6. Mai 2020

Monster

 

Mit Bezimena hat Nina Bunjevac eine hypnotische Bildergeschichte vor dem Hintergrung traumatischen Erfahrung geschaffen. Bezimena heißt die Namenlose im Slawischen. Rätselhaft gestochen scharfe, wie von zittriger Maschinenhand gezeichnete Kreuzschraffuren, die in tiefschwarzen Kernschatten auslaufen. Die Geschichte spielt in den 40ern, vermutlich in Ex-Jugoslawien. Dort, wo Nina Bunjevac, 1973 in Kanada geboren, ihre Kindheit verbrachte, bevor sie mit 15 in ihr Geburtsland geschickt wurde. Jetzt hat sie das Land ihrer Kindheit, Strich für Strich, wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins geholt, wenn auch maskiert. In ihren Zeichnungen bringt sie jedem Blatt, jedem Haar und jedem Stein die gleiche intensive Aufmerksamkeit entgegen. Gleichzeitig verwebt sie mit ihrem einzigartigen Strich mystisch- mythologisch, kosmisch-schicksalhaft aufgeladene Erzählstränge vor dem Hintergrund sexualisierter Gewalt miteinander.

Die Geschichte beginnt mit einem Schock, wenn Bezimena in Lebensgefahr, ihr Kopf unter Wasser gedrückt wird. Um augenblicklich als Mann wiedergeboren zu werden. Damit bekommt die Namenlose ein neues Geschlecht. Gleichzeitig verknüpft Nina Bunjevac diese Verwandlung mit den Artemis-Siproites-Mythos und katapultiert beide mit ihrem Nachwort in die Jetztzeit.

Artemis ist die Göttin der Jagd. In der bekanntesten Erzählung wird sie von Aktaion, der sich, um sie beobachten zu können, in einen Hirsch verwandelt, der anschließend von seinen eigenen Hunden gejagt und getötet wird. Die Sage von Siproites ist weniger geläufig. Der Junge wird von einer Göttin in ein Mädchen verwandelt, weil er Artemis versehentlich baden sieht oder aber versuchte, sie zu vergewaltigen.

Bezimena wird als Außenseiter und Fetischist, der in einer Fantasiewelt lebt, wiedergeboren. Während er glaubt, erwachsenem Sex zu haben, vergewaltigt und tötet er in der realen Welt vorpubertäre Mädchen. Das Monster im Mann zu beherrschen, schreibt Virginie Despentes in Subutex, sei für Prostituierte überlebenswichtig – nicht nur für diese. Sexuelle Übergriff, egal welcher Art, sind immer auch eine Statusfrage. Erwachsene vergreifen sich an Kindern, da sie mit Erwachsenen nicht zurechtkommen.

Das Monster wird verhaftet und während er sich im Gefängnis erhängt, verwandelt er sich zurück in eine Frau. Mit Bezimenas unter Wasser gedrückten Kopf taucht der Leser in die Geschichte ein, um mit ihrem Auftauchen diese wieder zu verlassen. Als wären es nur (traumatische) Sekunden, in denen sich alles abspielt. Die lebensbedrohliche Taufe wird zum Initiationsritus, bei dem schockartig ganze Lebensabschnitte, die komplett vergessen waren, vor den inneren Augen neu auftauchen. Ganz im Gegensatz zum Bewusstsein des Monsters, das sich, wie auf einer anderen Zeitachse bewegt. Im Comic findet er das Notiz-Skizzenbuch seines „Objekts seiner Begierde“. Er liest das Buch falsch und verpfuscht damit sein und die Leben anderer.

Nina Bunjevac zeigt damit mindestens drei Zeitebenen: die schockartige Erkenntnis in Sekundenschnelle. Die falsche Lesart des Monsters und die Gerichtsbarkeit, die das Monster verurteilt. Der Artemis-Mythos gibt dem Erlebten eine klassische Note, das autobiografische Nachwort verortet dies im Subjektiven. Damit bekommt Bezimena, die Namenlose, viele Namen.

Es braucht einige Zeit, bis man die unterschiedlichen Ebenen zu lesen versteht. Das macht das Verständnis nicht leichter, den Comic aber wertvoller. Das gilt auch für die Schwarz-„Blenden“, in Form von monochrom schwarzen Seiten und den immer gleichen Blickwinkel in den Kosmos, vor dem sich die Sprechblasen bewegen. Dies Buch legt man nicht einfach aus der Hand. Mit dem Geständnis Nina Bunjevacs, selbst Opfer sexualisierter Gewalt gewesen zu sein, gibt sie der fantastisch albtraumhaften Erzählung eine real albtraumhafte hinzu. So bekommt das Buch eine wahnsinnige Grundstimmung. Das liegt auch an der erzwungenen Komplizenschaft mit dem Monster, als Hauptperson der Erzählung, verwirrender Cross-Gender, Fessel-Fetisch- und Vergewaltigungsfantasien. Am Ende aber geht die Geschichte nicht auf und es bleibt ein ungutes Gefühl. Sie verwirrt mehr, als dass sie Klarheit schafft, denn sie lässt auch die Lesart zu, dass in jedem Mann auch eine Frau wohnt. Doch selbst wenn man/frau Frauen Vergewaltigungsfantasien zuschreibt, sind sie nie solche Monster, eher (monsterhafte) KomplizenInnen. Dafür sind die Körperwelten zu sehr getrennt, auch wenn sie einmal eins waren.

Christoph Bannat

 

Nina Bunjevac: Bezimena, avant Verlag 2018