30. Juni 2020

Notizen zur Notiz

 

Ein Literat wider Willen könnte man den französischen Dichter Georges Perros nennen, der bis zu seinem Tod einen einzigen Gedichtband und zwei Notizhefte veröffentlichte, posthum ein weiteres Notizheft. Und jene Hefte jeweils nur auf Drängen seiner Freunde. Von denen hatte Perros, in die Bretagne gezogen, fernab von Paris, wo er als Schauspieler tätig war, offensichtlich viele und zwar einflussreiche, die ihn regelmäßig aufsuchten und anscheinend Guru-artig verehrten. Was er in den Klebebildern, unlängst als Foliant bei Matthes & Seitz in der Übersetzung von Anne Weber erschienen, anbietet, alle drei Notizhefte gesammelt (allerdings mitnichten typografisch „geklebt“ o. Ä.), sind tatsächlich recht seltsame Aufzeichnungen, die häufig mit ICH beginnen und ziemlich unbearbeitet noch an der Schwelle zur Literatur stehen.

 

Debussy hat seine ganze Musik in einem Aquarium sitzend komponiert.

 

Das soll die Qualität seiner Geistesblitze nicht schmälern, im Gegenteil es sind mitunter phänomenale oder skurrile Sachen darunter, doch dieses Selbstwerkzeug Schreiben-am-Cafétisch ist nicht unbedingt der Kunst wichtigster Motor oder anderes ausgedrückt: Das, was diese Texte weiterhin noch hätten werden können, wird durch die eingeengte Schreibperspektive systematisch unterbunden, zuletzt durch die Nicht-Intention, überhaupt an die Öffentlichkeit als Schreibender treten zu wollen. So kann man sich Perros‘ literarische Lektüren, Empfehlungen, Kalauer und beißenden Kritiken zwar gut durchlesen, doch das Gefühl, einen riesigen Rohschnitt aufgezeichneter Gespräche vor sich zu haben, deren Privatheit ihnen eingeschraubt bleibt, verfestigt sich, je weiter man vordringt – trotz der stärker ausgearbeiteten Passagen, die später auch mit der Grafik zu spielen beginnen.

 

Gedicht. Ein Mann liegt im Sterben. Im Sterben. Man transportiert ihn in die Klinik. Rettet ihn. Das Gedicht ist die Operation.

 

Der Band ist letztlich aufrichtig, auch gelungen in seiner Produktion, aber er ist kein Über-Band. Die Publikationsidee selbst ist gut und wichtig, nicht zuletzt durch die beharrliche Übertragungsarbeit Anne Webers, denn hierfür liegt sehr wohl ein Konzept vor. Doch die Texte leiden an ihrem Nicht-Bewusstsein. Georges Perros war interessant, ja. Aber Charisma allein ist nicht ohne Weiteres in jedes Medium übertragbar.

 

Jonis Hartmann

 

Georges Perros: Klebebilder, Matthes & Seitz, Berlin 2020