19. April 2020

Nein, es ist nicht notwendig

Die Polizei stützt einen im Sturm gestürzten Bauzaun vor ihrer eigenen Wache auf St. Pauli. (Hamburg). Foto, Heiko Neumeister (ca. 2003)

 

In der aufgeheizten Corona-Debatte werden Grundrechtseinschränkungen als notwendiges Übel verkauft. Aber es ist irreführend, Infektionsschutz und Grundrechte gegeneinander auszuspielen. Über die Berliner Corona-Verordnung und autoritäre Logiken.

Text von Jorinde Schulz

Anfang April überarbeitete der Berliner rot-rot-grüne Senat die Landesverordnung zur Eindämmung des Coronavirus. Trotz interner Kritik beschlossen die politisch Verantwortlichen – federführend die SPD-Gesundheitssenatorin Kalayci – an den massiven, bundesweit zu den schärfsten zählenden Grundrechtseinschränkungen festzuhalten. Nur Sachsen und Bayern sind schärfer als R2G-Berlin.

Ergänzt wurde die Verordnung durch einen saftigen Bußgeldkatalog. Ein paar Unklarheiten wurden bei der Überarbeitung beseitigt, einige der schlimmsten Absurditäten gestrichen. Und doch bleibt, dass die von der Bundesregierung im März verfügte Kontaktsperre in Berlin de facto eine Ausgangssperre inklusive Demonstrationsverbot ist. Viele nehmen das im Rahmen einer in Superlativen geführten Corona-Debatte eingeschüchtert hin – als seien die beseitigten Grundrechte ein bedauerlicher, aber unvermeidbarer Trade-off. Wie schwerwiegend ein Ausgangsverbot und die damit einhergehenden Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sind, wird seltener ausbuchstabiert:

1. Für jeden Schritt, den man aus seiner Wohnung heraustritt, muss man sich nun vor der Polizei rechtfertigen können. Und wenn diese urteilt, dass man keinen „triftigen Grund“ zum Ausgang hat, drohen hohe Bußgelder. Das Grundrecht der Bewegungsfreiheit ist also per Verordnung ausgesetzt.

2. Versammlungen von über zwei Personen sind im öffentlichen Raum verboten. Auch das steht im direkten Widerspruch zur Verfassung und gibt der Exekutive die Möglichkeit, politische Meinungsbekundungen im öffentlichen Raum zu verhindern.

Um gleich eines vorwegzunehmen: Die Einschränkung von Grundrechten ist auch unter den Bedingungen einer ernstzunehmenden Epidemie keinesfalls alternativlos. Kluge Maßnahmen sind notwendig, um eine schnelle Verbreitung des Virus und eine daraus resultierende Überbelastung der Krankenhäuser zu verhindern. Besonders wichtig sind hier die Vorbereitung des Gesundheits- und Pflegesystems und Schutzmaßnahmen an Arbeitsplätzen. Es gilt sicherzustellen, dass wirtschaftliche Interessen nicht den Infektionsschutz überschatten. Leute sollen nicht Gesundheitsrisiken hinnehmen müssen, um finanziell zu überleben. Da der Umgang mit der Epidemie mangels Erfahrungswissen und mangels belastbarer Daten quasi im Blindflug passiert, ist es außerdem besonders wichtig, dass er von öffentlichen Auseinandersetzungen und unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchungen begleitet wird.

Die Verantwortung von demokratischen Institutionen läge hierbei gerade darin, politische Freiheit zu Zeiten der Krise sicherzustellen. Aber anstatt Grundrechte und Infektionsschutz in Einklang zu bringen, spielen Regierungen und Sicherheitsbehörden beides gegeneinander aus.

Rückkehr der Hausaufgaben-Rhetorik

Die aktuelle Pandemie-Governance baut auf autoritäre Eingriffe und Alles-oder-nichts-Logiken. Wenn die Lage ernst ist, so gaukeln diese vor, hilft nur Drastik und Gehorsam. Ein alter Trick. So ist das Versammlungsrecht nun vielerorts aufgehoben. An diesem und am letzten Wochenende wurden in Berlin, Hamburg und Frankfurt mehrere Demonstrationen aufgelöst, unter anderem gegen Mietenwahnsinn oder für die Rettung und Aufnahme von Geflüchteten. Obwohl die Versammlungen angemeldet waren, Sicherheitsabstände und Hygienemaßnahmen eingehalten wurden, schritt die Polizei ein – mit Platzverweisen, umfassenden Personenkontrollen, Strafanzeigen. Journalist*innen wurden eingeschüchtert. Eine positive Ausnahme gab es immerhin in Münster, wo eine Mahnwache gegen einen Transport mit Uranmaterial stattfand. In Baden-Württemberg wurde dafür letzte Woche ein Mann festgenommen, der anonym im Internet zum Demonstrieren aufgerufen hatte. Es scheint, dass weniger die Epidemie denn die Demokratie mit allen Mitteln zurückgedrängt werden soll.

