Das Elend der Expertokratie
Von Michael Hirsch
Nun hat Deutschland also endlich den seit Langem erwarteten, von der Bundeskanzlerin als ‚sehr wichtig’ eingestuften Bericht. Ein Bericht mit wissenschaftlichen Empfehlungen zum gesellschaftlichen Umgang mit der Corona-Pandemie. Mal ganz abgesehen von der unrühmlichen Rolle, welche die Nationalakademie Leopoldina im NS-Staat gespielt hat, von der grotesken Nichtrepräsentanz von Frauen (nur 2 von 26 Stimmen!) und von der Tatsache, dass die Autoren eher Wissenschaftsmanager als Forscher sind, wirft der Bericht grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik auf. Das schwelende Unbehagen im aufgeklärten Teil der Bevölkerung, de facto von zwei virologischen Ratgebern der Kanzlerin regiert zu werden, sollte jetzt grundsätzlich erörtert werden. Denn bereits bei naturwissenschaftlich-medizinischen Expertisen kann man davon ausgehen, dass alle Positionen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft umstritten sind. Vollends aber bei gesellschaftswissenschaftlichen und philosophischen Fragen explodiert die Pluralität der Meinungen, Deutungen und Weltanschauungen.
Was also sollen wir von dem aktuellen Gutachten halten? Aus gesellschaftswissenschaftlicher und politischer Sicht kann man diese Frage ganz einfach beantworten: gar nichts. Die Zusammensetzung des Gremiums bildet in keiner Weise auch nur einen Bruchteil des wissenschaftlichen Meinungsspektrums in den Feldern der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaft, der Bildungsforschung und so weiter ab. Die Autoren gehören zum allergrößten Teil dem eher konservativen und neoliberalen Teil ihrer jeweiligen Wissenschaften an. Zudem hat die Leopoldina noch 2016 in einem Gutachten einen Kahlschlag der deutschen Krankenhäuser nach dänischem Vorbild empfohlen, demzufolge wir auch in Deutschland in der aktuellen Pandemie zum Teil Zustände wie in der Lombardei gehabt hätten.
Aber einmal ganz abgesehen von der Notwendigkeit, jetzt auch noch eines oder mehrere Gegengutachten von anderen, weniger staats- und wirtschaftsnahen Wissenschaftlern einzuholen, stellt sich eine viel generellere Frage. Es stellt sich die Frage nach der politischen Funktion von Sachverständigengutachten generell. Es geht hier um die demokratietheoretische und demokratiepolitische Frage eines ganzen politischen Regimes, nämlich dem der Technokratie oder Expertokratie. Seit den 1970er Jahren gibt es in den Politik-, Sozial- und Rechtswissenschaften eine immer wieder neu auflebende Diskussion über die politische, demokratische, aber nicht legitimierte Macht von Kommissionen, Gutachtern und Experten. Zuletzt wurde dies stark diskutiert seit Beginn der 2000er Jahre ausgehend von dem Buch Postdemokratie des britischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch. Dort ging es vor allem um transnationale und supranationale Regierungsformen sowie die Macht von Lobbyisten, Zentralbanken und Gerichten in der Europäischen Union. Auch in der heftigen Diskussion über transnationale Freihandelsabkommen vor einigen Jahren spielte das generelle politik- und verfassungsrechtliche Problem der Übertragung politischer Entscheidungen auf demokratisch nicht legitimierte Instanzen wie Schiedsgerichte eine herausragende Rolle.
Der aktuelle Fall ist besonders heikel: In der Situation einer nationalen Krise des gesamten Gesellschafts- und Wirtschafssystems wird de facto ein Teil der politischen Verantwortung auf ein Expertengremium übertragen. Damit aber wird die ohnehin existierende Tendenz im Ausnahmezustand, nämlich die Übertragung politischer Macht auf die staatliche Exekutive, auf die Spitze getrieben. Die eigentlich notwendige demokratische Debatte über Strategien des Umgangs mit dem Virus und des zivilisierten Ausgangs aus dem Ausnahmezustand wird dadurch eher blockiert als gefördert. Die inhaltlichen Details der Empfehlungen der Leopoldina spielen dabei gar keine besonders wichtige Rolle. Wichtig ist die strukturelle Entmündigung der demokratischen Öffentlichkeit durch Expertokratie: durch pseudowissenschaftliche Empfehlungen an die Politik. Denn es handelt sich bei solchen Berichten natürlich niemals um Wissenschaft, sondern um Politik im Gewande der Wissenschaft. So etwas ist in einer politisch so schwierigen Lage wie der unseren grober politischer Unfug: die illegitime Erschleichung einer wissenschaftlichen und moralischen Autorität. Man muss es festhalten: Die aktuellen politischen Entscheidungen müssen politisch entschieden werden. Natürlich muss die Politik die relevanten Daten und Prognosen von Virologen und Medizinern berücksichtigen. Aber die eigentlich schwierigen Entscheidungen der Stunde sind eben tragische politische Entscheidungen. Es ist ein gefährlicher Irrglaube, sie könnten ‚wissenschaftlich’ legitimiert werden. Denn Wissenschaft ist, je mehr sie nicht nur die Natur, sondern das menschliche Zusammenleben betrifft, in ihrem Wesen kontrovers. Die letzten Entscheidungen sind hier nicht objektive Feststellungen über Tatsachen, sondern politische und philosophische Wertungen über die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens. Hier gibt es keine Werturteilsfreiheit, und das bedeutet: Das Maximale an Wissenschaftlichkeit ist die saubere Kennzeichnung des eigenen gesellschaftspolitischen und philosophischen Standorts.
Verfassungsrechtlich kann man die notwendigen Entscheidungen der Gegenwart auf die Frage bringen: Wie lange will die demokratische Republik es noch erdulden, dass die Regierung mit dem ersten Satz des zweiten Absatzes von Artikel 2 des Grundgesetzes ‚Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit’ fast alle anderen Grund-, Freiheits- und Persönlichkeitsrechte außer Kraft setzt? Und wer ist befugt, aufgrund welcher formalen und intellektuellen Autorität, darüber zu entscheiden? In einer demokratischen Republik gibt es nur eine mögliche Antwort auf diese Fragen: Der primäre Sitz der politischen Entscheidung ist das demokratisch gewählte Parlament. Dieses Parlament trifft seine Entscheidungen vor dem Hintergrund der demokratischen Willensbildung des Volkes im Medium der politischen Öffentlichkeit. Daher kommt heute der politischen Meinungsbildung in den Medien eine so große Bedeutung zu. Nur hier gibt es eine genuin politische Meinungs- und Willensbildung. Dafür können die Sozial- und Geisteswissenschaften im Übrigen wichtige Anregungen geben, vorausgesetzt, sie spielen mit offenen Karten und benennen klar ihre politischen und ethischen Wertmaßstäbe. Der Ausgang aus der Lähmung des Ausnahmezustands beginnt hier.
Michael Hirsch lehrt politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen und lebt als freier Autor in München. Zuletzt veröffentlichte er im Textem Verlag 2019 das Buch Richtig falsch. Es gibt ein richtiges Leben im falschen.