Über die möglichen Folgen von Unhöflichkeit
Man traut sich kaum, die Geschichte des Frontmannes Karsten Matta zu lesen, so sehr sind wir gewohnt, Größen dieser Art nur noch in Comics vorgeführt zu bekommen: „Reisender seit fünfzehn Jahren für einen kleinen, hocheffizienten Think Tank, der von einem Londoner Vorort aus geleitet wurde und Global Players belieferte und Anlagefonds, Ölmultis, Ämter, Regierungen und ihre Geheimdienste…“ Respekt, Herr Matta. Kein subalterner Journalist steht da vor einem, sondern ein Wesen auf der Höhe der Zeit und immer mit einem Bein im Abgrund.
Die Dritte Welt, das ahnt man, ist kein bundesrepublikanisches Zuckerschlecken. Die Habgier der Nichts-Verdienenden, die Direktheit und Unhöflichkeit minderjähriger Huren, die Frechheit all dieser Schmarotzer, einen nicht beim eigenen Namen zu nennen, sondern immer auf westliche Typisierungen auszuweichen – das hält auf Dauer auch kein Matta aus. Auf vollstes Verständnis des Lesers trifft deshalb auch Mattas Wehklagen, dass weder in Kirgisien noch in den letzten Winkeln Pakistans einmal einer seinen doch so schönen Namen aufsagt. Erschütterung kommt auf, Mitleid meldet sich, ein Beispiel: „Niemals Karsten, niemals Matta, kaum einer wusste, dass er so hieß. Es interessierte sie auch nicht. Und der Inder, der hinter der Theke stand im Taj Samudra in Colombo und die Getränke mixte, arrogant und untertänig zugleich, sagte Sir, if you please.“ Rezensent muss hier abbrechen, allein das Kopieren dieser Erniedrigungen einer tapferen und aufopferungsvollen Seele treibt Tränen wüster Verwünschungen auf die Tastatur und in Richtung unterentwickelter Menschlichkeit, die sich in mehr als 4/5 des Globus noch so nachhaltig hält.
Endlich wagt es mal jemand, den Bann der immer noch gnadenlos auf uns lastenden political correctness zu überschreiten und dem hoffentlich in die Millionen gehenden Lesepublikum ein paar Wahrheiten ins Gesicht zu sagen, die dann auch mal bitte schön die entsprechenden Handlungen nach sich ziehen mögen. Der Erzähler ist übrigens ein Meister der Analogie, um mal etwas vom Inhaltistischen wegzukommen. Grandios erfährt man auf den ersten Seiten vom beklemmenden Seelenzustand des Helden allein durch die Beschreibung einer in der pakistanischen Botschaft zu Berlin hängenden Wanduhr, deren Minutenzeiger festhängt. Und genauso ergeht es auch Karsten Matta selbst in der Botschaft. Denn kein Schwein – er ist übrigens der einzige, der zu dieser Stunde etwas an diesem Orte will – kümmert sich um das Visum für Karatschi, das er für seinen Flug im Rahmen seines anstehenden Auftrags benötigt. Man lässt ihn hängen. Noch nie ist ein Leser, so soll hier mal behauptet werden, so zornig geworden allein durch Lesen einer menschlichen Unmöglichkeit (siehe auch noch mal oben die Sache mit dem Namen). Deutsche Bürokratie scheint man ja zur Genüge zu kennen, aber was hier passiert, das führt genau zu dem, was dann in dieser kurzen Geschichte folgt: Matta, desillusioniert, entwürdigt, verlässt die Botschaft, schmeißt seinen Beruf an den Nagel, lässt sein Zuhause (seine Frau und zwei Kinder) zurück und bricht auf nach Hamburg, um dort seine schwedische Geliebte zu treffen. Matta ist so geschwächt, dass er, kurz bevor er diese Frau trifft, sich noch auf eine Hure einlässt. Gott sei dank klingelt zur rechten Zeit das Handy, und es kommt nicht mehr zum Vollzug. Der Geliebten macht das gar nichts aus, als Matta ihr das Techtelmechtel erzählt.
Aber von wegen erzählen, diese Frau ist ein Unikum, und schon wieder traut sich der Leser fast nicht, weiter zu lesen. Hens, den Leser zur Habachtstellung auffordernd: „Ich werde diese Frau beschreiben, liefern, zeigen, wer sie ist. Ich will sie nicht erzählen.“ Also dieser Hens ist völlig unerträglich. Die Geschichte geht zwar noch weiter, aber was soll’s. Selten so ein unangenehmes, protzendes, arrogantes und sinnloses Buch gelesen wie dieses.
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Dieter Wenk
Gregor Hens, Matta verlässt seine Kinder, Frankfurt 2004 (Fischer)