Denkt man ein wenig nach, steht der Aufenthalt im Freien der Eindämmung der Infektionszahlen aber nicht prinzipiell entgegen. Insbesondere hat es nichts mit Infektionsschutz zu tun, das Verweilen und die Kundgabe politischer Meinungen im öffentlichen Raum zu kriminalisieren. Sinnvolle Einschränkungen und gezielte Schutzmaßnahmen können Übertragungen der Infektion eindämmen. Breite Informationskampagnen – nicht in rügendem Lehrer-Tonfall vorgetragene Androhungen – könnten die Maßnahmen selbstbestimmten, selbstorganisierten und denkenden Menschen erläutern und nahelegen. Die derzeitige politische Ansprache imaginiert die Bevölkerung als ungehorsamen Kindergarten und legitimiert so massive Freiheitseingriffe. Wir brauchen die Polizei aber nicht, um verantwortlich zu handeln.

Drakonische Verordnungen wie die gegenwärtige sind ein Freibrief für Sicherheitsbehörden, Menschen zu schikanieren und willkürlich zu belangen. Das trifft vor allen Dingen Gruppen, die sowieso schon von gesellschaftlicher Diskriminierung, Rassismus und Polizeigewalt betroffen sind. Die Ausweispflicht wurde in Berlin zum Glück wieder zurückgenommen. Sie war ein Alptraum für Menschen ohne gültige Papiere oder mit unklarer Wohnsituation. Und doch: sofort „empfahl“ Polizeipräsidentin Barbara Slowik, den Ausweis am liebsten trotzdem bei sich zu tragen, damit die Beamt*innen nicht etwa mit nach Hause kommen müssen..

Logik des Gehorsams

Die Absurditäten des Law-and-Order-Ansatzes bezeugen in Berlin nur wenige Wochen des R2G-verfügten Ausnahmezustands. Denn die Durchsetzung der Corona-Maßnahmen waren weniger durch Infektionsschutz denn durch exekutiven Kontrollwahn geprägt. Das bezeugen eine Reihe grotesker Verlautbarungen von Polizei und Berlins Innensenator Geisel, die zum Beispiel begründen sollten, warum es verboten sei, alleine im Park in der Sonne zu baden: „Wo einige auf der Wiese sitzen, kommen schnell andere dazu“, äußerte beispielsweise der Polizei-Zugführer (sic!) Christian Müller im Tagesspiegel. Die Gaga-Regelung, die die Benutzung von Parkbänken verbietet, ist mittlerweile aus der Berliner Verordnung gestrichen. Dafür ist – gleichermaßen absurd – das Liegen allein auf einer Decke verboten, wie überhaupt das längere Verweilen im öffentlichen Raum. Dass eine Person, selbst wenn sie zwölf Stunden stur alleine auf einer Parkbank verweilt, überhaupt kein Übertragungsrisiko darstellt, scheint im Corona-Regeltaumel nicht mehr denkbar zu sein.

Zunehmend wird so Gesundheit mit Gehorsam gleichgesetzt. Ein Gang ins Freie gilt fast schon als Mord. Die Polizeigewerkschaft fordert Parkschließungen und fantasiert über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Der mediale Diskurs ist von Panik gekennzeichnet und setzt auf Schuldzuweisungen und Strafgelüste. Auch viele linke Organisationen und Gruppierungen sind von Schuldgefühl gelähmt, sodass der Widerstand gegen die Angriffe auf die Grundrechte nur zögerlich in Gang kommt. Stattdessen wird Einzelnen, die es wagen, trotz Corona nicht zu leiden, die Verantwortung für die Krise zugeschrieben. So titelte der Tagesspiegel in moralisch-autoritärer Hochstimmung; „Sonnenbaden, Fußballspielen, Nachbarn treffen. Wo Corona-Regeln missachtet werden.“ (Eine eigene Analyse wäre auch die Rhetorik des Tagesspiegel Checkpoint wert, dessen selbstverliebter Krisenpathos in erhobenen Zeigefingern und Katastrophenbildern schwelgte.) Plötzlich ist Hedonismus wieder Sünde. Wer sich zum Vergnügen in der frischen Luft aufhält, ohne Sport zu treiben, gilt Geisel als „Verweigerer“. Die unterschwellige Drohung kann dabei kaum die Arroganz gegenüber den Bewohner*innen von urbanen, dicht besiedelten Bezirken verdecken, die keinen eigenen Garten, keine riesige Wohnung, vielleicht nicht einmal einen Balkon haben, und die für ihre physische und psychische Gesundheit darauf angewiesen sind, sich im Freien aufzuhalten. Das „Verweilverbot“ trifft außerdem besonders Menschen, die körperlich eingeschränkt sind – gerade diejenigen also, die es besonders zu schützen gälte.

