Erfindung der Gegenwart
Dies ist der perfekte Burns. Er ist dermaßen perfekt, dass einem die Worte fehlen – was heißt, dass er diese uferlos produziert. Auch in seinem neuesten, autobiografisch angelegten Werk bleibt Burns seinem holzschnittartigen, schlagschattengesättigten Film-Noir-Stil, für den er berühmt ist, doch mit einigen Ausnahmen, die so umso stärker wirken, treu. Diesmal kommt seine farbliche Intelligenz, in all ihren Abstufungen, nie selbstsüchtig, immer der Stimmung der Geschichte zuarbeitend, noch virtuoser zur Geltung, dass es einem vor Staunen den Atem verschlägt. Man will hier ganz Auge sein. Bei Burns »Black Hole« bin ich irgendwann ausgestiegen, mich langweilte die Alien-Aids-Metapher. Bei »X«, »Die Kolonie« und »Zuckerschädel« fand ich die verkleideten »Schuldgefühle« interessant, die Geschichten waren mir aber zu kleinteilig erzählt. Jetzt, in »Daidalos«, mit dem Lesen ist man in einer guten halben Stunde durch, haben die Bilder mehr Raum, was diese intensiver wirken lässt. Setting und Farbdramaturgie, Erzählperspektiven und Bildwechsel, die Montage von Groß-nah- und Panorama-, kosmischen und mikroskopischen Zeichnungen, Struktur- und Flächendarstellungen sowie Stilwechsel, von Bleistift zu Tusche, sind perfekt. Da bleibt dem Schreiberling nur die Metaebene. Bei Burns ist das die Bedrohung des Organischen durch das Organisch-Fremde. Vom Krebs (maligne Neoplasie) heißt es bekanntlich, dass er auch nur leben will und er sich eben nur einen Wirtskörper sucht, um das zu tun. Wobei er bekanntlich nur den Befehlen des Lebens folgt, die da lauten: anpassen und teilen. Tragisch ist nur, dass der Krebs seine Lebensgrundlage, in dem er wächst, zerstört. Was der Spezies Mensch vertraut vorkommen sollte. Was also heißt Wachsen und wie geht das? Idealistisch heißt das: sich weiter bilden. Wobei „weiter“ das Türchen zu weiteren Fragen aufstößt … usw. Burns spielt die verschiedenen Kombinationen von organischem Leben, das sich organischem Leben bemächtigt, durch. Dabei spielen Frauen eine besondere Rolle. Die Ambivalenz des Wachsens wird sinnbildlich Frauen, als Hüterinnen des »Geheimnis des Lebens«, zugeschrieben. Woraus sich viele Verwechselungen und Übertragungen, wie die von sinnbildlich und Sinn, ergeben. Auch dazu findet man bei Burns viel Bildmaterial. Das Ambivalent-amorph-Organische bricht sich bei Burns mit seinen Holzschittstrich, der keine Zwischen-(Grau)töne duldet. Die Farbe wirkt in diesem Spiel der Gegensätze atmosphärisch unterstützend. Mit »kunstvoll« ist sein neues Werk am einfachsten beschrieben. Allein der Titel hat sich mir noch nicht erschlossen. Bei Recherchen in meinem Bücherregal bin ich auf dies gestoßen: Daedalus, Ingenieur und Erfinder, der das Labyrinth erbaute, aber auch Theseus am Faden der Ariadne daraus entkommen ließ. Ein Mann also, der sich auf Komplikationen und Nachtseiten, psychische, unbewusste, einlässt. Für den das Unten, das angeblich Abseitige vom Hellen, sich vom Oberen nicht ablöst, vielmehr eines die Fortsetzung des anderen, ein wechselnder Aspekt des Ganzen ist. Vgl. Günter Metken, Katalogtext aus »Daedalus. Erfindung der Gegenwart«. Das könnte Burns Haltung sein.
Christoph Bannat
Charles Burns: „Daidalos 1“
Reprodukt Verlag Berlin, 2020. 64 Seiten, 20 Euro