Beiträge Rafael Moneos zu Venturi und dessen „dual nature“ als Kritiker und Produzent oder Valéry Didelons grafische Aufarbeitung der Verkettungen des Werks zu anderen Publikationen. Besonders gelungen, wenn Venturi und Scott Brown selbst zu Wort kommen. Besonders Letztere mit gewohnter Schlagfertigkeit zum Mythos Learning from las Vegas: „We played a game called I can like something worse than you like.“ Und auf die entscheidende Frage, was man denn nun gelernt habe, also auf jenen Pudels Kern, antwortet sie: „See what we do next.“

Am wichtigsten bleibt das Original von 1972, denn dies ist das Werk, die Aussage, der Kult in seiner Vollkommenheit. Nicht mehr und nicht weniger. Eyes that saw unterstreicht genau dies. Es steht mindestens in einer Reihe mit Marshall Macluhans Publikationen oder S, M, L, XL.

 

Jonis Hartmann

 

Moss, Stierli [Hg.]: Eyes that saw. Scheidegger Spiess, Zürich 2020