Wo Gesundheitsschutz dann doch zweitrangig bleibt

Dass Gesundheitsschutz höchstens an zweiter Stelle steht, entlarven dabei die Widersprüchlichkeiten der derzeitigen Maßnahmen: Wie soll man es zum Beispiel verstehen, dass die Polizei das Liegen im Park verfolgt, während sich die Menschen gleichzeitig in Bussen und Bahnen drängen, um zu ihren Arbeitsplätzen zu kommen? Es ist bemerkenswert, wie einerseits das politische Leben, der öffentliche Raum, private Beziehungen und Bewegungsfreiheiten dramatischen Einschränkungen unterworfen werden, während andererseits für einen Großteil des wirtschaftlichen Lebens überhaupt keine gesundheitlichen Bestimmungen gelten. Hier gibt es keine Abstandsregeln und keine Verbote größerer Menschenversammlungen. Nur die „Genuss“-Branchen Gastronomie, Kultur und Clubleben sind stillgelegt. Überall sonst gilt der politische Elan nicht dem Gesundheitsschutz, sondern vor allen Dingen der Liquiditätsgarantie und dem Funktionieren.

Am Arbeitsplatz entscheidet so immer noch der Chef, ob und wie Infektionsschutz stattfindet – ob man etwa im Home Office arbeiten darf, weiter gebaut oder Konferenzen abgehalten werden, oder ob der Betrieb eingestellt wird. Infektionsrisiken werden hingenommen, denn hier gilt die Autorität des wirtschaftlichen Weiter-so. In Pflege-, medizinischen oder Dienstleistungsberufen fehlt die Schutzkleidung, obwohl gerade dort überdurchschnittlich viel Kontakt mit Menschen stattfindet, die besonders durch Corona gefährdet sind. In Altersheimen, aktuell wohl die gefährlichsten Orte der Republik, werden nur wenige Vorkehrungen getroffen. Gleichzeitig werden für genau diese Berufe Zwangsmaßnahmen diskutiert – Verpflichtung zur Arbeit – wie im zeitlich unbefristeten schwarz-gelbe Epidemiegesetz in NRW, aus dem die geplante Zwangsarbeit zum Glück durch eine Petition wieder entfernt wurde – oder die Einführung des 12-Stunden-Tages. Pfleger*innen und medizinisches Personal, die seit Jahren unter horrenden Arbeitsbedingungen bei häufig geringer Bezahlung arbeiten, werden so in der Krise weiter ausgebeutet. Söders „Dankeschön“, Pflegekräften einen einmaligen Bonus von 500 Euro auszuzahlen, anstatt das Grundgehalt dauerhaft anzuheben, oder Spahns jüngste lobende Erwähnung der ambulanten Praxen als „Schutzwall“ (sic!) der deutschen Gesellschaft kann man da kaum anders als zynisch lesen.

Gerade in der Krise: Widerstand!

Sich frei bewegen, versammeln, den öffentlichen Raum bewohnen und gestalten – das sind keine verzichtbaren Luxusgüter, die uns gnädigerweise gewährt werden. Sondern hart erkämpfte Bedingungen dafür, dass demokratische Prozesse überhaupt stattfinden können. Innensenator Geisel nennt Menschen „Verweigerer“, weil sie auch angesichts der Krise nicht aufhören zu denken und auf ihre Urteilsfähigkeit bestehen. Damit taucht er auf die sprachliche Wellenlänge von Österreichs Sebastian Kurz ab, der noch krassere Maßnahmen zum „Schutz der Bevölkerung“ durchzieht und die Bürger*innen bereits in zwei Kategorien sortiert hat: gehorsame „Lebensretter“, welche sich nicht vom Fleck rühren und brav ihren Mundschutz tragen, und böse „Gefährder“, die es für sich in Anspruch nehmen, sich frei zu bewegen. Der Gefährdersprech ist auch in Deutschland aus den Diskursen des antimuslimischen Rassismus in die Corona-Debatte geschwappt. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Verwandte Begriffe wie „Quarantänebrecher“ beinhalten ähnliche Diffamierungsstrategien und konstruieren ebenso starre Alternativen.

In dieser autoritären Logik – die sich vom Denken gänzlich befreit hat – gilt: Je härter die Maßnahme, desto größer die Wirkung. Wenn wir jetzt alle brav sind, dann geht das Virus ganz schnell vorbei. Nur wenn wir gehorchen, werden nicht noch strengere Strafen verhängt. Entweder du rettest, oder du tötest. Oder, in einer aktuell beliebten Version: entweder du verlierst deine Grundrechte durch Ausgangssperre, oder du verlierst sie durch Corona-Tracking. Latente Opfer- und Verzichtsethiken brechen hervor, häufig als „Solidarität“ verkleidet. (Wenn Merkel von Solidarität spricht, sollte man misstrauisch werden!) Ein sich schnell verbreitender vorauseilender Gehorsam ermöglicht es der Exekutive dabei, Fakten zu schaffen und die Corona-Verordnungen noch viel repressiver auszulegen, als sie angedacht sind. Wehren wir uns! Gegen die verschriebene Unmündigkeit, gegen die Unterbindung von Protest, gegen die Einhegung und Registrierung unserer Bewegungen – gegen den neuen Rechtfertigungsdruck auf unsere Freiheit.

Zuerst veröffentlicht am 11. April 2020 auf: https://neukoellnisch.net/artikel/2020-04/nein-es-ist-nicht-notwendig/