29. April 2020

Feuilletonistische Ideen

 

Als Kafka im Herbst 1918 an der Spanischen Grippe erkrankte und in den nächsten Wochen mit bis zu 41 Grad Hitze darniederlag, verschwand die vertraute Welt vor seinem Fenster am Prager Altstädter Ring. „Als Untertan der Habsburgermonarchie im Fieber zu versinken und als Bürger einer tschechischen Demokratie wieder aufzuwachen: schon das war unheimlich, aber auch komisch.“ (Reiner Stach, „Kafka“).
Steht uns eine ähnliche Situation bevor? Nur mit den umgekehrten Vorzeichen, dass aus einer freien und freizügigen Welt nach Corona eine unerträglich repressive geworden sein wird – was somit überhaupt nicht „komisch“ ist?
Juli Zeh oder etwa Giorgio Agamben mahnen und warnen in Zeitungsartikeln eindringlich vor unbemerkt einsickernden oder von den trägen, entpolitisierten Massen akzeptierten Kontrollmaßnahmen im Verbund mit Geboten und Verordnungen. Es dürfe dem Schutz der Gesundheit nicht alles untergeordnet werden und es müsse möglich bleiben, das auch zu sagen. Sei es aber nicht.
Ein alter Freund verlinkt mir Zehs Artikel: Auch darüber müsse man einmal nachdenken! Der Artikel ist bereits vom 4. April, es sind mittlerweile einige ähnliche Tonlagen zu hören gewesen. Zeh ist Verfassungsexpertin und plädiert in ihrem Artikel insgesamt bei allen Corona-Maßnahmen fürs Maßhalten.
Aber dabei bleibt es nicht. Genau wie neuerdings Agamben erkennt sie in unserer Reaktion auf die Krise die Beschädigung unserer Lebensform vor der Pandemie. Corona sei ein Symptom dafür, dass wir verzweifelt die Kontrolle wiedergewinnen wollen. Bei Zeh klingt das so: „Das Coronavirus steigert das Unbehagen an der zeitgenössischen Lebensform zu panischen Reflexen wie kein anderes Ereignis der vergangenen Jahrzehnte.“
Bei Agamben noch etwas esoterischer: „Offensichtlich ist es so, dass es die Seuche irgendwie, wenn auch nur unbewusst, bereits gab. Die Lebensbedingungen müssen zu solchen geworden sein, dass ein plötzliches Zeichen genügte, um sie als das zu erweisen, was sie waren – sprich: unerträglich, eben als eine Seuche.“
Das sind schön feuilletonistische Ideen, sie fechten mich nicht an. Aber was ist mit der Beschränkung der Grundrechte? Von welcher konkreten Einschränkung welcher konkreten Rechte sprechen wir? Bin ich gleichgültig gegen die Einschränkung von Grundrechten, wie mein alter Freund W. mir, indem er einen Link schickt, mit provokanter Leichtigkeit unterstellt – übrigens bloß ein Battle-Ballett, das wir jahrzehntelang einstudiert haben. Oder ist er etwa bloß zu bequem, um seinen Lebensstil für ein paar Monate zugunsten – ja wessen: des Gemeinwohls? – zu ändern?
Zurück zu mir. Außerhalb meines Gesichtsfeldes spielen sich eine Menge Restriktionen ab. Ist meine Lebenswirklichkeit aber derart komfortabel und in Bezug auf unsere bürgerlichen Freiheitsrechte so wenig repräsentativ, dass Entscheidendes im toten Winkel bleibt? Abgesperrte Spielgeräte auf Spielplätzen, faktische Berufsverbote, Schulverbote, Kontaktverbote, Feierverbote, manche beklagen sich über Maskenpflicht und Bevormundung durch Hygieneratschläge – je nachdem, in welcher Lebenslage man sich befindet, sind die Einschnitte massiv. Und zugegeben: Dass ich neuerdings zu Hause arbeiten muss, ist kein Problem. Es bedeutet eine gewisse Abwechslung. Durch glückliche Umstände während des Lockdowns sind wir auch nicht allein und ohne Liebe.
