24. Mai 2020

KUNST FÜR ARME

Kunst für Arme / Ars povera (2020 W. Timmler)

 

Von Wolfgang W. Timmler


- Wo ist das geblieben, was bleiben wird? Fragst du dich das nie? Zum Beispiel gibt es von den zwanzig Bildern, die ich gemalt habe, heute kein einziges mehr. Und ich habe nicht mal Fotos davon.

- Das ist doch gut so.

- Was soll daran gut sein?

- Überleg doch mal, wie es wäre, wenn es deine Bilder noch gäbe.

- Von mir soll nichts bleiben, meinst du?

- Du darfst dir den Verlust nicht anmerken lassen. Das will ich damit sagen.

- Ich soll so tun als ob?

- Darum geht es, ja.

- Um Verlust?

- Nein!

- Um was dann? Um Täuschung?

- Nein, um Ungewissheit. Ungewissheit kennt jeder.

- Ich weiß nicht.

- Umso besser für dich.

- Du veralberst mich?

- Quatsch! Wieso sollte ich? Im Grunde genommen versteht doch keiner den anderen wirklich. In der Nähe wird vieles übersehen, und aus der Ferne wird vieles unsichtbar. Wirklich verstehen tut jeder nur die Dinge, die er selbst gemacht hat.

- Oder die Dinge, die er verloren hat?

- Genauso ist es.

- Heute Nacht wollen welche im Bahnbetriebswerk malen, habe ich gehört, in einer Halle. Ich weiß nicht, ob das stimmt.

- Na ja, den Nervenkitzel kann ich schon gar nicht verstehen.

- Ich weiß.

- Verstehst du ihn?

- Nein, aber ich könnte versuchen, ihn dir zu erklären, wenn du willst.

- Ich denke, du verstehst ihn nicht.

- Richtig. Das spielt aber keine Rolle.

- Das verstehe ich jetzt nicht.

- Das ist wie Bergsteigen unter der Erde.

- Du meinst paradox?

- Richtig. Ich hätte es nicht besser sagen können. Weißt du, wie spät es ist?

- Halb eins.

- Schon so spät? Ich muss los.

- Zum Bergsteigen?

- Nein, ich treffe mich gleich mit ein paar Freunden.

- Zum Malkurs?

- Ciao, Sophia!

- Ciao, Lukas! Und lasst euch nicht erwischen!