31. Mai 2020

Verspielt und gefährlich

 

Wenn Sie Ihren Coming-of-Age-Kleinen etwas verwirrend Gutes tun möchten, dann schenken Sie ihnen UNFOLLOW. Der Comic von Lukas Jüligers erzählt ein modernes Revoluzzermärchen. Hauptpersonen sind ein jugendlicher Visionär und seine vernetzte Freundin, eine Influenzerin, die ihre mediale Potenz einsetzen, um die Menschheit zu retten.

Dass die Menschheit gerettet werden muss und die Sage vom unbegrenzten Wirtschaftswachstum auserzählt ist, dürfte auch im letzten Kinderzimmer angekommen sein. Es bleibt aber die Frage, ob der Wandel blutig oder friedlich, als Revolution oder Metamorphose stattfinden wird.

Slavoj Zizek oder Peter Sloterdijk. Sicher ist, beide wollen auch nur in Ruhe ihre Schreibarbeit verrichten – in Ruhe seine Arbeit machen, sollte übrigens in den Menschenrechten verankert werden – und fallen damit als Anführer aus. Wer der nächste (Ver-)Führer wird, vielleicht ein Hybrid aus Greta Thunberg und Vernon Subutex, zeichnet sich derzeit nicht ab. Noch ist kein Held, der sich für die neue Gesellschaft opfern würde, um die Zeitenwende zu schaffen, in Sicht. Mit UNFOLLOW sind aber zwei neue Entwürfe hinzugekommen; Earthboi (der Revoluzzer) und seine Freundin Yu (seien Gefährtin). In kleinen verwirbelten Erzählungen beschreibt Jüliger den unaufhaltbaren Aufstieg des Paars. Die Menschheitsuntergangsfakten sind auf dem Tisch. Jetzt sucht alle Welt nach dem Super-Narrativ, unter dem sich die Menschheit freiwillig versammelt, um gemeinsam „rüber“ in die neue Zeit zu machen. Zum 150. Geburtstag Lenins erinnern wir uns, dass der Mensch nicht nur fähig ist, sich selbst einzuschließen, sondern auch seinen Körper, sozusagen als Risikokapital und Kredit auf die Zukunft, einzusetzen.

Getrieben von der Vorstellung, seine Rahmenbedingungen und die echte (und nicht nur Wahl-)Freiheit selbst zu gestalten. Es ist ein Leichtes, eine Revolution anzuzetteln, wusste auch Lenin, irgend ein Mob findet sich immer, aber die Kräfte anschließend menschenfreundlich zu kanalisieren, ist dagegen viel schwerer. UNFOLLOW zeigt mehrere revolutionäre Verführungsstrategien. Auch hier wird der große Wechsel, wie bei Virginie Despentes „Subutex“, nur den Ärmsten/Jugendlichen zugetraut. Jene, die noch nicht oder nichts mehr zu verlieren haben – nach Alain Badious „Versuch, die Jugend zu verderben“ kommen zu den Jungen noch die Alten.

Lukas Jüliger montiert verschiedene Motive miteinander; biblischen Widerstand mit „Ende Gelände“-Aktionen, RAF-Kaufhausbränden, Bio-Bhagwan, Jonestown-Bildern und Lennon/Ono-Happenings. Und das anhand so dermaßen niedlicher, spitteliger, androgyner Hauptfigürchen, dass man ihnen selbst ihre Konzept-Tätowierung verzeiht – was den Comic für Kinder in den Augen ihrer Eltern vielleicht gefährlich macht.

Sollten also die Sprösslinge eines Tages mit Tätowierungen verstorbener Tierarten am Frühstückstisch erscheinen, wissen Sie wenigstens, woher die Idee stammt.

Tolles Werk: genau, offen und naiv gezeichnet, einfaches Setting, gelungene Bild- und Perspektivwechsel, dramaturgisch fein gewebt, intellektuell anspruchsvoll und herzzerreißend süß, verspielt und gefährlich, was will man mehr!

Christoph Bannat

 

Lukas Jügliger: Unfollow

EUR 18,00

ISBN 978-3-95640-217-3
168 Seiten, farbig, 13,9 × 21,5 cm, Klappenbroschur

Reprodukt

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