Leben Leute wie wir also endlich in einer (und nur in einer) Blase, wie bestimmte Kommentatoren in den sozialen Medien schon seit Längerem behaupten? Hat uns die Geschichte jetzt an eine Peripetie gebracht? Findet Adornos Wort vom Zeitkern der Wahrheit gerade seinen Nachweis darin, dass gewonnene Gewissheiten unter dem Mantel der Geschichte umgedeutet wurden, was wir schockhaft erkennen müssen? Wieso kann ich die pessimistischen, teilweise pathosgeladenen, gegen staatliche Einmischung aufbegehrenden Diagnosen unserer Freiheitseinschränkung nicht teilen? Bin ich unter die Schlafschafe geraten?
Drei Beispiele: Manche Argumente Zehs und Agambens erscheinen mir zwar theoretisch richtig, nur sehe ich den Anwendungsfall nicht gegeben. Man dürfe den Schutz des Lebens nicht absolut setzen – hat auch der Bundestagspräsident soeben im Interview erklärt. Aber geschieht das überhaupt oder ist es eher ein gut gemeinter akademischer Rat? Seit Wochen werden doch Werte und Prinzipien hin und her gewendet, Interessen von Bevölkerungsgruppen gegen Interessen von Wirtschaftszweigen gewogen. Schon früh haben wir den Einwand gehört, dass auch Arbeitslosigkeit, Depression und Armut Menschenleben fordern können.
Dann: Manche Argumente erscheinen mir anmaßend oder weit hergeholte Unterstellungen. Aus Angst vor Ansteckung nähmen Menschen jede erdenkliche Kontrollmaßnahme hin und folgten blind politischen und wissenschaftlichen Autoritäten. Agamben: „Man muss wohl sagen, dass die Menschen an nichts mehr glauben – außer an das nackte biologische Leben, das es um jeden Preis zu retten gilt. Aber auf der Angst, das Leben zu verlieren, lässt sich allein eine Tyrannei errichten, nur der monströse Leviathan mit seinem gezückten Schwert.“ Dass der Lockdown, die Distanzregeln, Hygienemaßnahmen aus purer Angst hingenommen würden, ist so wenig belegt wie die Gegenthese, dass es sich genauso gut um eine nüchterne, rationale, kalkulierte und besonnene Antwort (vieler Menschen) auf die Umstände handeln könnte und keineswegs um panisches Verhalten.
Schließlich: Mit manchen Argumenten begeben sich die Gegner der hiesigen Coronapolitik in die Nähe zu extremen Rechten, Verschwörungsgläubigen und dubiosen Interessengruppen, was nicht einfach ungustiös, sondern leichtfertig ist. So ist es in keiner Weise richtig zu behaupten, es dürfe „bei uns“ nicht über Werte, Maßnahmen und Ziele diskutiert werden. Das neue Synonym für Zensur heißt dabei „Shitstorm“. Ein Wirtschaftsprofessor behauptet in seinem Videoblog, wenn ein Handelskonzern die Preise für Desinfektionsmittel, wie es ihm schließlich freistehe, einfach der Nachfrage anpassen würde, würde er einen Shitstorm erleben. Juli Zeh schreibt: „Ein ernst zu nehmender Diskurs ... findet nicht statt. Alles muss schnell gehen und wird vor dem Hintergrund eskalierender Medienberichterstattung als alternativlos empfunden; Kritiker laufen Gefahr, als herzlose Idioten dazustehen und sich entsprechende ,Shitstorms‘ einzuhandeln.“ Der Reflex, jeden Widerstand gleich als Shitstorm zu disqualifizieren, sollte sich eigentlich verbieten. Der Begriff wird längst von Leuten instrumentalisiert, die gar nicht diskurs-, geschweige konsensbereit sind.
