30. März 2020

Fragmente zu einem Langgedicht

 

Ein Langgedicht hat meist etwas Atemartiges. Zumindest beim Lesen stellt sich eine bestimmte Zeilenatmung ein. So auch bei Nikolai Vogels „Fragmente zu einem Langgedicht“, unlängst bei gutleut erschienen, eine eigentümliche Schreibheftoptik mit Rautenzug, die das Listenhafte des Inhalts noch unterstreicht.

Vogel geht sofort aufs Ganze, es gibt keine Exposition, wie auch keinen wirklichen Ausgang, man ist (etwas ratlos) hineingeworfen in sein mal spontanes, mal gearbeitetes Vorbringen von Erinnerungen, Gefühlen, Referenzen und Denkereien. Es wird nicht unterschieden zwischen Geborgtem, Phrasen oder Klischees und Originärem. Es handelt sich um eine ehrliche Ebbe-Flut-Sache, wenn man so will. Ein Ausschnitt Welt. Dabei nicht so rhythmisch und deviant wie Paulus Böhmers vergleichbare Langgedichte, aber doch auf seine eigene Weise mächtig. Es braucht Zeit, um in das Tempo, die Operationen Vogels hineinzukommen, vermutlich finden alle Lesenden ihre eigenen Zugänge und Wirbel zu diesem auf sich selbst verweisenden Text. „Das Leben eine große ungeordnete Aufzählung“, schreibt Vogel, zugleich das Motto von an anderer Stelle erschienenen Weltausschnitten des Autors.

Was an dem angenehm seitenzahlenllos gestalteten Trip auffällt, ist das Editing. Also die Sprungtechnik, die Vogels strophenlose Verse nehmen, um zwischen die aufgerufenen Topoi zu tauchen. Die Bewegungen dieses Langgedichts mithin sind das große originelle Rätsel des Texts. Sie sind verwirrend, abrupt, para-logisch und fast durchgehend irritierend, besonders wenn sie wiederum genau das Gegenteil machen und statt woanders hinzuspringen, in ein Detail gehen, es ausformulieren, wo es vielleicht gar nicht nötig wäre. So bewahren sich die Verse vor allem eins: ihre Eigenwilligkeit, fast will man sagen Schrulligkeit.

Das Ganze, von dem es möglicherweise noch mehr gibt (?), ist am besten in einem Zug durchzulesen, möglichst offen für die besagte Atmung, und schließlich wird sich der erste Zugang legen, auf denen eine Menge anderer folgen werden. „Konrad Zuse fährt seinen Computer durchs Land.“

 

Jonis Hartmann

 

Nikolai Vogel: Fragmente zu einem Langgedicht, gutleut, Frankfurt 2019