Es gilt noch, was Hans Magnus Enzensberger Ende der 1980er Jahre für die Bonner Republik festgestellt hat und was freilich von Erschütterung zu Erschütterung neu zu beweisen wäre: „Die Integrationsfähigkeit dieses Gemeinwesens hat alle Erwartungen übertroffen. Mit den bisherigen Krisen ist es so gut fertiggeworden, dass man sagen kann: ein so hohes Maß an Ultrastabilität hat es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben“ ... „Diese Gesellschaft ist mittelmäßig“ („Mittelmaß und Wahn“). Und so gehört zu den hervorstechenden oder gerade nicht besonders hervorstechenden Merkmalen unserer Zeit die weitgehende Abwesenheit von Drama und Tragik. Dass in der Krise die Institutionen funktionieren, dass Armut abgemildert wird, ohne dass Menschenmassen dafür auf die Straße gehen müssen; dass Argumente ausgetauscht werden, Fehler eingestanden, Fachleute zurate gezogen, politische Entscheidungen getroffen und öffentlich evaluiert werden – deutet auf einen wohlwollenden Pragmatismus hin.
Manche Verächter dieses Systems erinnert es deshalb an die DDR 1.0. Manchen geht es zu wenig pompös und zu zivil zu. Manche wünschen sich mehr private Coolness und die Teilhabe an einem riskanteren Marktgeschehen oder schlicht mehr Action. Freiheit lässt sich in viele Richtungen deuten. In der Corona-Krise ist sie weit stärker eingeschränkt, als wir es gewohnt sind, aber erkennbar auf einem Niveau, das im Weltmaßstab erträglich erscheint – im Maßstab konkreter lebensweltlicher Umstände jedoch nicht immer. Die staatlichen Corona-Reaktionen waren zum Teil undurchsichtig und auch die Öffnungsszenarien kommen mir persönlich gerade nicht logisch vor.
Deshalb gehört zum Mittelmaß des politischen Agierens die Kritik durch Beobachter von allen Rändern. „Mehrheit und Außenseiter sind und bleiben in einem Gemeinwesen wie dem unsrigen symbiotisch aneinander fixiert. ... denn eben da, wo es scheinbar ... triumphiert, nimmt das Mittelmaß seinerseits wahnhafte Züge an“, schreibt Enzensberger.
Bald wird die Kritik an den Corona-Maßnahmen nahtlos übergehen in die Kritik an der Lösung ökologischer Probleme oder die Kritik an irgendeiner Reaktion auf irgendeine weitere Zumutung des kontingenten Weltlaufs. An diesen zukünftigen Maßnahmen wird man Juli Zehs Diagnose messen müssen, dass die Menschen deshalb ihre Grundrechte mehr oder weniger bereitwillig einschränken lassen, weil ihr „Sicherheitsbedürfnis so hoch ist, dass ihnen Freiheit als gefährliche Ausschweifung erscheint. Mit anderen Worten: Weil sie Angst haben. Nicht vor Infektionen allein, sondern vor der existenziellen Unkontrollierbarkeit des Lebens.“ Und wenn es so wäre? Wäre unsere Enttäuschung darüber nicht die größte Überraschung? Etwas an dem caspar-david-friedrich-nietzeanischen Gipfelstand der Autonomie wirkt schließlich auch schon wie vom Zeitkern der Wahrheit erfasst.
Übrigens erreichte den Hochrisikopatienten Kafka, der gerade von der Tuberkulose genesen war, die Spanische Grippe behördlicherseits völlig unkontrolliert. „Es mutet heute seltsam an“, schreibt sein Biograf Reiner Stach.
Unklar ist, wie Kafkas Leben ohne die Krankheit verlaufen wäre, auch wenn wir von einigen seiner Pläne Kenntnis haben: „In wie vielen Briefen, wie vielen Notaten hatte er von einer sagenhaften Zukunft ,nach dem Krieg‘ gesprochen, in der er kündigen, umziehen, heiraten und unabhängiger Autor hatte werden wollen. Jetzt, da die Stunde der Entscheidung gekommen war, tat er nichts von alledem. Er war krank.“ (rs)

 

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